Nestler, Richard 

Geburtsdatum/-ort: 11.06.1878;  Lahr/Schwarzwald
Sterbedatum/-ort: 03.05.1956;  Lahr/Schwarzwald
Beruf/Funktion:
  • Fabrikant, Präsident der IHK Mittelbaden
Kurzbiografie: 1884–1894 Schulbildung bis zur Mittleren Reife in Lahr, danach kaufmänn. Lehre im väterlichen Betrieb; Aufenthalte in Frankreich, Spanien u. d. Schweiz
1900–1901 Einjährig Freiwilliger beim 8. Bad. Infanterieregiment 169
1901 Generaldirektor nach dem Tod des Vaters; Bruder Albert techn. Direktor
1903 Eintritt in die Lahrer Freimaurerloge „Allvater zum freien Gedanken“, Tochterloge d. Großloge „Zur Sonne“ in Bayreuth zus. mit Bruder Albert; 1928 bis 1934 Vorsitzender d. Loge (Meister vom Stuhl); 1949 deren Neugründung
1911 neues Fabrikgebäude, Beginn des Holzhandels, Herstellung von Gewehrschäften
1914–1918 Kriegsteilnahme als Hauptmann d. Landwehr, EK I u. EK II
1921 weiteres Fabrikgebäude in Lahr
1922 Unternehmen wird Aktiengesellschaft, Produktion von Zeichentischen
1923 Kauf d. Maßstabfabrik Schaffhausen
1927 Beirat d. IHK Lahr
1929–1933 u. 1947–1952 Präsident d. IHK Lahr
1932–1945 Vorsitzender des Turnvereins Lahr
1934–1935 auf politischen Druck von Firmenleitung zurückgetreten
1953 Übergabe d Geschäftsführung an Sohn Richard und Neffen Erich Nestler.
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Kommerzienrat, verliehen durch bad. Staatsreg., u. Ehrensenator d. TH Darmstadt (1951); Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens d. Bundesrepublik Deutschland (1953)
Verheiratet: 1906 (Lennep/Rheinland) Marie (Rufname Mietze), geb. Mühlinghaus (1886–1964)
Eltern: Vater: Albert (1851–1901), Fabrikant
Mutter: Luise, geb. Bähr (1855–1917)
Geschwister: 7; darunter Albert (1877–1961), Rudolf (1879–1956), Reißzeugfabrikant, Lahr, Max (geboren 1882, gestorben in Amerika) u. Gustav (1892–1960), Flugpionier u. Kaufmann in Berlin
Kinder: 3;
Hilde Carola (1908–1972), verh. Friedrich,
Erika Erna Marianne (1909–1960), verh. Stößer,
Richard Albert Kurt (1918–1986)
GND-ID: GND/1144309271

Biografie: Renate Liessem-Breinlinger (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 358-360

Am Ende seines Lebens wollte Nestler noch einmal Spanien sehen, das er in seinen Lehrjahren lieb gewonnen und dessen Sprache er sich angeeignet hatte. Die Reise 1955 im eigenen Pkw mit Chauffeur sollte ihn für manche Unbill der jüngsten Vergangenheit entschädigen: Beschlagnahmung des Wohnhauses und von Maschinen des Unternehmens, dem er als Generaldirektor vorgestanden hatte, durch die französische Besatzungsmacht, Zerstörungen durch Bombenangriffe, die Jahre der NS-Herrschaft, in denen der Freimaurer und Nicht-PG einen schweren Stand hatte.
Geboren war Nestler im Gründungsjahr der Maßstabfabrik, mit der sein Vater reüssierte, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Mechaniker Theophil Beck, der eine selbst erfundene Teilmaschine einbrachte, die eine vorteilhafte Preisgestaltung ermöglichte. Neben Zeichen gerät und Fotostativen wurde der Rechenschieber wichtigstes Teil der Produktion. Die ältesten Söhne waren ausersehen, dem Firmenchef nachzufolgen: Albert im technischen, Richard im kaufmännischen Bereich. Für letzteren empfahl sich die „wissenschaftliche“ Bildung, weshalb er bis zur Mittleren Reife das humanistische Gymnasium besuchte, bevor er die Lehre im väterlichen Unternehmen begann. Nestler verbrachte ein Jahr in Paris bei einem Geschäftspartner, anschließend einige Monate in Spanien. Relativ spät leistete er seinen Militärdienst bei der Infanterie in Lahr. Eine ferne Garnisonstadt zu erleben oder eine prestigeträchtige Uniform zu tragen, wie Bruder Max, der bei den Ziethen-Husaren war, oder einer neuen Waffengattung anzugehören wie Bruder Gustav, der Flieger war, blieb ihm versagt – oder lag außerhalb seiner Wünsche.
