Klinckerfuß, Johanna Therese Leonore Anna 

Geburtsdatum/-ort: 22.03.1855; Hamburg
Sterbedatum/-ort: 13.12.1924;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Hofpianistin
Kurzbiografie: 1866 die Elfjährige spielt bei Musikabenden des Dirigenten und Sängers Julius Stockhausen in Konzerten der Philharmonie und der Singakademie in Hamburg
1870 Studium mit einem Hamburger Stipendium am Stuttgarter Kgl. Konservatorium bei den Prof. Carl Lebert, Dionys Pruckner und Immanuel Faißt
1862 Weiterstudium in Weimar bei Franz Liszt, aber auch in Hamburg, Leipzig, Karlsruhe und Heidelberg
1873 bei dem als Studienabschluss und Abschiedskonzert von Stuttgart gedachten Konzert im Königsbau lädt Königin Olga (1822–1892) die junge Pianistin zu Hofkonzerten ein. König Karl (1823–1891) Regent seit 1894, ernennt sie bald darauf zur Hofpianistin. Verleihung der großen goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaft des Königreichs Württemberg, regelmäßige Teilnahme bei den Stuttgarter Abonnementskonzerten, Tournee mit Stockhausen in Norddeutschland
seit 1874 trotz Heirat stete Konzert- und Lehrtätigkeit, verknüpft Familien-Lehrerinnen- und Künstlerinnendasein harmonisch miteinander
30.1.1882 Doppelkonzert mit Clara Schumann in Stuttgart: Andante und Variationen für zwei Klaviere von Robert Schumann mit Liedersänger Raimund von Zur Mühlen
1885 Mitwirkung beim Stuttgarter Musikfest
Febr. 1890 spielt Edvard Griegs Klavierkonzert in A-moll op. 16 mit der Württ. Hofkapelle unter der Leitung des Komponisten
1897 Konzert zugunsten eines Fonds für ein Grabdenkmal für Pruckner mit Emma Hiller (Sopran), der Tochter Margarete, Edmund Singer und Prof. Wien
27.10.1903 Einweihung des von Adolf Fremd geschaffenen und von Klinckerfuß gesponserten Lisztdenkmals in den Kgl. Anlagen mit dem Concert pathétique für zwei Klaviere von Franz Liszt, gespielt mit der Tochter Margarete, mit der sie immer wieder mit diesem Konzert auftritt, so am
18.10.1911 in Stuttgart zu Margaretes 34. Geburtstag und zum letzten Mal im
Dez. 1924 in Stuttgart wenige Tage vor ihrem Tod
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 14.3.1874 (Stuttgart) Carl Apollo Otto Klinckerfuß (* 10.12.1840 Stuttgart, † 29.9.1923 Stuttgart), Instrumentenmacher, Hofpianolieferant, Pianofortefabrikant, Mäzen im kulturellen Leben Stuttgarts
Eltern: Vater: Heinrich Schultz (* 26.10.1829 Hamburg, † 21.10.1894 Hamburg), Kapellmeister, Orchesterleiter in Hamburg
Mutter: Hulda, geb. Wisemann (* 12.7.1833 Elberfeld, † 8.11.1878 Hamburg)
Geschwister: Hermine (Mina) Elise Franziska, (* 16.9.1861 Hamburg, † 26.9.1917 Stuttgart), verh. 4.10.1884 (Stuttgart) mit Hermann Groh, (* 11.9.1850 Oberfischbach, † 18.12.1910 Stuttgart), Reallehrer, Professor
Kinder: 5: Erich August Heiner Bernhard Apollo (* 12.12.1875 Stuttgart, † 9.11.1934 Berlin), Generaldirektor von C. Bechstein Berlin, Gründer der Londoner Bechsteinfiliale, verh. 27.12.1904 (Berlin) mit Ella, geb. Conrad, geschiedene Livenius; Heinrich Bernhard Wolfgang Walter (* 11.7.1876 Stuttgart, † 2.7.1954 Stuttgart-Sillenbuch), Pianofortelager- und Vermietungsangestellter, später Fabrikant und Inhaber des Pianofortehauses, verh. 12.6.1926 (Stuttgart) mit Martha, geb. Dengler; Augusta Hulda Else IngeborgMargarete (* 18.10.1877 Stuttgart, † 31.1.1959 Göppingen), Pianistin, Johanniterordensschwester, Musiktherapeutin; Hans Apollo Bernhard (* 23. Mai 1881 Stuttgart, † 14.8.1940 Prien/Chiemsee) Kunstmaler, verh. 22.4.1904 (München) mit Elisabeth, geb. Keller; Ingeborg Leonore Isolde Johanna (* 29.6.1887 Stuttgart, † 18.3.1920 Frauenchiemsee), verh. 1.10.1910 (Stuttgart) mit Otto Leopold Kes von Marken, Hofschauspieler
GND-ID: GND/1012279197

Biografie: Mascha Riepl-Schmidt (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 155-157

