Jüdische Religion und Kultur in Württemberg und Hohenzollern (1806-1938)
von Stefan Lang
Das jüdische Leben im frühen Königreich Württemberg verteilte sich mit Ausnahme der Residenzorte Stuttgart und Ludwigsburg zunächst auf einige zentrale ländliche Gemeinden, von denen damals Laupheim, Buchau und Jebenhausen die personenstärksten waren. In diesen Dörfern und Kleinstädten fanden sich mit Synagoge, Friedhof und Mikwe sowie jüdischen Rabbinern, Lehrern, Metzgern und Gemeindeangestellten jeweils die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine regelmäßige und vollständige Religionsausübung. Vor 1806 hatte lange Zeit keine feste religiöse Organisation jenseits der territorialen Grenzen existiert, obwohl es teilweise gemeinsame, durch regionale Erinnerungsformen und familiäre Verbindungen geprägte Gebräuche gegeben hatte. Das im 16. Jahrhundert existierende „Landesrabbinat Schwaben“, das sein geistiges Zentrum in der Markgrafschaft Burgau um Günzburg hatte, wirkte im 18. Jahrhundert indirekt im Brauchtum und Ritus des „Minhag Schwaben“ nach, dessen theologische Wurzeln und Memorialinhalte teilweise noch in die spätmittelalterlichen Zentren Schwabens, wie Augsburg oder Ulm, reichten. Doch selbst nach der Gründung des neuen Königreichs 1806 dauerte es ganze 22 Jahre, bis 1828 von Staats wegen ein fester und einheitlicher Rahmen für die jüdische Religionspraxis im Land eingerichtet wurde. Bei den jahrelangen und vieldiskutierten Vorarbeiten zum umfangreichen Emanzipationsgesetz von 1828 bezog man deshalb neben den Referenten aus den beiden christlichen Kirchen auch jüdische Vertreter mit ein.
Neuordnung und Verstaatlichung des jüdischen Religionswesens durch das Emanzipationsgesetz von 1828
Im Zuge des „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ im April 1828 erfolgte in Württemberg die Einteilung in feste Religionsgemeinden. Die Amtssprengel der zuständigen Rabbiner konnte mehrere Gemeinden umfassen. Bis dahin hatte die gut 9.000 Personen zählende jüdische Bevölkerung in 69 Orten eigene Gemeinden gebildet sowie 57 Synagogen und 23 Friedhöfe unterhalten. Als religiöses Personal taten dort 51 Rabbiner, 67 Vorsänger sowie 22 Lehrer ihren Dienst. Sowohl die Rabbiner als auch die Vorsänger der Gemeinden hatten fortan nach einer Übergangszeit staatliche Prüfungen zu absolvieren, die Rabbiner mussten dazu ein abgeschlossenes Theologiestudium vorweisen können. Zur Regelung der religiösen, finanziellen und kirchenrechtlichen Belange einer Gemeinde diente das Amt des Gemeindevorstehers, der jeweils von drei gewählten Beisitzern unterstützt wurde. Die staatliche Oberkirchenbehörde beaufsichtigte die religiöse Praxis in den Gemeinden sowie die karitativen Einrichtungen der jüdischen Bevölkerung und verwaltete die israelitische Zentralkirchenkasse. Mit diesen Reformen erfolgte eine deutliche Vereinheitlichung der bisher durchaus recht unterschiedlichen religiösen Praktiken und Ausbildungsformen in Württemberg. Ab 1832 nahm die „Israelitische Oberkirchenbehörde“ ihren Dienst auf. Sie teilte die damals etwa 10.000 Menschen umfassende jüdische Bevölkerung des Landes in 41 religiöse Gemeinden ein, die wiederum 13 Rabbinaten zugeordnet waren: Berlichingen, Braunsbach, Buttenhausen, Buchau, Freudental, Jebenhausen, Laupheim, Lehrensteinsfeld, Mergentheim, Mühringen, Oberdorf am Ipf, Stuttgart und Weikersheim. Bis 1834 hatten sämtliche im Königreich Württemberg tätigen Rabbiner ihre staatlichen Qualifikationen nachzuweisen und erhielten wie ihre christlichen Kollegen künftig den Beamtenstatus, die Besoldung erfolgte aus der israelitischen Zentralkirchenkasse. Bis 1848 war die israelitische Kirchenbehörde dem Innenministerium untergeordnet, danach dem Ministerium für Kirchen und Schulen. Ferner wurden jüdische Theologiestudenten genauso wie die entsprechenden christlichen Nachwuchstheologen vom Wehrdienst befreit. Die Schulpflicht, die für jüdische Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren bereits 1825 eingeführt worden war, erfuhr eine nochmalige Bestätigung. Außerdem durften die jüdischen Gemeinden eigenständig öffentliche Grundschulen einrichten, die unter staatlicher Aufsicht standen. In Orten ohne jüdische Schulen besuchten christliche und jüdische Kinder den Unterricht gemeinsam.
