Reis, Sofie 

Geburtsdatum/-ort: 03.12.1867
Sterbedatum/-ort: 26.05.1930;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Lehrerin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin der württ. bürgerlichen Frauenbewegung
Kurzbiografie: ab 1873 Besuch der Volksschule und zum Ausbildungsabschluss des „Höheren Stuttgarter Lehrerinnenseminars“, übt jedoch den Beruf der Lehrerin nicht aus
seit ca. 1885 Vereins- und Pressearbeit in unterschiedlichen Vereinen und Zeitungen der bürgerlichen Frauenbewegung in Stuttgart
1895 Gründung der „Frauenlesegruppe“, des späteren „Literarischen Klubs“
1898 Mitgründerin und Mitarbeit im „Schwäbischen Frauenverein“, Abteilung Frauenstudium/Frauenbildung, Leiterin der Rechtsschutzstelle für Frauen
1890 Mitbegründerin des „Württ. Lehrerinnenvereins“, und des „Vereins freier Krankenpflegerinnen“
1900 Mitbegründerin und Schriftführerin der Stuttgarter Abteilung des „Vereins Frauenbildung und Frauenstudium“
1901 Mitbegründerin des „Verbands württ. Frauenvereine“
1908 zusammen mit Mathilde Planck Gründerin des „Stuttgarter Frauenklubs“, eines überparteilichen Verbandes Stuttgarter Frauenvereine
1919 Referentin der Frauenabteilung der Volkshochschule Stuttgart
ab 1920 krankheitsbedingter langsamer Rückzug aus allen ihren Aufgaben
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr./ohne Religionszugehörigkeit
Eltern: Vater: Louis Reis (* 5.12.1824 Niederstetten, † 21.10.1901 Stuttgart), Kaufmann, Manufakturwarenhandel en gros, Königstraße 10 in Stuttgart
Mutter: Ella, geb. Lismann (* 1.7.1835 Büdingen/Hessen, † 10.12.1892 Stuttgart), Eheschließung 27.8.1854 (Mannheim)
Geschwister: 8: Joseph (* 2.10.1856 Stuttgart, † 17.10.1890 Stuttgart) Kaufmann, Privatier; August (* 19.8.1859 Stuttgart, † 20.1.1900 Winnental); Ottilie (* 24.2.1861 Stuttgart, † 4.12.1879 Stuttgart); Simon Siegfried, seit 1938 Beiname Israel (* 20.2.1862); Wilhelm (* 9.3.1863 Stuttgart, † 2.3.1868 Stuttgart); Richard (* 26.2.1864, † 26.2.1938), Dr. jur. Rechtsanwalt seit 1891, 1904–1910 Gemeinderat in Stuttgart, Vorstand der Anwaltskammer, verh. 25.2.1890 (Stuttgart) mit Auguste Kahn (* 25.10.1875 Stuttgart, † 3.10.1948 Louisville, Kentucky, USA); Helene (* 19.3.1865 Stuttgart, † 28.6.1938 Stuttgart), Waisenpflegerin, „Netzwerkerin“ der württ. bürgerlichen Frauenbewegung; Otto (* 9.12.1866 Stuttgart), Ausreise am 7.9.1883 nach Nordamerika), Buchbinder
GND-ID: GND/1012383792

Biografie: Mascha Riepl-Schmidt (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 225-228

Frauenbildung und Frauenstudium gehörten zu den vorrangigen politischen Ansatzpunkten vor allem der bürgerlichen Frauen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts über Ausbildung und Beruf ihre Selbständigkeit erringen wollten, denn das „Geheiratetwerden“ als Lebensversorgung war schwierig. Dieses Lebensziel entsprach aber auch nicht mehr den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und der realen Verteilung der Erwerbsarbeit. Deshalb waren im deutschen Kaiserreich und dann in der Weimarer Republik die Benachteiligungen für Frauen besonders innerhalb der Bildungspolitik ein Dauerthema für unzählige Eingaben, Schreiben und Aufsätze. Die bildungspolitischen Sprecherinnen der sozialistischen und bürgerlichen Frauenbewegungen waren dabei aufgrund ihrer Ausbildung und ihres familiären Hintergrunds meistens privilegiert. Dies gilt auch für die beiden eng verbundenen Schwestern Reis, die sich ihr ganzes Erwachsenenleben lang für verbesserte Ausbildungs- und Berufschancen für Frauen eingesetzt haben. Über ihre Leben außerhalb ihrer Vereinsarbeit, die sie im deutschen Inland auch durch Reisen über die lokalen Grenzen hinaus vernetzten, kann jedoch wenig berichtet werden. Eine Nachlassverwalterin hatten sie nicht und