Fürsorge
Florian Brückner, Universität Stuttgart
Kontext: Arbeitslosigkeit
Die Arbeitslosensituation gestaltete sich in Württemberg nach 1918 unterschiedlich. Einerseits zählte Württemberg gerade durch seinen hochtechnisierten Fahrzeug-, Flugzeug- und Maschinenbau zu den wirtschaftlich führenden Ländern des Reiches. In Phasen wirtschaftlicher Krisen versuchten die Unternehmen daher, hochqualifiziertes Fachpersonal etwa mithilfe von Kurzarbeit zu halten. Zudem führte die bereits während des Krieges einsetzende Geldentwertung aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Lohnverhältnisse ab 1918 dazu, dass die heimkehrenden Truppen zügig in die Arbeitsplätze reintegriert werden konnten. Im Dezember 1921 meldeten württembergische Arbeitsämter nur 766 Menschen als erwerbslos, was einer Vollbeschäftigung entsprach. Dass es sich dabei jedoch weitestgehend um eine kurzfristige Vollbeschäftigung handelte, zeigten beispielsweise staatliche Lohnsteuererhöhungen, die im August 1920 zu Massenentlassungen führten.
Die Unterstützung von Arbeitslosen war seit den 1890er Jahren eine Aufgabe der Gewerkschaften und städtischen Kommunen sowie als politisches Aufgabenfeld vor 1918 Teil des kaiserlichen Reichsamtes des Inneren gewesen. Nach Kriegsende entstanden die ersten Arbeitsministerien auf Reichs- und Landesebene und mit ihnen die ersten Arbeitsämter. Am 4. Oktober 1918 wurde das erste Reichsarbeitsamt gegründet, 1919 das daraus entstehende Reichsarbeitsministerium. 1920 folgte das Reichsamt für Arbeitsvermittlung. Auf Landesebene bestanden zu dieser Zeit im gesamten Reich 13 Landesarbeitsämter und 361 Arbeitsämter auf regionaler Ebene.
Zudem entstand im Zuge der Novemberrevolution 1918 die Erwerbslosenfürsorge, die bis 1927 bestand und die Vorgängerin der Arbeitslosenversicherung darstellte. Sie war direkt als Folge des Krieges geschaffen worden, da die Kommunen im Verbund mit Reich und Ländern, die den überwiegenden Teil der Unterstützung übernahmen, fortan kriegsbedingt erwerbslos gewordene Personen finanziell unterstützten. Die Erwerbslosenfürsorge zielte als Übergangsmaßnahme auf die Umstellung der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft ab. Der Anspruch auf finanzielle Unterstützung in Zeiten der Arbeitslosigkeit war zudem in Artikel 163 der Weimarer Verfassung verankert. Die Dauer der Hilfe betrug 26 Wochen mit der Möglichkeit einer 26-wöchigen Verlängerung. Die Gemeinden berechneten die Unterstützungssätze anhand eines Ortsschlüssels. Die Finanzierung lag zur Hälfte beim Reich, zu einem Drittel bei den Ländern und zu einem Sechstel bei den Gemeinden.
Quelle
Die vorliegende dem Staatsministerium entstammende Akte enthält Inneneinsichten in den Finanzhaushalt und die Ausgabenplanung für Erwerbslose Württembergs und des Reichs. Die Ausgaben waren angesichts der Kriegsniederlage sowie der Besatzung bedeutender Reichsteile überaus hoch. Für die Arbeitslosenfürsorge fehlte jegliches Geld und es entspann sich in den Akten der typische Verteilungskampf. In dessen Verlauf versuchte das Reich, finanzielle Verpflichtungen auf Landesebene zu verschieben, die diese wiederum an die Kommunen weiterzugeben versuchte.
