Hemmerich, Peter Erwin Leonhard 

Geburtsdatum/-ort: 30.12.1929; Frankfurt a. M.
Sterbedatum/-ort: 03.10.1981;  Konstanz
Beruf/Funktion:
  • Biochemiker, Hochschul-, Kommunal- und Umweltpolitiker
Kurzbiografie: 1936-1939 Drei Vorschulklassen in Frankfurt a. M.
1948 Abitur am Landschulheim Birklehof, Hinterzarten
1948-1956 Studium an den Universitäten Freiburg und Basel
1957 5. Mär. Dr. phil. nat.: „Synthesen in der Lumiflavin-Reihe“
1963 Habilitation: „Über Flavin-Metall-Komplexe als Modelle der Metallflavoenzyme“; Probevorlesung „Struktur und theoretische Bedeutung der Edelgas-Verbindungen“
1967 Jun. ordentlicher Professor für Biologie an der Universität Konstanz; Antrittsvorlesung: „Anorganische Aspekte des Lebens“
1978 Mitglied des Konstanzer Gemeinderats – SPD
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1957 (Bremen) Anne, geb. Hirschfeld (geb. 1934)
Eltern: Vater: Franz Emil Heinrich (1900-1960), Kaufmann
Mutter: Erna, geb. Haurand (1900-1966)
Geschwister: Ulrich (1942-1998)
Kinder: 3:
Stefan (geb. 1958)
Andreas (geb. 1959)
Christiane (geb. 1964)
GND-ID: GND/1012379760

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 140-143

Hemmerich entstammte einer kaufmännischen Familie. Seine Kinder- und Schuljahre verbrachte er in Frankfurt am Main, wo er das humanistische Lessing-Gymnasium besuchte. Wegen der Kriegsumstände zog die Familie in den Schwarzwald um. Im Frühjahr 1944 absolvierte Hemmerich das letzte Halbjahr der 5. Gymnasialklasse am humanistischen Landschulheim Birklehof zu Hinterzarten. Nach anderthalbjähriger Unterbrechung der Ausbildung aufgrund der Kriegsereignisse trat Hemmerich im Januar 1946 in die Obersekunda des wiedereröffneten Birklehofs ein und bestand im Sommer 1948 das damals für die französisch besetzte Zone Deutschlands eingeführte Zentralabitur zu Freiburg.
Im Wintersemester 1948/49 immatrikulierte sich Hemmerich an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg mit der Absicht, Chemie zu studieren. Da er infolge des kriegsbedingten Mangels an Laborplätzen kein chemisches Praktikum belegen konnte, besuchte Hemmerich aber hauptsächlich mathematische Vorlesungen und wechselte nach zwei Semestern, im November 1949, nach Basel. Hier absolvierte er die Vorexamina in anorganischer und organischer Chemie, sowie in Farbenchemie, ebenso die Nebenfachexamina in physikalischer Chemie, Physik und Mathematik. Von Juni 1954 bis Dezember 1956 bereitete Hemmerich seine Doktorarbeit vor und promovierte im März 1957 summa cum laude. Sein Doktorvater, Hans Erlenmeyer, widmete sich der sog. „anorganischen Biochemie“, und Hemmerich blieb, von Anfang bis Ende seiner Tätigkeit, diesem Forschungsgebiet treu. Während der Jahre 1957 bis 1967 arbeitete Hemmerich als Forschungsstipendiat des Schweizerischen Nationalfonds an dem Projekt „Struktur und Funktion biologischer Metallkomplexe“ am Institut für Anorganische Chemie der Universität Basel. Nach der Habilitation erhielt Hemmerich 1964 einen Lehrauftrag für anorganische Chemie. Anfangs der 1960er Jahre knüpfte er internationale Verbindungen und begann eine rege Zusammenarbeit mit Amsterdam, dann Stockholm (1963); an der University of Wisconsin, USA, war er 1964 „Research Associate“, 1965 dort und an der University of California, San Francisco, „Visiting Associate Professor“. Er nahm auch an zahlreichen internationalen Fachversammlungen teil, als Vortragender und als lebhafter Diskussionsredner, der immer die Besprechung offener Fragen und das Suchen nach Wahrheit leidenschaftlich stimulierte.