Noch ehe das Dienstjahr abgeleistet war, starb der Vater, erst 50 Jahre alt, womit Nestlers Jugend abrupt endete. Die Banken zeigten Zurückhaltung, als Nestler an der Seite seiner Mutter zusammen mit Bruder Albert die Firmenleitung übernahm, und „Die Mutter musste ein paar Äckerle in Friesenheim verkaufen“ (Bernd Friedrich). Die Brüder Nestler blieben dennoch zuversichtlich und setzten auf Innovation. Einen nachhaltigen Glücksgriff taten sie 1902 mit dem Erwerb der Rechte an einem Rechenstab mit Kubikskala (DRGM 181110), erdacht von Max Rietz (1872–1956), der an der TH Karlsruhe studiert hatte. Das „System Rietz“ prägte die Nestlersche Produktion auf Jahrzehnte. Daneben trat 1935 das sogenannte „System Darmstadt“, benannt nach seinem Entwicklungsort, das sich als Basis für zahlreiche Sonderausführungen eignete und von Ingenieuren sehr geschätzt wurde. Dessen geistiger Vater war Professor Alwin Walther (1898–1967) vom Institut für praktische Mathematik der TH Darmstadt, mit dem Nestler zu beider Nutzen eng zusammenarbeitete und dem er die Ernennung zum Ehrensenator dieser Hochschule verdankte. Als Walther 1951 in feierlicher Form die Urkunde überreichte und die Laudatio hielt, galt seine wissenschaftliche Arbeit bereits der Entwicklung des elektronischen Rechners, der in den 1970er-Jahren die Rechenschieber-Ära beendete.
Fast gleichzeitig beendeten die Brüder Nestler ihre Junggesellenzeit und heirateten zwei Schwestern, Töchter des Textilfabrikanten Mühlinghaus aus Remscheid-Lennep. Herkunft, Konfession und Vermögen der Ehepartnerinnen entsprach den in Fabrikantenkreisen üblichen Vorstellungen. Es waren glückliche Verbindungen, der Zusammenhalt zwischen den Paaren war eng. Gerne machten die vier gemeinsame Autotouren im offenen Opel, mit Albert am Steuer. Der Betrieb prosperierte, als sichtbares Zeichen entstand ein Fabrikneubau in Stahlbeton an der Thiergartenstraße. Um von Rohstofflieferanten unabhängig zu werden, gliederten sie 1913 dem Unternehmen einen Holzhandel und ein Sägewerk an, was dann auch die Möglichkeit zur Produktion von Gewehrschäften eröffnete.
Bei Kriegsausbruch im August 1914 erhielt Nestler seinen Gestellungsbefehl zum 3. Mobilmachungstag. Regelmäßig hatte er sechs- bis achtwöchige Übungen absolviert, seit 1904 war er Leutnant, 1913 als felddienstfähig eingestuft. Bis Herbst 1917 war er mit dem Reserve-Infanterieregiment 110 an der Westfront, auch an Brennpunkten wie der Somme und Verdun, seit Januar 1916 als Hauptmann der Landwehr I. Bruder Albert, der auch einjährig gedient hatte, aber ohne Mittlere Reife keinen Zugang zur Offizierslaufbahn hatte, wurde nicht eingezogen und blieb im Betrieb.
