Die Seismogramme der württembergischen Erdbebenwarte

Das Seismogrammarchiv im Luftschutzbunker unter Villa Reitzenstein, heute im Staatsarchiv Ludwigsburg. Aufnahmen: LABW, StAL.
Das Seismogrammarchiv im Luftschutzbunker unter der Villa Reitzenstein, heute im Staatsarchiv Ludwigsburg. Aufnahmen: LABW, StAL.

Sie gehören zu den gewaltigsten Natur katastrophen, die den Menschen treffen können. Erdbeben kommen wie aus heiterem Himmel, völlig überraschend und mit einer ungeheuren Zerstörungskraft. Wie sie entstehen, lag lange Zeit im Dunkeln, erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert setzte sich in der Wissenschaft die Erkenntnis durch, dass die einzelnen Kontinente nicht fest auf der Erdkruste verankert sind, sondern sich bewegen; die Theorie der Plattentektonik war geschaffen.

Erdbeben aus großer Entfernung zu orten, gelang der Menschheit jedoch schon wesentlich früher, nämlich im China des 12. Jahrhunderts. Doch erst ganz am Ende des 19. Jahrhunderts kam der erste einsatztaugliche Seismograf auf den Markt. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden nun weltweit Erdbebenmessstationen, so auch im Königreich Württemberg, wo im Jahr 1905 in Hohenheim – mit einer Nebenstation in Biberach an der Riß – durch Karl Mack, Professor für Physik an der dortigen Landwirtschaftlichen Hochschule, eine Erdbebenwarte eingerichtet wurde.

Anfang 1923 stieß Wilhelm Hiller, der später zum führenden Erdbebenforscher Deutschlands werden sollte, zur Erdbebenwarte nach Stuttgart. Unter seiner Leitung wurde diese im Jahr 1929 in die Untergeschossräume des württembergischen Staatsministeriums, der Villa Reitzenstein, verlegt. Mitten im Bombenkrieg vollzog sich dort eine zutiefst menschliche Geschichte: Der Verantwortliche für die Geräte der Erdbebenwarte in der Villa Reitzenstein war nämlich ein Franzose und Kriegsgefangener, Elie Peterschmitt. Er hatte in Straßburg als Forscher gearbeitet und war schon länger mit seinem Stuttgarter Kollegen Wilhelm Hiller bekannt gewesen. Dieser setzte sich, als Peterschmitt als Kriegsgefangener nach Stuttgart kam, für den Kollegen ein. So durfte Peterschmitt nicht nur in der Villa Reitzenstein arbeiten, in den Räumlichkeiten unter den nationalsozialistischen Machthabern, sondern er durfte auch aus dem Lager Gaisburg ausziehen und privat dort wohnen. Dies rettete ihm vermutlich das Leben, denn im April 1943 fielen Bomben auf das Gaisburger Lager und töteten über 300 Menschen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Erdbebenwarte schließlich in den von Reichsstatthalter Wilhelm Murr erbauten Luftschutzbunker unter der Villa Reitzenstein verlegt, wo sie sich heute noch befindet. Organisatorisch verblieb sie bis in die 1970er Jahre beim Statistischen Landesamt, ehe sie nach kurzer Zugehörigkeit zum Geologischen Landesamt heute zur Abteilung 9 des Regierungspräsidiums Freiburg gehört.

Selbst die Erdbebenforscher haben jahrzehntelang überhaupt nicht daran gedacht: Aber ihre Seismografen, die rund um die Uhr die kleinsten Erschütterungen aufzeichnen, registrieren natürlich nicht nur Erdbeben, sondern auch auf Baustellen, Autoverkehr – und selbst Fußballtore – eben alles, was den Boden zum Beben bringt. So lassen sich traurige Ereignisse wie etwa die Luftangriffe auf Stuttgart, Heilbronn, Karlsruhe und Pforzheim während des Zweiten Weltkrieges ebenso ablesen wie freudige – wie zum Beispiel die Fußball Weltmeisterschaft 1974 im damaligen Stuttgarter Neckarstadion.

Martin Häußermann

Quelle: Archivnachrichten 59 (2019), S. 30–31.