Entwicklungen nach der Gleichberechtigung 1864
Der feste staatliche Rahmen und das Engagement der jüdischen Kirchen- und Schulbeamten trug einen wesentlichen Teil zur gesellschaftlichen Assimilation der jüdischen Bevölkerung und zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse im Zuge des Emanzipationsgesetzes bei. Nach der vollständigen Gleichberechtigung von 1864, der 1871 die Aufhebung des Verbots von Mischehen folgte, fielen zukünftig sämtliche durch den Religionsstatus bedingte Einschränkungen weg. Die Stabilität der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs zeigte sich speziell bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll in der Beständigkeit ihrer Mitglieder: So traten im Zeitraum von 1832 bis 1930 lediglich 359 Personen aus der Gemeinschaft aus, die meisten (287) im Zeitraum zwischen 1906 und 1930.
Die im Königreich zunehmend dominierende Position der Stuttgarter Gemeinde mit ihrer zeitweilig starken Prägung durch die reformorientierte Familie Kaulla, zeigte sich schon 1861 visuell im Bau der neuen Synagoge. Ihr von maurisch-historistischen Elementen geprägter Stil beeinflusste auch die folgenden städtischen Synagogenbauten in Ulm (1873), Heilbronn (1877) und Göppingen (1881). Die älteren ländlichen Großgemeinden Hechingen, Buchau und Laupheim orientierten sich beim Synagogenbau, der dort teilweise bis ins 18. Jahrhundert zurückreichte, und bei späteren Renovierungen stärker am nüchternen Klassizismus. Von großer Relevanz war für die kleine religiöse Minderheit von jeher eine sozial-karitative Solidarität. Diese zeigte sich in der Epoche des Königreichs Württemberg an zahlreichen innerjüdischen Organisationen, Stiftungen und Vereinen, als Beispiele wären hier unter anderem die 1831 gegründete „Israelitische Waisen- und Erziehungsanstalt Wilhelmshöhe“ in Esslingen oder das ab 1897 betriebene jüdische Altersheim „Wilhelmsruhe“ in Sontheim am Neckar sowie die unter dem einsetzenden Druck der NS-Herrschaft 1933 eingerichtete „Jüdische Nothilfe in Württemberg“ zu nennen. Unter den Stiftungen ist die schon 1810 statuierte „Kaulla’sche Familien-Stiftung“ hervorzuheben, die sich vorrangig der Vergabe von Ausbildungsstipendien für verschiedene Fachrichtungen widmete.
Prägende theologische und publizistisch wirkende Persönlichkeiten der Israelitischen Religionsgemeinschaft waren insbesondere bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Dr. Joseph Maier (1798-1873) und Carl Weil (1806-1878), sowie später Dr. Moses von Wassermann (1811-1892), Dr. Theodor Kroner (1845-1923) und Dr. Paul Rieger (1870-1939). In Hechingen ist für das 19. Jahrhundert Dr. Samuel Mayer (1807-1875) zu würdigen, der als reformorientierter Rabbiner seiner Heimatstadt sowie als Rechtsanwalt auch gesellschaftlich und literarisch wirkte. Im 20. Jahrhundert ist dort der vielseitig begabte Dr. Leon Schmalzbach (1882-1942) zu nennen, der ab 1908 das örtliche Rabbineramt ausübte.
Neue Autonomie ab 1912 und 1924 – Zunehmender Druck ab 1933
Die rechtliche Gleichstellung von 1864 bedeutete in der Folgezeit, dass das enge regulative Korsett des württembergischen Staatskirchenwesens innerhalb der jüdischen Bevölkerung nicht mehr unumstritten war, gerade in orthodoxen Kreisen. Mit einer neuen Kirchenverfassung infolge eines Gesetzes wandelte sich die Israelitische Religionsgemeinschaft 1912 zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dies bedeutete vor allem größere Mitbestimmungsrechte der Gemeinden, gleichzeitig konnten die staatlichen Behörden trotzdem weiterhin einen gewissen Einfluss auf Personalentscheidungen und die Gestaltung der Kirchenverfassung ausüben. Nach dem Ende der Monarchie in Württemberg fielen die letzten Beschränkungen durch den Staat weg, 1924 richtete man als innerjüdische Legislative die „Israelitische Landesversammlung“ ein. Auch sie war eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, als deren ausführendes Organ der „Israelitische Oberrat“ diente und die bis 1938 existierte.
