Bildungswesen - Einheitsschule oder Berufsschule in Württemberg

Bericht über die Reichsschulkonferenz im Juni 1920 im Gewerbeblatt aus Württemberg (LAndesarchiv BW, HStAS E 130 b Bü. 1464)
Bericht über die Reichsschulkonferenz, Juni 1920, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS E 130 b Bü. 1464, Bild )

Kontext: Schulen, Berufsschulen und Universitäten

Nach der Gründung des freien Volksstaats wurden in Württemberg einschneidende Bildungsreformen durchgeführt. Das Reichsgrundschulgesetz vom 28. April 1920 machte den vierjährigen Grundschulbesuch verpflichtend. Es legte zudem fest, dass sich Eltern nicht bereits zur Einschulung entscheiden mussten, ob ihr Kind den Weg über die Volksschule oder jenen der an die höheren Schulen führenden Elementarklassen einschlagen sollte. Insgesamt existierten 1929 in Württemberg ca. 7.000 evangelische und katholische Volksschulklassen, an denen 260.000 Schulkinder von 7.500 Lehrern und Lehrerinnen unterrichtet wurden.

Rund 37.000 Schüler besuchten die 100 höheren Schulen, an denen sie von 1.800 Lehrkräften unterrichtet wurden. Die höheren Schulen waren seit der Schulreform von 1890 in humanistische Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen untergliedert. Mit 27.700 Schülern besuchten über zwei Drittel der Schüler die höheren Bildungseinrichtungen der Realgymnasien und Realschulen.

Voraussetzung für eine starke württembergische Wirtschaft waren die Berufsschulen, die rund 90 % der gesamten Schülerzahl ausbildeten. Bis 1929 existierten an 163 Standorten Pflichtgewerbeschulen, an denen sich rund 50.000 Schüler auf einen Beruf in Handwerk und Industrie vorbereiteten. Tages- und Abendschulen boten weiteren 7.000 Schülern Fortbildungsmöglichkeiten. Stuttgart und Ulm verfügten über drei Frauengewerbeschulen. Zudem existierten 18 gewerbliche Zeichenschulen sowie zahlreiche Möglichkeiten, sich an kaufmännischen Berufsschulen und höheren Handelsschulen ausbilden zu lassen. Agrarische und handwerkliche Berufsschulen existierten in Ellwangen, (Stuttgart)-Hohenheim, Kirchberg (Stadt Sulz am Neckar) und Ochsenhausen. In (Stuttgart)-Hohenheim, Weinsberg, Wangen im Allgäu, Biberach, Schwäbisch Hall und Reutlingen wurde an Schulen Ackerbau unterrichtet.

Einheitsschule versus Berufsschule

Die ab 1920 im Reich angestoßene Reform des Schulwesens führte insbesondere im Bereich der Berufsschulen zum entschiedenen Protest württembergischer Interessenvertretungen. Wesentlicher Ausgangspunkt der diese Reformbestrebungen begleitenden Überlegungen bildete die vom Reichsinnenministerium vom 11. bis 20. Juni veranstaltete Reichsschulkonferenz, an der rund 650 Pädagogen und Bildungsexperten der Kultus- und Schulministerien teilnahmen. Ausschlaggebender bildungspolitischer Streitpunkt, an dem sich die Existenzfrage für württembergische Berufsschulen entzündete, war das von Johannes Tews (1860-1937) vorgeschlagene, von der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung massiv unterstützte Konzept, Einheitsschulen einzuführen.

Obgleich im deutschen Kaiserreich kein einheitliches Schulsystem existierte, die Länder verschiedene Bezeichnungen für die jeweiligen Schulen führten und die Dauer des Besuches der diversen Schultypen unterschiedlich geregelt war, waren Schüler bis 1918 im Allgemeinen doch folgenden Bildungsweg gegangen: Der Besuch der Elementarschule (heute Grundschule) konnte als Teil der achtjährigen Schulpflicht mit dem Besuch der Volksschule abgeschlossen werden. Oder aber Schüler und Schülerinnen entschieden sich nach der Elementarschule für den Besuch einer Realschule oder einer höheren Schule, d.h. eines humanistischen Gymnasiums oder eines Realgymnasiums. Die Berufsschulen übernahmen in der Regel die Ausbildung nach dem Realschulabschluss.

Die Idee, dieses System mithilfe einer Einheitsschule zu reformieren, ging dabei wesentlich auf Überlegungen des italienischen Kommunisten und Bildungsreformers Antonio Gramsci (1891-1937) zurück. Er gedachte, die sozialistische Gesellschaft schon in Kindergarten und Schule durch ein, diese Unterscheidungen nivellierendes, zehnjähriges Jahrgangsstufensystem voranzubringen.