Bereits 1960 trat Hemmerich auch öffentlich in Erscheinung: Er publizierte in „Die Zeit“ – noch anonym – eine Reihe von vier sehr kritischen Artikeln über das Chemiestudium in Deutschland, die scharfe Reaktionen weckte. Von da an schrieb Hemmerich regelmäßig Zeitungsartikel, insbesondere über Hochschulpolitik und trat so gegen die Trennung der traditionellen Disziplinen ein, die er „Pfründen“ für Professoren nannte. Als Pressevertreter nahm Hemmerich an der Einweihung des Instituts für Genetik von Max Delbrück in Köln teil und lernte diesen Gelehrten kennen. 1965 kam Delbrück als Gastprofessor an die neue Universität Konstanz und empfahl Hemmerich für den Lehrstuhl Biologie.
So kam Hemmerich nach Konstanz. „Konstanz und den Bodensee erlebte er als seine Wahlheimat“, so seine Witwe; er gehörte im Mai 1967 zu den ersten drei Naturwissenschaftlern an der neuen Universität und war Mitbegründer der Naturwissenschaftlichen Fakultät, deren zweiter Dekan er wurde; nachdem sie 1979 in vier Fakultäten aufgeteilt wurde, gehörte Hemmerich zur biologischen Fakultät. Seine innere Neigung, unkonventionell zu handeln, leistete dabei der Universität große Dienste. 1968 bis 1977 war Hemmerich Mitglied des Ausschusses für Nachwuchsförderung, zugleich Habilitationskommission; von 1974 bis 1977 war er auch Mitglied des Großen Senats.
Der Wissenschaftler Hemmerich genießt als Begründer der Flavin-Chemie weltweite Autorität; kurz vor seinem Tod wurde er zum Nobelpreis vorgeschlagen. Sein Hauptobjekt waren sogenannte Flavine und verwandte Verbindungen – natürliche gelbe Farbstoffe mit einem besonderen Ringsystem als Kern ihrer Struktur; dazu gehören Bestandteile des Vitamin-B2-Komplexes und mehrere Dutzend Enzyme der Redoxprozesse. Neben seinem Schwerpunkt Flavin-Chemie veröffentlichte Hemmerich auch bedeutende Artikel über die Biochemie des einwertigen Kupfers und über stabile Radikale in biologischen Systemen und Mechanismen des biologischen Mehr-Elektronen-Transfers. Hemmerich schrieb insgesamt um die 170 Aufsätze und bemühte sich in seinen Forschungen, chemische, biologische und physikalische Aspekte, also die interdisziplinäre Natur des jeweiligen Problems, zu integrieren. Charakteristikum von Hemmerichs Vorgehen war es, chemische „Modellstudien“ mit Bezug auf biologische Systeme einzuführen mit dem Ziel, „die Vorgänge an den aktiven Zentren biologischer Makromoleküle chemisch zu verstehen und zu interpretieren und damit letztlich vorauszusagen.“ Dank der Einfachheit der Modellsysteme – im Vergleich mit den reellen biologischen Systemen – gestattete diese Methode, viel Neues über den Zusammenhang von chemisch-physikalischer Struktur und physiologisch-chemischer Wirkung der Flavoproteine (Vitamin-B2-abhängige Enzyme) zu entdecken.
Neben der wissenschaftlichen Arbeit engagierte sich Hemmerich weiterhin öffentlich, wollte vor allem „Lobbyist von Mutter Natur“ sein. Seit 1975 gehörte er der Regionalkommission der Gesamthochschulregion Bodensee-Oberschwaben an und war dort seit 1976 in der Fachkommission Ökologie/Umwelttechnik. 1978 wurde Hemmerich in die SPD-Fraktion des Konstanzer Gemeindeparlaments gewählt. Er begründete und leitete ferner die „Internationale Schutzgemeinschaft Bodensee“, die Gruppierungen aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich bündelte, sich nach Hemmerichs Tod aber auflöste. Hemmerich schrieb mehrere Dutzend Zeitungsartikel, vor allem über Hochschul- und Umweltschutzfragen. Ab 1974 publizierte er im Konstanzer „Südkurier“ zuerst monatlich, später wöchentlich eine Kolumne über Umweltsünden und -probleme; diese Reihe zählt 64 Artikel, welche ein gewaltiges Echo auslösten. Hemmerich war der Ansicht, dass ein Hochschulprofessor verpflichtet sei, wegen der Unabhängigkeit, die er genießt, den Finger auf Missstände zu legen, was andere, von allen möglichen Dingen abhängige Leute oft nicht wagen könnten. Er war rastlos tätig, lehrte, forschte, organisierte, schrieb Hunderte von Briefen; wie seine Witwe schreibt, „brannte er an zwei Enden“.
