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Die Stadtkirche in Göppingen - ein kaum bekanntes Meisterwerk der Renaissance

 

Göppingen in der Topographia Suebiae von Matthaeus Merian, 1643, mit dem Turmhelm der 1619 eingeweihten Stadtkirche in ursprünglicher Gestalt [Quelle: WLB Stuttgart, Graphische Sammlungen Schef.qt.2172]
Göppingen in der Topographia Suebiae von Matthaeus Merian, 1643, mit dem Turmhelm der 1619 eingeweihten Stadtkirche in ursprünglicher Gestalt [Quelle: WLB Stuttgart, Graphische Sammlungen Schef.qt.2172]

Bis heute beeindruckt das äußere Erscheinungsbild der 1619 eingeweihten Göppinger Stadtkirche wegen seiner Mächtigkeit. Größe entfaltet sich auch im Innern. Geplant unter der Regie Heinrich Schickhardts (1558-1635), verwundert es nicht, dass die Konstruktion einige Besonderheiten aufweist. Der Kirchensaal mit seinen Maßen von 20 auf 40 Meter entstand ohne das damals üblicherweise eingesetzte Stützwerk wie Säulen oder Pfeiler, ein Alleinstellungsmerkmal in der europäischen Architekturlandschaft. Die Inschrift von 1619 gibt Auskunft über die Entstehungsgeschichte. Sie greift eine Widmung im Zusammenhang mit der Predigt Martin Luthers anlässlich der Einweihung des ersten neu errichteten evangelischen Kirchenbaus auf, der Kapelle von Schloss Hartenfels im Torgau. Das Kirchengebäude in Göppingen wurde aus Anlass des hundertjährigen Reformationsjubiläums 1617 in Auftrag gegeben.

Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Kirche mehrfach umgestaltet. Schon der ursprüngliche Plan Schickhardts sah vor, Bänke und Emporen entsprechend dem evangelischen Predigtgottesdienst auf die Kanzel mit dem Pfarrer an der Querseite auszurichten. Solche Gottesdienste waren in einigen süddeutschen Städten bereits vor der Reformation üblich. Nach der Reformation entstanden viele Kirchenneu- oder –umbauten mit Querausrichtung. Die Gemeinde sollte sich versammeln und auch akustisch den Worten folgen können. Schickhardt griff dabei auf Kenntnisse zurück, die er sich bei Studienreisen in Italien – in Vicenza lernte er das von Palladio erbaute Teatro Olimpico kennen - angeeignet hatte.

Die Deckenkonstruktion hingegen wurde zu einer Meisterleistung württembergischer Zimmermannskunst. Hier entwickelte der Schorndorfer Zimmerer Elias Gunzenhäuser (gest. 1606) eine Sprengwerks- und Hängesäulentechnik, die sein Göppinger Kollege Hans Strölin (1559-1631) zur Perfektion brachte. Der so entstandene mehrstöckige Speicherraum diente der Aufbewahrung von Getreidevorräten. Die Konstruktion blieb 90 Jahre stabil, bevor ausgerechnet am Karfreitag 1769 ein Sturm bestehende Schäden offenbarte, gefolgt von einer Massenpanik mit mehreren Toten.

Als Renaissance-Baumeister folgte Schickhardt den Idealen ästhetisch-ausgewogener Proportion. Die göttliche Schöpfung, ausgedrückt durch die Harmonie von Musik oder Geometrie, sollte sich auch in der Architektur widerspiegeln. Ein Beispiel dafür sind seine Entwürfe für Turmhelme. Der Göppinger Kirchturm, der im 19. Jh. ein neuromanisches Aussehen erhielt, ähnelte dem noch erhaltenen Beispiel in Denkendorf mit seinem leicht nach unten gezogenen, konkav geschwungenen und mit einer Laterne bekrönten Turmaufbau. Dabei bildet eine imaginäre Linie von der Decke der Laterne zu den unteren Ecken des Dachs den Rahmen eines gleichseitigen Dreiecks, das mittels zehn gleichmäßig verteilter Punkte in weitere deckungsgleiche Dreiecke eingeteilt werden kann. Zehn, die Summe der Zahlen 1, 2, 3 und 4, wurde von den Pythagoreern als Tetraktys bezeichnet und galt von da an als Schlüssel der Weltharmonie. Die Punkte band Schickhardt in ein System von Kreislinien ein, die der Turmarchitektur als Gesamtkonzept zugrunde liegen. Sichtbarer Ausdruck sind beispielsweise die schwingenden Dachflächen. Auch Fassade und Innenraum der Stadtkirche in Göppingen unterlagen den Idealen der Proportion, die aufgrund späterer Baumaßnahmen nicht mehr erkennbar sind. Als eines von nur wenigen Gebäuden blieb die Stadtkirche verschont, als 1782 ein schwerer Brand fast ganz Göppingen zerstörte.

Der Beitrag entstand auf Grundlage des Artikels von Ulrich Zimmermann, Ein Wunderwerk des Kirchenbaus? Heinrich Schickhardts Göppinger Stadtkirche im Wandel der Jahrhunderte, in: Schwäbische Heimat 1 (2021) S. 42-48. Der Artikel ist nicht online verfügbar.

Dem architektonischen Werk Heinrich Schickhardts, dessen Spuren sich sowohl im heutigen Baden-Württemberg wie in Frankreich und in der Schweiz finden, widmet sich die europäische Heinrich-Schickhardt-Kulturstraße.

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