Entwicklungen seit 1989

Ein Interview von Eva Rincke, durchgeführt am 8. November 2022 in Konstanz

Wie hat sich die Gemeinde seit den 80er-Jahren entwickelt?

Benjamin Nissenbaum: Mein Vater hat sich seit Anfang der 80er-Jahre sehr für die Rettung der kulturellen Hinterlassenschaften der Juden in Polen engagiert. Er war damals viel in Polen unterwegs und hat mir immer wieder aufgetragen, ihn zu vertreten. 1989 wurde ich dann als erster Vorsitzender gewählt. Ich hatte den Vorsitz zusammen mit Herbert Stiefel. Mein Bestreben war, dass die Gemeinde als Gemeinde Konstanz selbstständig wird. Wir hatten damals bereits einen Betsaal und einen Friedhof. Meine Frau, Monique Malka Nissenbaum, übernahm zu diesem Zeitpunkt die Leitung des Frauenvereins der Gemeinde. Alles, was eine Gemeinde braucht, war vorhanden. Wir bekamen dann durch das Kultusministerium die Zustimmung, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts zu bilden. Die IRG Baden hat auch zugestimmt. Somit waren wir eine eigenständige Gemeinde Konstanz - und nicht mehr Freiburg-Konstanz. Wir waren auch im Oberrat der IRG Baden vertreten.

Es gab 1989 ungefähr 70 bis 80 Seelen in der Gemeinde. Vor dem Krieg waren es ungefähr 350 Mitglieder. Nach dem Krieg waren es kurzfristig 600. Viele Displaced Persons kamen hier nach Konstanz, weil sie meinten, sie könnten über die Schweiz ins Ausland ziehen. Sie sind dann erstmal in Konstanz hängengeblieben. Viele sind später ausgewandert: nach Israel, Australien, Amerika – in die ganze Welt. Die wenigen, die geblieben sind, wie meine Eltern, haben dann die Gemeinde aufgebaut.

In den 90er-Jahren kamen die ersten Zuwanderer aus der ehemaligen GUS. Das war eine besondere Herausforderung für uns. Wir waren ja nicht darauf vorbereitet, die Leute zu betreuen: Wohnungen finden, Unterkunft besorgen, die Kinder mit Religionsunterricht versorgen und sozial helfen. Wir hatten gerade ein Objekt gekauft und fertig gestellt, die Sigismundstraße 21, da ist es uns gelungen, dass wir eine größere Gruppe aus einem Wohnheim im Schwarzwald in St. Georgen holen und die Leute hier unterbringen konnten.

In der Steinstraße gab es ein ehemaliges Offizierscasino der französischen Armee. Dort hat man alle Zuwanderer und Flüchtlinge untergebracht – in solchen Verhältnissen wie heute auch: Sie mussten zu siebt in einem Zimmer wohnen, hatten eine Küche für zwanzig Leute. Toilette, Bad und Dusche für nochmal zwanzig Leute. Wir haben versucht, Wohnungen zu finden und die Zuwanderer schnellstmöglich unterzubringen. Wir haben uns immer bemüht, sie in der Nähe der Synagoge unterzubringen, weil wir sie ja auch ans Judentum heranführen wollten.

Die älteren Leute, die damals fünfzig, sechzig Jahre alt waren, hatten das Judentum noch richtig erlebt. Aber die Jüngeren hatten vom Judentum wenig Ahnung, weil sie das gar nicht gelebt haben. Ihnen fehlte der Grundstock. Sie hatten einen Pass, wo Jude drinstand und nicht Russe. Vom Judentum wussten sie jedoch nicht viel und konnten zunächst nicht viel damit anfangen. Unser Oberkantor Schmuel Blumberg, sine Anno, und der Rabbiner Chaim Naftalin, sine Anno, haben viel mit ihnen gearbeitet, um ihnen die Tradition und das Judentum näherzubringen.

Eine große Schwierigkeit war die Sprache. Keiner von den Rabbinern hat damals Russisch gesprochen. Ich auch nicht. Wir mussten erstmal sehen, wie man sich verständigen konnte. Wir hatten dann Glück: Ein Zuwanderer, Eugen Mittelmann, wollte einen Job in der Gemeinde haben und wir konnten ihn als Sozialarbeiter einstellen. Er konnte schon sehr gut Deutsch und sprach perfekt Russisch. Er kannte auch die Mentalität. Er war für uns eine Stütze, um mit den Zuwanderern alles zu regeln. Er hat gedolmetscht und so konnte man sich sehr gut verständigen.

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Benjamin Nissenbaum ist Vorstandsvorsitzender der Synagogengemeinde Konstanz.

Zitierhinweis: Benjamin Nissenbaum/Eva Rincke, Interview mit Benjamin Nissenbaum, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

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