zudem haben die dunklen Schlaglichter der aufkeimenden Nazidiktatur ihr Lebensende verdunkelt und die Erinnerung an sie fast verhindert. Im Familienverband der assimilierten, tolerant kulturorientierten jüdischen Großfamilie Reis garantierten die beiden Schwestern jedoch die traditionell vorgegebene weiblich unterstützende Rolle im Hintergrund – Tante Hellas ist dem amerikanischen Großneffen Michael Rice mit ihrem Hörrohr noch in guter Erinnerung – und obwohl sie auch öffentlich in Erscheinung traten, geschah dies doch nur in der Nische frauenemanzipatorischer Ziele. Selbst von den heute noch lebenden Zeitzeugen des in der Kommunalpolitik Stuttgarts tätigen Bruders, des Rechtsanwaltes Dr. Richard Reis, werden sie nicht erinnert und dies trotz des seit Ende des Ersten Weltkrieges erkämpften Frauenwahlrechts und des damit verbundenen gesellschaftlichen Wandels in Richtung Gleichberechtigung von Mann und Frau. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass ein frauenpolitisches Engagement in dieser Zeit keine gesellschaftliche Priorität hatte und immer noch Außenseitertum bedeutete.
Doch es gibt gut versteckte Hinweise: Eine besondere Koinzidenz in frauenpolitischen Zusammenhängen existiert sogar bis heute: Die beiden Schwestern wohnten und arbeiteten jahrelang in einer gemeinsamen Wohnung im dritten Stock der Johannesstraße 13 in Stuttgart und in diesem Gebäude hat seit 1978 das Frauencafé und Kulturzentrum „Sarah“ sein Zuhause – ein Forum, das der „Neuen Frauenbewegung“ nach 1968 seine Entstehung verdankt.
In den Jahrbüchern des Bundes deutscher Frauenvereine von 1912 bis 1931, in Informationssammlungen der bürgerlichen Frauenbewegung also, sind die beiden Schwestern immer wieder als Vertreterinnen von frauenpolitischen Aktivitäten genannt: Helene Reis wird unter anderem auch als Delegierte der „Frauenlesegruppe“ in der Büchsenstraße 36 und in der Johannesstraße 13 (176 Mitglieder) und des „Vereins Frauenbewegung“ (160 Mitglieder) genannt. Sofie Reis als jahrelange Leiterin der Rechtsschutzstelle für Frauen, die eng mit dem Arbeitsamt zusammenarbeitete – die Einführung der weiblichen Berufsberatung ist unter anderem ihr zu verdanken. Sie wird zusammen mit einer der wichtigsten „frauenbestrebten“ Frauen Württembergs, der Lehrerin, Frauen- und Friedenspolitikern Mathilde Planck,1861–1955, als Mitbegründerin des „Württembergischen Lehrerinnenvereins“, genannt, ist Gründerin des „Vereins freier Krankenpflegerinnen“ und des „Stuttgarter Frauenklubs“. Als Schriftführerin der Abteilung Stuttgart des „Vereins Frauenbildung-Frauenstudium“ unterschrieb sie z. B. die Eingabe an das Ministerium für Kirchen- und Schulwesen des Königreichs Württemberg vom 27.2.1904. Diese Bitte um Zulassung weiblicher Studierender zur Immatrikulation an der Universität Tübingen ist auch von der damaligen Vorsitzenden des Vereins Mathilde Planck unterzeichnet. Das Ersuchen war erfolgreich und so konnten sich drei der ersten vier württembergischen Abiturientinnen mit Genehmigung des württembergischen Königs Wilhelm II. 1904 in Tübingen als „ordentliche“ Studentinnen einschreiben. Sie waren Absolventinnen des 1899 in Stuttgart von Gertrud Schwend, geb, von Uexküll-Güldenband [sic!], 1867–1901, gegründeten „Ersten Württembergischen Mädchengymnasiums“ (heute Hölderlingymnasium) mit humanistischer Ausrichtung. Die Stuttgarter Filiale des bildungsreformierend ausgerichteten „Vereins Frauenbildung-Frauenstudium“ war zur Unterstützung dieser Schule gegründet worden. Außerdem war Sofie Reis äußerst willkommen als Mitarbeiterin im „Schwäbischen Frauenverein“ in der Abteilung Frauenstudium/Frauenbildung und als Referentin der 1919 eröffneten Frauenabteilung der Volkshochschule Stuttgart, die Kurse und Vorträge „nur“ für Frauen anbot.