In Deutschland zählte Johannes Tews zu den größten Verfechtern dieser Idee. Der Spezialisierung der Berufsschulen auf die entsprechenden Arbeitsgebiete stellte er einen Allgemeinbildungsgedanken gegenüber, der den angestrebten Einheitsschulen zugrunde liegen sollte. So sollte die Berufsperspektive der Schüler und Auszubildenden an den Berufsschulen nicht allein auf den anschließenden Eintritt in die entsprechende Arbeitswelt verengt werden, da dadurch, wie Tews meinte, „die allgemein menschliche und die staatsbürgerliche Bildung“ vernachlässigt werde. Tews wollte – ähnlich wie Gramsci – die Erziehung zum politischen und politisierenden Staatsbürger auch in Berufsschulen. Damit wollte er verhindern, dass sich zukünftige Arbeiter zu unpolitischen ‚Untertanen‘ entwickelten, die sich willen-, weil bildungslos ins System einfügten.

Die SPD geführte Reichsregierung befürwortete diesen Gedanken auf der Reichsschulkonferenz. Wirtschaftsnahe Interessenvertretungen in Württemberg, hier insbesondere die Zentralstelle für Gewerbe und Handel, lehnten die Umsetzung dieses Gedankens jedoch ab. Die Zentralstelle machte Artikel 146 der Weimarer Reichsverfassung geltend, nach der das öffentliche Schulwesen „organisch auszugestalten“ sei. Mit der in der Reichsverfassung vorgesehenen „Mannigfaltigkeit der Lebensberufe“ argumentierte sie für eine adäquate, auf die jeweiligen Berufe abzielende Ausbildung und gegen die Einheitsschule, die allein mit dem Bildungskonzept humanistischer Gymnasien und Realgymnasium zu vereinbaren sei. Gerade letztere waren für ein solches Einheitskonzept durchaus prädestiniert: Das deutsche Gymnasium galt als Hort humanistischer Bildung und Geburtsstätte wissenschaftlichen, d.h. freien, unabhängigen und ergebnisoffenen Denkens. Das Realgymnasium fußte wesentlich auf den Prinzipien der Allgemeinbildung, der Modernität, Toleranz und Weltoffenheit. Hatte schon Gramsci die Schwierigkeiten erkannt, mit denen sich Berufsschüler in einem möglichen Einheitssystem konfrontiert sehen würden, argumentierte die Zentralstelle aufs Entschiedenste gegen eine Generalisierung der Ausbildung an Berufsschulen. Berufsschulen bereiteten Schüler gerade auf die Unterschiede der Arbeitswelten vor, wofür eine Spezialisierung unabdingbare Voraussetzung sei. Je höher die Spezialisierung, umso weniger könnten Berufsschulen in ihren Lehrplänen auf allgemeines Bildungsgut eingehen. Gerade technische Berufe erlebten mit zunehmendem Fortschritt eine immer höhere Spezialisierung; ein Argument, das gerade für den in Württemberg besonders wichtigen Fahrzeug-, Maschinen- und Flugzeugbau ausschlaggebend war. Der Einheitsschulgedanke ging nicht zuletzt von der Vorstellung aus, den Schülern und Schülerinnen möglichst lange unterschiedliche Bildungschancen offen zu halten. Der Besuch einer Gewerbe- oder Handelsschule, so die Zentralstelle, habe jedoch ein dezidiertes (Aus-)Bildungsziel, das die Einplanung eines möglichen Wechsels im Bildungszweig in berufsschulischen Lehrplänen unmöglich mache.

Die Zentralstelle trat auch deswegen gegen das Konzept der Einheitsschule auf, weil sich Lehrkräfte württembergischer Berufsschulen zum Teil ebenfalls für die Einführung von Einheitsschulen stark gemacht hatten. Daher wandten sich wichtige Vertreter württembergischer Berufsschulen wie Oberstudiendirektor Hermann Binder (1877-1957) gegen die Popularisierung dieses Konzepts. Aus diesem Grund scheiterte die Umsetzung desselben endgültig 1923 am langjährigen Widerstand ihrer Widersacher sowie an den verheerenden Auswirkungen der Hyperinflation, die eine grundlegende Reform der deutschen Schulen bis 1933 verhindern sollte.

GND-Verknüpfung: Bildungswesen [4006681-2]

Suche

Das vorgestellte Dokument im Online-Findmittelsystem des Landesarchivs BW: 

Bericht über die Reichsschulkonferenz im Juni 1920 im Gewerbeblatt aus Württemberg