Schon verurteilt zum baldigen Krebstod und unfähig zu arbeiten, zeichnete Hemmerich während der letzten Wochen seines Lebens Erinnerungen über seinen wissenschaftlichen Weg auf Tonband auf. Er nannte sich damals „Glückspilz“, da er in seinem Leben alles, was er wollte, erreichen konnte. Seine Erholung hatte er bisher beim Skifahren, Wandern, Segeln, und auf der Jagd gefunden; „mit Inbrunst“ pflegte er auch seinen Garten. Als Mensch war Hemmerich aber durchaus nicht unkompliziert: Ehrgeizig und scharf kämpfte er immer kompromisslos für die Dinge, die er für richtig hielt; das brachte ihm viele Freunde, aber auch Feinde ein. „Für ihn gilt vollumfänglich der Satz: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“, kommentierte seine Witwe.
Quellen: StA des Kantons Basel-Stadt UA XI A 4,4, Promotionsakte Hemmerich, ED-REG 1a, 3, Habilitationsakte, Auskunft vom 29. 7. 1999; UA u. StadtA Konstanz, Auskünfte; Informationen seiner Witwe A. Hemmerich.
Werke: (mit S. Fallab u. H. Erlenmayer), Synthesen in d. Lumiflavinreihe, in: Helvetica Chimica Acta 39, 1956, 1242-1252; Wie man in Deutschland Chemie studiert, in: „Die Zeit“ Nr. 24-27, 1960; Fortschritte in d. Chemie u. Molekularbiologie d. Flavine u. Flavocoenzyme, in: Angew. Chemie 77, 1965, 699-716; Model Studies on the Binding of Univalent and Redox-Active Copper in Proteins, in: The Biochemistry of Copper, J. Peisach et al. (Eds.) 1966, 15-34; Anorganische Aspekte des Lebens, Konstanzer Universitätsreden, 1968; Zur Flavin-abhängigen O2-Activierung, in: Biochemie des Sauerstoffs, 1968, 249-261; Die Bedeutung freier Radikale in d. Biologie, in: Umschau 72, 1972, 5658; Chemische Modellstudien zum Mechanismus d. Flavin-abhängigen biologischen Redox-Reaktionen, in: Chimia 72, 1972, 149 f.; (mit F. Müller), Flavin-O2 Interaction Mechanisms and the Function of Flavin in Hydroxilaton Reactions, in: Ann. of the N. Y. Acad. of Science 212, 1973, 13-26, 463-467; Bio(an)organische Chemie: (Standes)politische Gedanken zu einem „interdisziplinären“ Vortrag, in: Nachrr. aus Chemie u. Technik 23, 1975, 435-438; The Present Status of Flavin and Flavocoenzyme Chemistry, in: Fortschritte d. Chemie organischer Naturstoffe 33, 1976, 451-527; Bio(an)organische Chemie in Konstanz, in: Gebremste Reform, Hemmerich R. Jauss, Hemmerich Nesselhauf (Hgg.), 1977, 319-328; Modes of Redox-Transport by Proteins: „Hydride“ and „Carbanion“ versus Electron Transport, in: Transport by Proteins, G. Blauer, Hemmerich Sund (Eds.), 1978, 123-149; (mit V. Massey), Artificial Flavins as Active Site Probes of Flavoproteins, in: Flavins and Flavoproteins, Proc. 7th Intern. Symposium, Amsterdam, 1982, 83-96; An Eventful Life Around Flavins, Selected Topics in the History of Biochemistry: Personal Recollections, in: Comprehensive Biochemistry 36, 1986, 412-436.
Nachweis: Bildnachweise: Konstanzer Univ. Ztg. 15/16 vom Juni 1967, 3 u. 97/98 vom Dezember 1981, 2; Konstanzer Bll. für Hochschulfragen Jg. 8, Hemmerich 3, 1970; Südkurier Konstanz vom 5.10.1981.

Literatur: Forschungsberr. d. Univ. Konstanz, 1968-1979 (5 Ausgaben, mit Bibliographie); Horst Sund, P. Hemmerich zum Gedächtnis, Konstanzer Univ. Ztg. 97/98 vom Dez. 1981, 2 u. Uni-Info Konstanz 113 vom 16.10.1981, 25 f.; Brigitte Bergmann, Brücke zwischen Universität u. Region: P. Hemmerich, in: Arbeitsberr. Ökologie/Umwelttechnik 5, 1981, 7-10; Konstanz war für ihn ein Glücksfall, in: Uni-Info Konstanz 120 vom 16.7.1982, 13-15; Brigitte Ritter-Kuhn, Persönlichkeiten im Umweltschutz: P. Hemmerich in memoriam, in: Leben am See, Heimatjahrb. des Bodenseekreises 9, 1991, 230-234.
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