Über den familiären Hintergrund und das emsige frauen- und kulturpolitische Zusammenarbeiten der beiden Schwestern, die einer bekannten, wohlhabenden Stuttgarter Kaufmannsfamilie entstammen, – das väterliche Warenhaus lag in bester Stuttgarter Geschäftslage zuerst in der Schmalestraße 13 und dann bis 1892 in der Köngistraße 10 – berichtet die politische Gefährtin und langjährige Freundin Mathilde Planck, die als Mitglied der DDP von 1919 bis 1928 eine der wenigen ersten weiblichen Landtagsabgeordneten Württembergs ist. In ihren „Worten des Abschieds am Grabe Sofie Reis‘“ beschreibt sie 1930 die jüngste Tochter von neun Kindern als aufgeweckte, wissensdurstige Frau, die eine fröhliche Kinder- und Jugendzeit verbracht hat. Sie nennt sie zurückhaltend, überlegt und tolerant und meint, dass die „Gewöhnung an wissenschaftliche Arbeit“ ihr erleichtert habe, „sich in die verschiedenen Seiten der Frauenfrage, die volkswirtschaftliche, die juristische und nicht zuletzt die ethische, aufs Gründlichste einzuleben.“ Und: „In den Mußestunden und Ferienzeiten konnte sie mit der ihr innig nahestehenden Schwester sich an den Schöpfungen der Kunst erfreuen. Sie fühlte sich von der Liebe der Geschwister umgeben und in einem gleichgesinnten und gleich strebenden Freundeskreis wurden Anregungen ausgetauscht.“ Die „erschütternden und so unsagbar traurigen Erlebnisse des Weltkrieges haben ihr viel Kraft genommen“ stellt Planck fest. Die langdauernde Krankheit, die nicht näher beschrieben wird, machte sie angeblich nicht bitter. „Den Weg der selbständigen, ihrem Gewissen verantwortlichen Frau“ sei die Verstorbene gegangen. Unter großer Anteilnahme auch vieler teilnehmender Vereinsfrauen wurde Sofie Reis zur letzten Ruhe begleitet. Beigesetzt wurde sie am 28.5.1930 nicht wie ihre Eltern und ihre ältere, achtzehnjährig verstorbene Schwester Ottilie auf dem Israelitischen Teil des Stuttgarter Pragfriedhofs, sondern auf der Seite des Hauptfriedhofs in einem Urnengrab, in dem 1938 dann auch ihre Schwester Helene bestattet werden sollte. Das Grab ist aufgelöst.
Wie die Schwester Helene mit dem Tod der geliebten Schwester umging, ist nicht zu erfahren. Sie hat laut Stuttgarter Adressbuch noch bis 1936 in der Johannesstraße 13 gewohnt, ist dann 1937 in der Johannesstraße 23 und 1938 in der Gänsheidestraße 49 verzeichnet. Ihre letzte Adresse wird im Stuttgarter Adressbuch 1938 als „Altersheim der Veronikaschwestern“ aufgeführt. Die 73-jährige – auf dem Foto ihres württembergischen Passes von 1932 gütig freundlich blickende, ältere bebrillte Dame, deren Musik- und Literaturbegeisterung überliefert ist – wohnte dort wohl wie die anderen damaligen elf Bewohner aus Altersgründen und nicht aus Zwang. Doch zeugt in einer leeren Karteikarte ohne Adressenangabe im Restbestand des Melderegisters Stuttgarts der klotzige Stempelaufdruck „Jude“ davon, dass ihr Leben nicht mehr nur von frauenpolitischer Ausgrenzung bedroht war, sondern vernichtet werden sollte. Es bleibt zu hoffen, dass sie „Glück“ hatte und eines natürlichen Todes sterben durfte. Ihre Schwägerin Auguste (Gustel) Kahn, die mit Helenes Bruder Richard, Rechtsanwalt, von 1904 bis 1910 Gemeinderat in Stuttgart und Vorstand der Anwaltskammer, verheiratet gewesen war, wurde 1942 zusammen mit ihrer Tochter Dr. Ella Kessler-Reis (1890–1944) nach Theresienstadt deportiert. Im Dezember 1944 durch einen Lastwagentausch mit der Schweiz befreit, emigrierte sie nach Kriegsende im Juni 1946 zu ihrer Tochter Dora Rice (1901–1980) nach Louisville, USA. Ella Kessler-Reis dagegen wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.
