Fürsorgeakten als Dokumente des Grauens

Die Deportation von Sinti-Kindern und die Rolle der NS-Behörden

Die Geschwister Josef, Maria und Rosina Winter sowie Luise, Marta und Karl Mai während ihres Aufenthalts in Mulfingen. Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 48/2 Bü 955 Lichtbildmappe Bild 9
Die Geschwister Josef, Maria und Rosina Winter sowie Luise, Marta und Karl Mai während ihres Aufenthalts in Mulfingen. Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 48/2 Bü 955 Lichtbildmappe Bild 9

Wie eine kindliche Idylle wirken die Fotos, auf denen Gruppen Heranwachsender bei Ausflügen in der Natur oder im Garten zu sehen sind. Doch die Idylle trügt, denn die Aufnahmen zeigen Kinder aus Sinti-Familien, die während der NS-Zeit in der St. Josefspflege in Mulfingen untergebracht waren und später in Auschwitz ermordet wurden. Die Verbringung in das katholische Kinderheim war angeordnet worden, weil die Eltern im Konzentrationslager saßen oder die Kinder aus anderen Gründen unter staatlicher Fürsorge standen. In Mulfingen wurden die Sintizöglinge von Eva Justin, einer engen Mitarbeiterin des Leiters der Rassehygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt, für ihre rassenkundliche Dissertation untersucht. Die meisten von ihnen blieben daher zunächst vor der Deportation in ein Konzentrationslager verschont. Erst nach Abschluss der Forschungen wurden die noch in der Josefspflege verbliebenen Kinder – 20 Jungen und 19 Mädchen – am 9. Mai 1944 nach Auschwitz verbracht, wo die allermeisten von ihnen umgebracht wurden. Offenen Widerstand gegen die Deportation hat es seitens des Heimpersonals offenbar nicht gegeben.

Das Schicksal der Mulfinger Sintikinder und die Vorgänge rund um die Deportation waren in den 1970er Jahren Gegenstand eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens und konnten damals mit Hilfe noch lebender Zeugen und Unterlagen aus Auschwitz weitgehend aufgeklärt werden. Zu einer Verurteilung kam es aber nicht. An die Namen der Ermordeten erinnert seit Längerem eine Gedenktafel in Mulfingen. Für einige von ihnen wurden zwischenzeitlich auch Stolpersteine verlegt. In Nürtingen erinnert zudem ein Denkmal an eines der Opfer.

Für die verwaltungsmäßige Abwicklung des Mordes an den Kindern und Jugendlichen lagen bis vor Kurzem keine archivalischen Zeugnisse aus der NS-Zeit vor. Erst im Zuge einer größeren Abgabe von Fürsorgeakten des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt an das Landesarchiv Baden-Württemberg sind detailliertere Informationen über das Schicksal einiger Opfer bekannt geworden. Die Unterlagen der Fürsorgebehörden über Otto, Sonja, Thomas und Albert Kurz dokumentieren, wie diese bis zuletzt auf eine äußerlich korrekte Abwicklung des Verfahrens geachtet haben. So wurde die Fürsorgeerziehung nach der Deportation der Kinder tatsächlich noch offiziell aufgehoben, weil mit der Verbringung in ein Lager in Schlesien der Zweck der Fürsorgeerziehung anderweitig sichergestellt sei. Die Akten lassen in diesem Fall nicht erkennen, ob die ausführenden Beamten ahnten, welches Schicksal die Kinder in dem in den Akten nicht namentlich genannten Lager erwarten würde. Unterlagen über ein anderes Kind, das zum Zeitpunkt der Deportationen in einem Heim in Buttenhausen untergebracht war, zeigen aber, dass der dortige Heimleiter sehr wohl ahnte, welches Schicksal seinem Zögling bei einer Abholung durch die Polizei drohte. Ganz offen berichtet er dem Leiter des Württembergischen Landesfürsorgeverbands in Stuttgart im Sommer 1944, was man vor Ort getan hatte, um die Verbringung des Kindes in ein Lager zu verhindern.

Peter Müller

Quelle: Archivnachrichten 55 (2017), S. 22-23.

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