Nur wenige deutsche Sängerinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts als „ehrbar“ im bürgerlichen Sinne anerkannt. Heirateten sie, war das zumeist das Ende ihrer künstlerischen Laufbahn. Das war bei den Musikerinnen häufig anders. Oft einem gebildeten Bürgertum entstammend, waren sie die künstlerische Krönung der musisch begabten Frau. Das war bei Klinckerfuß wie auch z. B. bei Clara Schumann-Wiek der Fall. Beide machten dank ihrer Begabung trotz Familie und großer Kinderschar als Pianistinnen eine nur wenig eingeschränkte Karriere. Während der sogenannten Gründerzeit kam bei Klinckerfuß bis zum Einschnitt des Ersten Weltkrieges als künstlerische und berufliche Unterstützung der behaglich gastliche, kulturell anspruchsvolle Wohlstand ihrer angesehenen Stuttgarter Großfamilie hinzu, die der „schwäbischen“ Klassik und hier vor allem Friedrich Schiller huldigte. Auf Anraten des Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der auf das elfjährige Wunderkind Johanna in Hamburg aufmerksam geworden war, kam die kaum fünfzehnjährige Pianistin, die aus einer gebildeten, musikorientierten Familie stammte, mit Befürwortung von C. Schumann und Stockhausen als Stipendiatin zur weiteren Perfektion nach Stuttgart und wurde zwei Jahre später Franz Liszt weiterempfohlen. Der schreibt im Oktober 1872 an ihren Stuttgarter Lehrer Prof. Dr. Lebert: „Sie hatten mir Fräulein Schultz nicht übertrieben empfohlen. Gerne erkenne ich in ihr eine bemerkenswerte, auserlesene Pianistin, welche der Stuttgarter Schule besondere Ehre macht. Die seltene Korrektheit, die feine Nuancierung und das gediegene innige Verständnis ihres Vortrags erfreuten mich mehrmals, trotz aller meiner Klavierüberdrüssigkeit.“ Liszt ist mit dem Talent seiner Schülerin „mehr als zufrieden.“ Klinckerfuß, die dann kaum achtzehnjährig heiratete, war von ihrem späteren fünfzehn Jahre älteren Ehemann als junge Musikstudentin nach einer kurzen Begegnung auf der Stuttgarter Königstraße „ausgeguckt“ worden. Ihre Tochter Margarete beschreibt 1935 im Vorwort ihres Briefwechsels mit dem Dichter Carl Spitteler ihr Elternhaus samt „romantischem“ Garten, in dem sie, wie auch im Landhaus auf der Feuerbacher Heide und dem Anwesen in Murrhardt, eine „ideal verlaufene Kinderzeit“ verleben durfte, folgendermaßen: „Meine Mutter, die Hofpianistin, Hamburgerin, Schülerin Liszts, dem sie in Stuttgart ein Denkmal setzte, war eine geniale Künstlerin und Künderin, die sich mit ganzer Seele einsetzte, wo immer es galt, Gutes und Hohes zu wirken. In meinem Vater, Hofrat Klinckerfuß, paarten sich ein hochkultivierter Geist mit tiefer Herzensgüte und steter Hilfsbereitschaft. Im Verein mit meiner Mutter pflegte er auf das lebendigste die Tradition des jedem Stuttgarter wohlbekannten alten Hauses in der Kanzleistraße, das einst Ludwig Uhland beherbergte.“ Hier waren in unterschiedlichen Epochen Hölderlin, Hetsch, Dannecker, Hackländer, Lenau, Herwegh, Vischer, Gerok, Leins, der Tübinger Theologe und Kanzler der Universität Prof. Dr. Karl von Weizsäcker und vor allem Königin Olga mit ihrer Hofdame Baronin Eveline von Massenbach gern gesehene Gäste. Es ist überliefert, dass besonders Johannes Brahms, Clara Schumann, Edvard Grieg und Hans von Bülow Klinckerfuß für eine ganz vorzügliche klassische Klavierspielerin hielten. Sie und viele große Tonkünstler und Pianisten wie Rubinstein, d’Albert, Friedheim, Reisenauer, Busoni, Sauer und Pruckner haben im Klinckerfuß’schen Hause musiziert. Mit den Gründern des Stuttgarter Königlichen Konservatoriums Lebert, Stark, Faisst, Pruckner und Singer standen die Klinckerfuß‘ „in lebhafter Fühlung.“ Vor allem aber auch kamen die schwäbischen Dichter zu Besuch, die hier genauso wie im nahegelegenen Hartmann-Reinbeck’schen Haus in der Friedrichstraße, einem der wenigen Stuttgarter Literarischen Salons, willkommen waren: Wilhelm Hauff, Justinus Kerner, Eduard Mörike, Gustav Schwab, Wilhelm Raabe. Selbst Johann Wolfgang Goethe hatte rund 100 Jahre vorher beide Häuser und seine Bewohner besucht.