Aktiv und investitionsfreudig gingen die Brüder Nestler nach Kriegsende wieder zu Werk. Noch vor der Inflation konnte ein großer Neubau an der Bahnhofstraße bezogen und die Zeichentischproduktion ausgebaut werden. Sie kauften die Maßstabfabrik Schaffhausen und etablierten dort die Generalvertretung für den Schweizer Markt. Systematisch und erfolgreich erschlossen sie neue Exportmärkte, Richard mit seinen Spanischkenntnissen konzentrierte sich auf Südamerika. „In aller Welt bewährt, klimabeständig und tropenfest“, stand auf der im eigenen Verlag gefertigten Gebrauchsanleitung für den Rechenschieber. Die günstige Entwicklung setzte sich auch in den 1930er-Jahren fort. Nach einem Brand 1935 wurde ein neuer Maschinenpark angeschafft. 1938 zählte Nestler 600 Beschäftigte, die Firma exportierte in mehr als 60 Länder und galt als der weltgrößte Hersteller von Rechenschiebern.
Nestler, der führende Kopf im Unternehmen, war auch im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben präsent: seit 1928 als Meister vom Stuhl in der Freimaurerloge, in die er 1903 eingetreten war. 1929 wurde er Präsident der IHK Mittelbaden. Politisch dachte er nationalliberal; während der Weimarer Zeit gehörte er der DVP an.
Der politische Umschwung von 1933 wirkte sich geschäftlich und privat nachteilig aus: Umgehend wurde Nestler als Präsident der Handelskammer abgesetzt. 1934/5 musste er „auf Druck der Verhältnisse seinen Posten als Betriebschef niederlegen“ (Schreiben vom 6.2.1947 im Besitz der Nachfahren): Der älteste Sohn seines Bruders Albert, seit 1932 in der Firma tätig, hatte 1933 die Schwedin Birgitta von Rosen (1913–2009), bekannt als Birgitta Wolf, „Engel der Gefangenen“, geheiratet, eine Nichte von Carin Göring und Patentochter des Reichsmarschalls. Dieser beorderte Nestler nach Berlin ins Reichsluftfahrtministerium und eröffnete ihm, dass eine Firma, die von einem Freimaurer geleitet werde, keine Staatsaufträge erhalten könne, weshalb sein Neffe an seine Stelle zu treten habe. Dieser hielt dann die gewünschten Reden vor der Gefolgschaft, nahm jedoch bald einen Posten in Berlin an. Diese Episode ist dokumentiert in einem Telegramm aus Berlin vom 11.12.1934, worin Nestler als „hochgradiger Freimaurer“ bezeichnet wird, was nach dem Krieg ein willkommener Beleg für Nestlers Distanz zum Regime wurde. „Vom Gesetz nicht betroffen“, wurde Nestler nach Abgabe des Fragebogens bescheinigt, auch wenn er anfangs um Aufnahme in die Partei nachgesucht hatte, die ihm wegen seiner Zugehörigkeit zur Loge, die auch Juden aufnahm, verweigert wurde. NS-Kreisleiter Frank hielt Nestler dennoch für „einen tüchtigen, zuverlässigen und nationalen Mann“, in dessen „Person er absolut keine Gefahr für den Nationalsozialismus erkennen“ könne, wie er in einem Brief an den Turnverein geschrieben hatte, so dass Nestler Vorsitzender bleiben konnte (Brief vom 16.11.1934, StadtA Lahr, Depositum Turnverein).
Nach 1945 schaffte Nestler trotz widriger Umstände den Wiederaufbau seines Unternehmens, und es gelang ihm, alte Geschäftsbeziehungen zu beleben. Auch über den eigenen Bereich hinaus traute man ihm als einer wenig belasteten und bei der Besatzungsmacht angesehenen Persönlichkeit mit Lebenserfahrung erfolgreiche Aufbauarbeit zu. Er wurde auch wieder Präsident der IHK, wo er Verdienste erwarb, die ihm 1951 den Titel „Kommerzienrat“ der Regierung Wohleb einbrachten.
Nestler war ein Pflichtmensch, weltläufig und heimatverbunden. Erholung suchte er auf der Jagd im Schwarzwald, ein Hobby, das er mit dem Bruder teilte. Die oben erwähnte Spanienreise auf den Spuren seiner Jugenderinnerungen indes endete tragisch: Kurz vor Vollendung seines 78. Geburtstages erlitt Nestler einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte.