Ein öffentlicher Nachruf auf Helene Reis ist angesichts der Frauenpolitik der Nazis nicht vorhanden. Die Frauenvereine, denen Helene Reis angehört hatte, hatten sich 1933 nicht gleichschalten lassen, mussten sich deshalb auflösen und das Vereinsvermögen abtreten. Sie existierten nur noch im Verborgenen und hatten keine Möglichkeit mehr, sich öffentlich zu äußern.
Quellen: Familienregister Standesamt Stuttgart, StadtA Stuttgart; HStAS: NL Vera Vollmer; StAL, Polizeipräsidium Stuttgart, Passakten Stuttgart, Sofie Reis 1916/20, F 201 Bü 487; Jb. der Frauenbewegung, im Auftrag des Bundes deutscher Frauenvereine, hg. von Elisabeth Altmann-Gottheimer 1913; Frauenberufsfrage und Bevölkerungspolitik, Jb. des Bundes Deutscher Frauenvereine 1917, hg. von Elisabeth Altmann-Gottheimer, 1917; Jb. des Bundes Deutscher Frauenvereine 1918, Frauenaufgaben im künftigen Deutschland, 1918; Jb. des Bundes Deutscher Frauenvereine, Handbuch der kommunal-sozialen Frauenarbeit, hg. von Elisabeth Altmann-Gottheimer, 1919.
Werke: Frauenbildung-Frauenstudium, Hauptversammlung vom 8.– 10. Mai in Kassel, in: Frauenberuf, 17.3.1902, 121 f.; Die Juristin, in: Frauenbuch, Eugenie von Soden (Hg.), 1913, 91; Frauenbildung-Frauenstudium, Frauenberuf, Stuttgart 16.5.1903, 118–121; Einiges von der Allgemeinen öffentlichen Berufsberatungsstelle für Mädchen und Frauen in Stuttgart, in: Die Frauenwacht, 27.1.1916, 36 f.
Nachweis: Bildnachweise: Passakten Stuttgart, StAL, siehe Quellen; PrivatA Michael Rice, Delmar N.Y., USA.

Literatur: Mathilde Planck, Worte des Abschieds: gesprochen an der Bahre von Sofie Reis am 28. Mai 1930 in Stuttgart, 1930; dies., Trauer um Sofie Reis, in: Vom Sinn des Lebens, 1947, 193–199; Alfred Marx, Das Schicksal der jüdischen Juristen in Württemberg-Hollenzollern von 1933–1945, 1965, 7; Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, Stadt Stuttgart (Hg.), 1965; Joachim Hahn, Friedhöfe in Stuttgart, Pragfriedhof Israelitischer Teil, 1992, 174 f.; Maja (d. i. Mascha) Riepl-Schmidt/Vera Vollmer, Sofie Reis, Helene Reis, Frauenbildung und Frauenstudium, in: dies., Wider das verkochte und verbügelte Leben, Frauenemanzipation in Stuttgart seit 1800, 2. Aufl. 1998, 183–197; http://www.uni-tuebingen.de/frauenstudium; Doris Neu, Ella Kessler-Reis und Julie Weil, in: Stuttgarter Stolpersteine, Spuren vergessener Nachbarn. Ein Kunstprojekt füllt Gedächtnislücken hg. von Harald Stingele/Die AnStifter, 2006, 131 f.; Mascha Riepl-Schmidt, Mathilde Planck, Für Frieden und Frauenrechte, 2008.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)