Apollo Klinckerfuß war der Sohn von Henrietta Emilia Berrer aus Stuttgart, 1807–1888, und des seit 1832 mit ihr verheirateten Ebenisten Johannes Bernhard Klinkerfuß aus Nauheim, (damals schrieb er sich noch nicht mit ck),1801–1859, aus dessen vom Onkel Johannes Klinkerfuß, 1770–1831 und dessen Ehefrau, der Hofschreinerstochter Juliana Charlotta Schweickle, 1774–1844, geerbten Hofschreinerei die bedeutende Stuttgarter Kunstmöbelproduktion des 19. Jahrhunderts erwuchs. Der Vater hatte die Firma durch Instrumentenbau erweitert und 1832 (zuerst in der Kanzleistraße 15) mit der Gründung der Pianofortefabrik gekrönt. Der nachfolgende Sohn und spätere Gatte Klinckerfuß‘ hatte nicht nur an der Technischen Hochschule Stuttgart Architektur studiert, sondern auch Komposition am Stuttgarter Konservatorium. Die Firmengebäude samt Wohnhaus, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, lagen seit 1819 in der Kanzleistraße 18, heute Willi-Bleicher-Straße, und waren seit 1859 im Besitz von Apollo Klinckerfuß, der dort auch die Bechsteinvertretung in Deutschland und Europa innehatte.
„Einen Gegensatz zwischen der Welt der holden Kunst und der des trauten Heims konnte sie nicht empfinden“ so Prälat Dr. Hoffmann bei seiner Trauerrede bei der Beerdigung Klinckerfuß‘: „Es war wie ein Sinnbild, dass sie im Konzertsaal auf dem Flügel spielte, der sonst in ihrem Hause stand. Beides gehörte ganz zusammen. Wie haben in Kunstfreude und Menschenliebe der feinsinnige Mann mit dem stillen Leuchten in den Augen und die feurige Frau mit der noch im Alter strahlenden Jugendlichkeit sich gefunden und ergänzt!“ Dass sie mit dem 1923 verstorbenen Gatten nicht mehr ihre Goldhochzeit feiern konnte, war tragisch für sie. Diese befürchtete Einsamkeit bei ihrem 70sten Geburtstag blieb ihr durch den eigenen, ein Vierteljahr vorher erfolgten Tod erspart. Die musisch hochbegabten fünf Kinder „führte der Vater“ laut Hoffmann, „in alle Schönheit unseres Landes und der bildenden Künste, so die Mutter auf alle Höhen der Musik und in ihre Tiefen.“
Die wohlgestaltete und ausdrucksstarke Klinckerfuß war aus vollem Herzen Künstlerin, Lehrerin und Mutter, die in der Atmosphäre ihrer Kunst aufging und sie lebendig vermittelte: So veranstaltete sie z. B. ab 1880 historische Musikabende im echten Rokokokostüm und spielte dabei aus alten Handschriften und Erstdrucken, von denen ihr Gatte eine reichhaltige Sammlung besaß. Für wohltätige Zwecke konzertierte sie während 60 Jahren in Krankenhäusern, Kinderküchen, Rote-Kreuz-Veranstaltungen und Altersheimen und förderte andere Künstler.