Quellen: WirtschaftsA BW A4, Firmenchronik Albert N. 1948–1991, A4, Ehrenpräsident Kommerzienrat Richard Nestler mit Todesanzeigen u. Kondolenzpost, Y 188 Büschel 36-49, Prüfungsberichte zum Jahresabschluss 1933–1947, Bü. 145, Jagdhütte, Bü. 148, Werbung, Y 62, IHK Mittelbaden – die detaillierte Verzeichnung des Nachlasses d. Albert Nestler AG im WirtschaftsA BW steht noch aus; StAF D 5/1, 412, 2588, 3836, Okkupationsschäden, D 180/2, 181243 u. 185377, Entnazifizierung, C 5/1, 2290, Kommerzienrat, C 38/1, 216, Lohnordnung; GLA 456 E, 8503, Militärverhältnisse; StadtA Lahr, Auszüge aus dem Melderegister, Bild- u. Texttafeln d. Ausstellung des Museums Lahr vom 5.7. bis 6.9.2009 zur Geschichte d. Lahrer Maßstabfabrik „Mit Nestler rechnet u. zeichnet die Welt“, zusammengestellt von Gabriele Bohnert mit Leihgaben von Jürgen Nestler, Depositum A des Turnvereins Lahr, Schreiben Kreisleiter Frank an den Turnverein Lahr vom 16.11.1934 wg. Rücktritt von Richard Nestler; StadtA Schaffhausen, Dokumentation d. Geschichte d. Maßstabfabrik Schaffhausen von Jürgen Nestler, Enkel von Albert Nestler, 2007; Auskünfte u. Dokumente zur Firmen- u. Familiengeschichte von Dr. Bernd Friedrich, Lahr, Enkel von Richard Nestler, u. Jürgen Nestler, Hausach, in Nestlers Nachlass dort die masch. Erklärung zur polit. Behandlung 1933–1945 vom 6.2.1947; Auskünfte von Ralf-Bernd Herden, Bad Rippoldsau-Schapbach, Betreuer des Logenarchivs Lahr (alle vom Febr. 2014).
Nachweis: Bildnachweise: Foto (o. J.) in, Baden-Württembergische Biographien 6, S. 354, Ölgemälde (1932) von Hans Adolf Bühler, Besitz des Enkels Dr. Bernd Friedrich, Lahr. – Mitteilungsbl. d. IHK Mittelbaden 1951 u. WIS 1978 (vgl. Literatur).

Literatur: Nestler Rechenschieber. Der logarithmische Rechenschieber u. sein Gebrauch, 31942; Mitteilungsblatt d. IHK Mittelbaden Nr. 8 vom 15.4.1951, 1, Rede von Prof. Walther bei Verleihung des Titels Ehrensenator; ebd. Nr. 22 vom 15.11.1951, 1, zum Titel Kommerzienrat; Lahrer Anzeiger vom 23.4.1951, Ehrensenator; Lahrer Zeitung vom 17.11.1951, Kommerzienrat, 4.5.1956, Nachruf u. Todesanzeigen; Peter Supf, Das Buch d. dt. Fluggeschichte, 1958, 486; Willi Hackenberger, Die alten Adler. Pioniere d. dt. Luftfahrt, 1960, 77; Hans Göhringer, Zum 100. Geburtstag von Ehrenpräsident Richard Nestler, in: WIS, Kammerzs. Wirtschaft im Südwesten 6/1978, 1; Ernst Schlosser, 100 Jahre Albert Nestler Zeichentechnik Lahr, in: Geroldseckerland 22, 1980, 71-79; W. A. Boelcke, Albert Nestler (1851–1901). Im Maßstab 1:100, in: Jörg Baldenhofer (Hg.), Bad. Tüftler u. Erfinder, 1992, 55-59; Bernd Boll u. Ursula Huggle, Die Industrie- u. Handelskammer Südl. Oberrhein. Geschichte u. Wirkungsfeld d. Kammern Freiburg u. Lahr, 1998, 213f.; Guus Craenen u. Heinz Joss, Albert Nestler Innovation u. Qualität. Die Rechenstäbe von Nestler in ihrem internationalen Umfeld, 2001; Rolf Kopf, Der Turnverein Lahr 1933–1945, Vortrag, gedruckt in: TV Aktuell. Vereinsnachrichten des Turnvereins Lahr von 1846 e.V., Hefte 1/2001 bis 3/2001; Guus Craenen u. Heinz Joss, Albert Nestler Innovation u. Qualität. Zusammenarbeit mit anderen Herstellern, 2004.
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