Das Gebiss in der Reissuppe: Speisungen für Geringverdiener in der Wirtschaftskrise ab 1930

Blechmarke W[ohltätigkeits] V[erein] ST[uttgart] – 1 Mittagessen, 1930. Vorlage: Landesarchiv BW, StAL F 240/1 Bü 150
Blechmarke W[ohltätigkeits] V[erein] ST[uttgart] – 1 Mittagessen, 1930. Vorlage: Landesarchiv BW, StAL F 240/1 Bü 150

Ein kleiner, trostlos kahler Raum mit Bänken und Tischen. Ich gebe eine Blechmarke ab und nehme mir aus dem bereitstehenden Behälter einen Löffel. Er ist noch klebrig von seinen früheren Benützern. An einem langen Tisch essen welche, die sich schon besser auskennen als ich. Sie haben aus Zeitungen ihre eigenen Löffel ausgewickelt, ein Stück Brot, eine Maggiflasche. Zumeist Arbeiterinnen oder Arbeiterfrauen. Doch ich sehe auch andere, solche, die vor zwei, drei Jahren vielleicht noch Geschäftsfrauen waren, im Laden standen, ihre Dienstmädchen hatten und im Sommer verreisen konnten. So berichtete im Dezember 1932 eine Reporterin der Süddeutschen Arbeiter-Zeitung über die größte Stuttgarter Armenküche im heutigen Jobstweg. Täglich fanden zu dieser Zeit 1.420 Stuttgarter ihren Weg in solche Speisesäle.

Zwischen 1930 und 1932 verloren dreißig Prozent aller Erwerbstätigen ihren Arbeitsplatz und lebten von einer knappen Arbeitslosenunterstützung. Soziale Einrichtungen, die es schon immer für Arme und Kranke gegeben hatte, mussten doppelt oder dreimal so viele Personen wie üblich verköstigen.

Zwar bemühten sich die Träger der öffentlichen Fürsorge, die verzweifelten Kostgänger in Würde zu versorgen, aber ihre Aufgabe war mühselig. So wurden Unterschriften gesammelt und es erschienen in der Arbeiterpresse regelmäßig Leserbriefe von Leuten, die das Wohlfahrtsessen aus eigener Anschauung kannten. Gerügt wurde meist nicht der Nährwert: Wie die erhaltenen Speisezettel zeigen, wurden zwei- bis dreimal pro Woche Wurst und Fleischgerichte aufgetischt. Es waren die minderwertigen Zutaten und das lieblose Herrichten und Servieren der Speisen, aber vor allem die Demütigung, die den Ärger schürte.

Besonders heikel war die Situation Ende Mai 1931, als ein Stammgast in der Jobstküche seine Suppe, die er stets zu Hause verzehrte, in die Küche zurückbrachte und ein Gebiss vorzeigte, das er darin gefunden habe. Da das Küchenpersonal keine Zahnprothesen trug, wurde vermutet, dass ein anderer Esser die Prothese nach dem Hineinschöpfen in den Topf gelegt hatte. Ein junger Mann russischer Herkunft versuchte den Fall über die Arbeiterpresse politisch auszuschlachten, was aber der Gebissfinder selbst ablehnte. Später berichteten andere Stammgäste, dass der angebliche Finder selbst einige Wochen zuvor das Gebiss beim Kohlesammeln aufgelesen habe. Hatte er es in der Küche nur in der Hoffnung auf eine Extraportion vorgezeigt?

Die damals emporwuchernde NSDAP stieß bis zum Beginn der Diktatur in den Armenküchen nicht auf Gegenliebe. Einer jungen Frau, die Essen holen wollte, wurde Ende Juli 1932 von jungen Männern ein Hakenkreuzabzeichen von der Kleidung abgerissen. Auf ihre Beschwerde hin wurde ihr vom Personal erklärt, es sei einfach zweckmäßiger, ein solches Abzeichen unter den Gästen der Jobstküche nicht zu tragen. Auch mit Beginn der Diktatur hatte die Jobstküche weiterhin genug zu tun. Die Anzahl der Essen im Oktober 1933 war ähnlich hoch wie im Oktober des Vorjahres. Wie es den Leuten nun in den Speisesälen ging? In den Akten findet sich dazu nichts mehr, denn die gleichgeschaltete NS-Presse verhinderte seit März 1933 eine freie Berichterstattung.

 Kai Naumann

Quelle: Archivnachrichten 53 (2016), S.22-23.

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