Besonders erhellend sind in diesem Kontext Eingaben an das württembergische Staatsministerium, wie zum Beispiel jene des Bezirkskartells der Gewerkschaften vom 11. Oktober 1920. Darin forderte das Kartell rund einen Monat nach dem verheerenden Generalstreik im August und September die württembergische Staatsregierung dazu auf, die Arbeitslosenfürsorge zu verbessern. Angesichts der „grossen Notlage, die unter den Erwerbslosen“ bestehe, verlangte das Bezirkskartell staatliche Maßnahmen zur Beschaffung von Arbeitsgelegenheiten. Ebenso forderte es das Ende von Betriebsschließungen, zu denen es im Zuge von Lohnsteuererhöhung, Generalstreik und der Besetzung wichtiger Werke wie Daimler und Bosch durch die Staatsregierung im August und September 1920 gekommen war. Besitzende und Vermögende, die nicht auf Erwerbsarbeit angewiesen waren, sollten aus den Betrieben entlassen werden. Zudem wurde eine Beschaffungsbeihilfe gefordert, um ledige und gerade junge Menschen bis 21 Jahre besser unterstützen zu können. Zudem verlangte das Kartell die Erhöhung der Unterstützung auf mindestens 15 Reichsmark. Das im Auftrag des Staatsministeriums am 22. November 1920 antwortende Arbeitsministerium lehnte solche Forderungen jedoch ab, da diese nur unter Abänderung reichsrechtlicher Bestimmungen durchgeführt werden konnten.
Ein wesentlicher Schritt, den die württembergische Landesregierung zum Abbau der Arbeitslosigkeit unternahm, wurde in einer Sitzung des Staatsministeriums am 26. November 1923 besprochen. Angesichts von 2.500 unterstützten Erwerbslosen und über 100.000 Kurzzeitarbeitern forderte Arbeitsminister Eugen Bolz (1881-1945, Zentrum) eine produktive Fürsorge, womit er sich auf Zwangsmaßnahmen zur Arbeitsbeschaffung – sogenannte Notstandsarbeiten – bezog. Die geeigneten Betätigungsfelder sah Staatsrat Edmund Rau (1868-1953, parteilos) durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen am Neckarkanal bei Horkheim, am Industriegleis Münster bei Cannstatt, Arbeiten am Stauwehr bei Oberesslingen sowie durch Holzhiebe der Forstdirektion gegeben. Zudem hätten die Abteilungen für Straßen- und Wasserbau ein entsprechendes Bauprogramm vorgelegt, das jedoch staatlich bezuschusst werden musste. Wohnungsbauten sollten zudem das Handwerk aus der Krise führen.
Diese Entscheidungen sowie die anhaltende Krise führten im Dezember 1923 zur Einrichtung eines Landeskommissariats für die produktive Erwerbslosenfürsorge durch das Staatsministerium. Ein zu ernennender Landeskommissar sollte die Maßnahmen des Arbeitsministeriums zur Arbeitsbeschaffung sowie zur Weiterbeschäftigung von Arbeitskräften in Krisenzeiten ergänzen. Um die oben beschriebenen Notstandsarbeiten, d.h. staatlich angeordnete Zwangsrekrutierungen von Arbeitslosen, durchzuführen, wurde der Landeskommissar mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet: So konnte er Zwangsenteignungen von Grundstücken vornehmen, in die Gewerbe- und Bauordnung sowie in das Wasser- und Feldbereinigungsgesetz eingreifen. Diese Verfügungen galten bis zum 31. März 1924.
Die Krise von 1923 verursachte damit insgesamt eine Veränderung der Erwerbslosenfürsorge. Eine neue Mittelaufbringungsverordnung verfügte, dass die Beitragssätze nun je zur Hälfte von Arbeitgebern und -nehmern zu zahlen waren. Gemeinden waren fortan nur noch mit einem Fünftel an der Unterstützung beteiligt. Waren die Gemeinden nicht im Stande, diese selbstständig aufzubringen, wurde sie zum Teil von Reich und Ländern bezuschusst. Damit waren die Weichen gestellt, die 1927 zur Einführung der Arbeitslosenversicherung führen sollten.
GND-Verknüpfung: Fürsorge [4018801-2]
Das vorgestellte Dokument im Online-Findmittelsystem des Landesarchivs BW:
Protokollauszug zur Sitzung des Staatsministeriums vom 26.11.1923