Arkadi Scheinker (geb. 4.5.1921, gest. 13.2.2022)

von Arkadi Scheinker

Ich wurde am 4. Mai 1921 in Riga in einer traditionell jüdischen Familie als viertes Kind geboren. Es gab damals eine bedeutende deutsche Bevölkerungsschicht in Riga, Deutsch wurde in allen offiziellen Ämtern gesprochen. Eine recht große jüdische Bevölkerungsschicht eignete sich die deutsche Sprache und Kultur an. Mein Bruder und beide Schwestern besuchten deutsche Grundschulen bis 1935, als ein neues Gesetz den Besuch jüdischer Kinder an deutschen Schulen untersagte. Ich besuchte eine jüdische Privatschule mit deutscher Unterrichtssprache. 1940 absolvierte ich das Gymnasium in Riga, eine Woche später drangen sowjetische Panzer in der Stadt ein. Ein Jahr später, am 1. Juli 1941, nahm die deutsche Wehrmacht Riga ein.

Damals begann eine schwere Zeit für alle jüdischen Bürger. Am 3. Juli 1941 wurde mein Bruder Benno auf offener Straße festgenommen und bei einer der folgenden Erschießungen im Wald Bikernieki hingerichtet. Unsere Wohnung wurde von lettischen Nazis ausgeraubt, Gold und Wertsachen enteignet. Wir wurden bedroht, misshandelt und geschlagen. Mitte Oktober 1941 mussten wir ins Ghetto, hinter Stacheldraht, ziehen.

Meine Schwester Rahel gebar dort Zwillinge - nur eines überlebte die ersten Monate. Für den 29. November 1941 erhielten die Leute den Befehl, sich früh am Morgen aufzustellen. Man durfte keine Kinderwagen mitnehmen – das deutete auf eine schlimme Zukunft und wirkte auf die jungen Mütter niederschmetternd.

Am Abend des 28. November kehrte ich von meinem Arbeitskommando zurück. Als Besitzer eines Arbeitsausweises brauchte ich am nächsten Morgen nicht zum „Todesmarsch“ antreten. Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und meinen beiden Schwestern. Meine Mutter stand mit Tränen in den Augen vor mir und sagte: „Lieber Ali, wir werden uns niemals mehr wiedersehen“. Sie fühlte die nahe Vernichtung, meine Schwestern wollten jedoch nicht daran glauben. Das war der Abschied, ich sah sie nie wieder.

Erst etwa ein halbes Jahr später erfuhr ich von lettischen Schutzleuten, dass alle Ghettobewohner vom 29. November und 9. Dezember 1941 an Massengräbern erschossen wurden. Die Erschießungskommandos ermordeten rund 28.000 jüdische Menschen. Die Vernichtung wurde von der SS und freiwilligen lettischen Schutzleuten durchgeführt im Wäldchen bei Rumbula, etwa 10 km von Riga entfernt. Von diesen traurigen Nachrichten waren wir Überlebenden nicht überrascht – es gab zu dieser Zeit unzählige Erschießungen im Ghetto, wo wir, einige tausend arbeitsfähige Männer, untergebracht waren.

So verschwand an einem Dienstag in Dezember 1941 mein Vater im Alter von 60 Jahren zusammen mit etwa 200 älteren Leuten. Sie wurden in den Wald Biekernieki gebracht und niedergemetzelt. Ich blieb von meiner Familie als einziger am Leben.

Zwischen Oktober 1941 und August 1944 musste ich dann bei verschiedenen Arbeitskommandos Schwerstarbeit verrichten. Als die Sowjet-Armee Leningrad zurückeroberte, spürten wir die Nervosität der deutscher SS-Einheiten. Wir — die Arbeitssklaven – wussten um die Lage an der Front.

Im Juni 1944 erlebte ich eine große Überraschung: Ich erblickte meinen Cousin Harry Scheinker auf einem LKW beim Ein- und Ausladeplatz. Wir unterhielten uns kurz und er sagte: „Lieber Ali, ich lasse mich nicht zum Schaf einer Herde machen — ich spanne aus.“ Einige Wochen später erfuhr ich die traurige Nachricht, dass er mit zwei weiteren Männern bei einem Fluchtversuch aus der Kasernierungsstelle Lenta erschossen wurde.

Im August 1944 wurden wir in Sträflingsanzüge gesteckt, die Haare kurz und in der Mitte ein Kreuz kahl geschnitten, damit wir als jüdische Sklavenarbeiter leicht erkennbar sind. Trotzdem verschwanden einige Sklavenarbeiter in den Untergrund, weil das Naziregime in Lettland bald zu Ende gehen sollte. Eines Abends im August 1944 mussten alle Arbeiter der Kasernierung zum Appell antreten. Uns wurde befohlen, uns in Reih und Glied auszustellen, nackt auszuziehen und einen Raum zu betreten. Einzeln, die Kleidung in der Hand tragend, betraten wir den Raum.

Der Raum war leer bis auf einen Stuhl, auf den ein SS-Offizier saß, der die Aufgabe hatte uns zu selektieren. Entweder wurde man von ihm in die rechte Ecke des Raumes geschickt (kräftige arbeitsfähige Juden) oder in die linke Ecke, welche alle noch am selben Abend mit einem Bus in der Wald gebracht und erschossen wurden. Es kam zu einzelnen dramatischen Szenen, da Geschwister, Freunde und so weiter getrennt wurden und so für immer verschwanden. Von der Fingerbewegung eines SS-Arztes hing es ab, ob man stirbt oder lebt. Es war eine Vorbereitung für die Seereise von Riga nach Königsberg/Pillau - ins Reich.