Im Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen mit den Gemeinden Haigerloch und Dettensee sowie im Fürstentum Hohenzollern-Hechingen mit der großen Gemeinde Hechingen existierten im 19. Jahrhundert drei religiöse Gemeinden mit teilweise sehr verschiedenen rechtlichen Rahmenbedingungen. Organisatorische, personelle und kulturelle Verbindungen mit Württemberg waren zwar nach dem dortigen Emanzipationsgesetz in den 1830er-Jahren begonnen worden, doch eine legislative Angleichung kam nach gescheiterten behördlichen Verhandlungen 1840 nicht mehr zu Stande. Während in Haigerloch und Dettensee die jüdische Bevölkerung bereits 1837 gewisse staatsbürgerliche Rechte erhielt und die religiösen Gemeinden mit den politischen zusammengefasst wurden, verblieben die Hechinger bis 1850 im Schutzjudenstatus. Als dann Preußen beide Fürstentümer in seinen Herrschaftsbereich integrierte, bekamen die jüdischen Untertanen zumindest weitgehend staatsbürgerliche Rechte zugesprochen. In Hechingen, wo neben der Synagoge im Stadtzentrum bis 1870 das ghetto-ähnliche jüdische Wohnviertel „Friedrichstraße“ mit eigener Synagoge und weiteren Einrichtungen bestand, veränderte sich die Religionsausübung im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von einer eher traditionellen Prägung zu einer ambivalenteren Ausrichtung, in der neben vorrangig reformorientierten Vorstellungen auch orthodoxe Inhalte ihren Platz hatten. Wie in Württemberg gehörten in Hohenzollern zahlreiche Juden dem 1893 gegründeten national ausgerichteten „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ an, zionistische Orientierungen sind dagegen kaum nachzuweisen.
Die Veränderung der jüdischen Siedlungsstruktur seit Mitte des 19. Jahrhunderts und die damit verbundene Urbanisierung hatte in Württemberg für eine Reduzierung der jüdischen Gemeinden gesorgt, zuletzt von 51 im Jahr 1924 auf 43 im Jahr 1935. Die Zahl der Rabbinate war ebenfalls bis 1933 innerhalb von 100 Jahren von 13 auf neun gesunken, zu Beginn der NS-Herrschaft existierten noch Buchau, Göppingen, Heilbronn, Horb, Mergentheim, Schwäbisch Hall, Stuttgart (Stadt), Stuttgart (Bezirk) und Ulm. Das Aufgabenfeld des Oberrats wandelte sich nach 1933 verstärkt in Richtung der sozialen Existenzsicherung und Auswanderungsunterstützung. Es umfasste laut des 1937 verstorbenen Göppinger Rabbiners Aron Tänzer „alle Äußerungen jüdischen Lebens in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht“. Im Jahr 1938 entzog das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“ allen jüdischen Gemeinden Deutschlands die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, auch die jüdischen Volksschulen mussten schließen. In der Nachkriegszeit erfolgte 1948 die Wiederzulassung der „Israelitischen Kultusgemeinde Württembergs“, während in Hechingen und Haigerloch mit den Deportationen von 1941/1942 das organisierte jüdische Leben dauerhaft erlosch.
Literatur
- Hahn, Joachim, Synagogen in Baden-Württemberg. Mit einem Geleitwort von Dietmar Schlee, Stuttgart 1987.
- Hosseinzadeh Sonja/Sauer, Paul, Jüdisches Leben im Wandel der Zeit. 170 Jahre Israelitische Religionsgemeinschaft.50 Jahre neue Synagoge in Stuttgart, Gerlingen 2002.
- Rohrbacher, Stefan, Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit. Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19. Jahrhundert, Göppingen 2000.
- Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Stuttgart 1966.
- Tänzer, Aron, Die Geschichte der Juden in Württemberg, Frankfurt 1937.
- Theil, Bernhard, Die israelitische Oberkirchenbehörde Stuttgart und ihre Kritiker. Beobachtungen zum Verhältnis von Staat und jüdischer Religionsgemeinschaft in Württemberg im 19. Jahrhundert, in: ZWLG 39 (1980), S. 207-219.
- Werner, Manuel, Die Juden in Hechingen als religiöse Gemeinde, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 20 (1984), S. 103-213.
Zitierhinweis: Stefan Lang, Jüdische Religion und Kultur in Württemberg und Hohenzollern (1806-1938), in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 02.02.2022.