Doch vom Schicksal geschont werden auch die Klinckerfuß‘ nicht: Im Ersten Weltkrieg werden die drei Söhne einberufen und die Tochter Margarete als Johanniterschwester in Kriegsdienst gestellt und erleiden Verwundungen, die sie ihr weiteres Leben beeinträchtigen. Im November 1918 schlagen gar verirrte „Revolutionskugeln ins Haus“. Die Notzeiten in der Nachkriegszeit und dann 1920 der Tod der jüngsten Tochter Inge während ihrer zweiten Schwangerschaft drücken die Eltern nieder. Die Musik bleibt jedoch ihr Halt. Am Ende scheint auch der Zeitpunkt von Klinckerfuß‘ Tod stimmig: Nach einem Orgelkonzert in der Ludwigsburger Garnisonskirche, das der mit ihr befreundete junge Pianist Wilhelm Kempf auf ihren Wunsch hin mit Richard Wagners Parsifal Vorspiel, in Tonwogen schwelgend, beendet hatte, erleidet sie auf dem Ludwigsburger Bahnhof, immer noch erfüllt und begeistert von der gerade gehörten Musik, einen Herzanfall. Im Beisein ihrer Tochter Margarete stirbt die 69-jährige in der Nacht des 12. Dezembers 1924 im Sanitätsauto auf dem Weg nach Stuttgart. Sie wird im heute noch vorhandenen Familiengrab im Fangelsbachfriedhof Stuttgart beigesetzt.
Quellen: Familienregister Standesamt Stuttgart; Fangelsbachfriedhof Stuttgart, Grabfolge III – 2, 21/22, 907/ 908; Familienstammbaum Klinckerfuß im Privatbesitz; Staats- und Unibibliothek Carl von Ossietzky Hamburg; StadtA Stuttgart; WLB Stuttgart: NL Margarete Klinckerfuß, cod. Hist. 4º 333b, 94, cod. hist. 4º 696.
Nachweis: Bildnachweise: DLA Marbach; Kunstmuseum Stuttgart: Gemälde des Sohnes (Hans Apollo) Bernhard Klinckerfuß; Margarete Klinckerfuß, Aufklänge aus versunkener Zeit, 1947; StadtA Stuttgart: Gemälde Klinckerfuß, Henriette von Martens 1883, B 9761, Holzschnitt Klinckerfuß, in: „Über Land und Meer“, Stuttgarter Musikfest 1885, B 6192; Scherenschnitte in: Hermann Ziegler, Friedhöfe in Stuttgart, Bd. 5, 1993; WLB Stuttgart.

Literatur: N. N. Hofrat Apollo Klinckerfuß zum 80. Geb., in: Schwäbische Kronik des Schwäbischen Merkur, Morgenblatt, 9.12.1920, Nr. 561; N. N., Nachruf Johanna Klinckerfuß, in: Süddeutsche Ztg., 15.12.1924, Nr. 545; O. K., Zum Tode Johanna Klinckerfuß, in: Schwäbische Kronik des Schwäbischen Merkur, 15.12.1924, Nr. 305; ThB, Bd. 20, 1927; Margarete Klinckerfuß, Aufklänge aus versunkener Zeit, 1947; Hermann Werner, Schwäbinnen in der Geschichte, 1947; Riemann Musik Lexikon, Bd. 1, 1959; Vollmer, Bd. 3, 1959; N. N. Apollo Klinckerfuß zum 125. Geburtstag, Stuttgarter Nachrichten, 11.12.1965, 20; Wilhelm Kohlhaas, (Hg.), Chronik der Stadt Stuttgart, 1918–1933, Bd. 17, 1966, 326, 329; Hamburger Tonkünstlerlexikon, 1983; Gert K. Nagel, Schwäbisches Künstlerlexikon vom Barock bis zur Gegenwart, 1986; Robert Uhland, (Hg.), Das Tagebuch der Baronin Eveline von Massenbach, Hofdame der Königin Olga von Württemberg, 1987; Heinrich Ihme, (Hg.), Südwestdeutsche Persönlichkeiten, 1988; Bruckmanns Lexikon der Münchner Kunst, Münchner Maler im 19. und 20. Jh., 1993; Paul Sauer, Geschichte der Stadt Stuttgart. Vom Beginn des 18. Jh.s bis zum Abschluss des Verfassungsvertrages für das Königreich Württemberg 1819, 1995, 229, 332; Hermann Ziegler, Friedhöfe in Stuttgart, Bd. 5, 1993.
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