Am 10. Oktober 1944 wurden wir jüdischen Arbeitssklaven zum Hafen Riga auf einen Dampfer gebracht. Auf See hatten wir zweimal Fliegeralarm - sowjetische Flieger näherten sich dem Frachter und wurden von Bordkanonen beschossen. Uns war das ziemlich gleichgültig.

In Pillau angekommen – einer kleinen Hafenstadt – wurden wir hektisch von den Kapos im KZ Stutthof empfangen. Wir kamen unter Duschen diesmal ohne Blausäure-Gas -und erhielten diverse Kleidungsstücke umgekommener Menschen. Ich erhielt meine Häftlingsnummer 98112. Im KZ Stutthof hatte ich glücklicherweise keinen langen Aufenthalt, denn das Regime und die Zustände im KZ Stutthof waren ungeheuer menschenunwürdig. Nach einigen Wochen kam ich ins Arbeitslager Burggraben bei Danzig zum Einsatz auf der Schiffswerft „Schichau Werke“ und arbeitete bei der Montage von Unterseebooten.

Am 10. Januar 1945 erhielten wir Befehl, uns für einen Marsch gen Westen bereitzumachen. Es war bitter kalt und verschneit. Wir hatten zum Teil nur Holzpantoffel und mussten durch Eis und Schnee eine Strecke von circa 120 km marschieren in Begleitung von SS-Wachen. Zu dieser Stunde begann die Rote Armee eine groß angelegte Offensive Richtung Ostpreußen. Viele unserer Häftlinge konnten die Strapazen nicht durchhalten, wurden von der Wache abgeführt und am Rande eines Wäldchens erschossen. Nach einigen Tagen erreichten wir erschöpft und bis aufs Letzte ausgelaugt das KZ-Lager Gudendorf bei Lauenburg an der Ostsee in Pommern. Es war Februar 1945. Die Lage im Lager war katastrophal. Das Essen war verseucht, Trinkwasser gab es nur aus einem kleinen Teich und Fleisch von gefallenen Pferden. Bald brachen Epidemien aus: Typhus und Fleckfieber und alle Nebenerscheinungen des baldigen Ablebens. Menschen starben tagtäglich in Scharen. Ich fühlte mich von Tag zu Tag schwächer, hatte Fieber, litt an Typhus und von Krankenpflege war hier überhaupt keine Rede.

Am 10. März 1945 drangen bis kurz vor unser Lager sowjetische Soldaten, mit automatischen Gewehren und winterlicher Kleidung, ein und kamen als unsere Befreier in die Baracken gestürmt. Wir glaubten nicht, dass nach 3 1/2 Jahren Sklaverei jetzt die Befreiung kommen sollte. Wir wurden in Lauenburg auf einzelne Privatwohnungen verteilt und ins Krankenhaus gebracht. Die russische Armee verpflichtete mich. Ich bekam aber eine schwere Lungenentzündung und konnte dadurch die russische Armee wieder verlassen. In der Hoffnung, dass irgendeiner von meiner Familie überlebt hatte, ging ich zurück nach Riga. Dort begann ich 1950 ein Musikstudium, musste aber 1953 das Konservatorium verlassen, da es Juden verboten wurde zu studieren. Über ein Fernstudium konnte ich zu Ende studieren und habe danach als Musiklehrer gearbeitet.

1956 heiratete ich und bekam einen Sohn. Meine Ehe lief nicht gut und kurz danach wurde sie geschieden. 1970 heiratete ich meine jetzige Frau, mit der ich 2 Söhne bekam. Ich zog mit ihr nach Litauen und arbeitete dort bis 1978 als Musiklehrer. Am 20. Mai 1978 reiste ich mit meiner Familie nach Israel aus. Jedoch war mir immer klar, dass ich zurück nach Deutschland möchte, da dies meine Muttersprache sowie meine Kultur war.

Im März 1979 wurde ich von der deutschen Botschaft nach Friedland eingeladen. In Deutschland wurde ich als Spätaussiedler anerkannt und lebe seitdem in Weil am Rhein. Meine Familie kam im Juni 1980. Auch hier arbeitete ich als Musiklehrer in der Musikschule Weil am Rhein. Mittlerweile bin ich 85 Jahre alt, besuche regelmäßig die Israelitische Kultusgemeinde Lörrach, welche ich mitgegründet habe, reise des Öfteren nach Israel und Riga, um alte Freunde zu besuchen und arbeite gerade an meinen Memoiren.[1]

Anmerkungen

[1] Dieser Text entstand im Jahr 2007 für die Publikation „Jüdisches Leben in Lörrach“ und ist in Band 7 der Lörracher Hefte erschienen. Wir danken Hanna Scheinker und dem Herausgeber Markus Moehring vom Museum im Burghof für die Erlaubnis, den Text zu veröffentlichen.

Zitierhinweis: Arkadi Scheinker, Arkadi Scheinker (geb. 4.5.1921, gest. 13.2.2022), in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

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