Klingele, Alfred 

Geburtsdatum/-ort: 04.06.1858;  Freiburg
Sterbedatum/-ort: 08.02.1947; Ingolstadt
Beruf/Funktion:
  • Landwirt, Pädagoge und Vorläufer von Bürgerbewegungen
Kurzbiografie: Bürgerschule und höhere Bildungsanstalt in Freiburg; Abschluss Kaufmann
1886 USA- Reise
1891 Gründung einer alternativen Kolonie mit Emil Gött auf der Rheinburg bei Gailingen am Hochrhein; Besuch bei Sebastian Kneipp in Wörishofen
1892 Aufbau einer Anstalt für natürliche Erziehung mit angeschlossener Landwirtschaft „Auf der Fluh“ in Säckingen
1893 Gründung eines Tierschutz- und Antivivisektionsvereins; erste Petition beim badischen Landtag gegen den geplanten Bau von Wasserkraftwerken am Hochrhein
1900 Petition gegen das geplante Kraftwerk Laufenburg
1904 Organisation einer Volksbewegung mit spektakulären Aktionen gegen die drohende Monopolisierung der Wasserkraft durch Elektrokonzerne; Einspruch gegen das Kraftwerk Augst-Wyhlen
1906 Petition für die Verstaatlichung der Wasserkräfte in Baden; weitere Aktionen
1909 Umzug nach Ingolstadt aus politischen Gründen
1911 Aufbau einer Existenz als Backofenfabrikant
1912 Aktion in Karlsruhe für eine staatliche Energiepolitik
1915-1917 Eingaben an den Reichstag in Berlin
1917 Gründung einer Ortsgruppe der „Deutschen Vaterlandspartei“ (Tirpitz, Kapp) in Ingolstadt
1920 Treffen mit Adolf Hitler in Passau
1923 Gründung einer Kohlenhandlung
1931 Gründung einer Dampfwäscherei und Plätterei
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1903 Anna Maria, geb. Walter (1881-1949) aus Ihringen
Eltern: Vater: Johann (1823-1886) Kaufmann und Stadtrat aus Freiburg
Mutter: Emilie, geb. Faller (1827-1899)
Geschwister: 4:
Hermine (1855-1902)
Emma (1856-1930)
Oscar (1859-1860)
Emilie (1860-1910)
Kinder: 4:
Hermann (1904-1990)
Helmut (1906-1992)
Thusnelda (1908-1944)
Siegfried (geb. 1919)
GND-ID: GND/1012556867

Biografie: Wolfgang Bocks (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 145-147

In der Debatte um den Stellenwert sowie die soziale und politische Einbettung der neuen Großtechnologie, die mit dem Bau bzw. der Planung von Flusskraftwerken in den 1890er Jahren am Hochrhein entstand, spielte Klingele eine herausragende Rolle.
Geistig stammte er aus der Lebensreformbewegung. Da ihn die Arbeit im Kaufhaus seines Vaters in Freiburg wenig reizte, schloss er sich 1891 den Schriftstellern Emil Gött und Emil Strauß an, um mit ihnen auf der Rheinburg bei Gailingen eine vegetarische Kolonie für alternative Landwirtschaft mit natürlichen Lebensformen zu gründen, scheiterte aber bereits nach vier Monaten. Dennoch hatte Klingele hierbei Impulse für sein weiteres Leben erhalten, indem er sein Interesse an Landwirtschaft mit Vorstellungen einer freiheitlichen Pädagogik verband. Mit dem Verkaufserlös aus dem elterlichen Geschäft erwarb er sich in Säckingen „Auf der Fluh“ ein Grundstück und errichtete dort für Waisenkinder seine „Anstalt für natürliche Erziehung“. Statt „einseitiger Verstandesbildung“ verfolgte er ein ganzheitliches Konzept, in dem die Landwirtschaft im Mittelpunkt stand. In praktischer Arbeit lernten die Kinder den Kreislauf der Natur kennen, folgten eigenen Beobachtungen und Interessen und lernten selbsttätig aus der eigenen Praxis. Diese Orientierung an den Lebens- und Lernbedürfnissen der Kinder lässt bereits einen Hauch von Summerhill spüren. Für Klingele, den Patrioten, der in einer funktionierenden Landwirtschaft die Basis für ein gesundes deutsches Staatswesen sah, waren seine pädagogischen Ideen ein Mittel gegen den allgemeinen Werteverfall und gegen die durch Liberalismus und Sozialismus auseinanderbrechende Gesellschaft. Während er bei seinen Besuchen in Freiburg mit seiner kleinen exotischen Schar unerwünscht war, erhielt er in Basel durch aufgebauschte Pressemeldungen internationale Popularität.
Schon während dieser Zeit hatte sich Klingele intensiv für die ersten Kraftwerkprojekte an Ober- und Hochrhein interessiert. Bereits den Entwurf eines Rheinseitenkanals zwischen Basel und Kaiserstuhl von 1892 hatte er kommentiert. Als dann nach dem Bau des ersten europäischen Flusskraftwerks in Laufenburg bei Rheinfelden 1895 bis 1898 ab 1898 ein weiteres geplant wurde, entstand um den ausschließlich von privaten Elektrokonzernen organisierten und finanzierten Ausbau der Rheinwasserkraft eine breite öffentliche Diskussion, bei der Klingeles Stunde schlagen sollte. Neben einer vom „Schwarzwaldverein“ und vom „Bund Heimatschutz“ angeführten Naturschutzbewegung formierte sich eine breite ökonomisch und politisch orientierte Front, an der das Parlament in Karlsruhe, die Textilindustrie, Handelskammern, Verbände des Handwerks, Landwirte und Kommunen beteiligt waren.
Mit den Plänen für ein Kraftwerk Rheinfelden, hinter denen die AEG stand, und der Stadt Basel, mit den Rheinfeldern in Augst-Wyhlen ein Doppelkraftwerk zu errichten, verschärfte sich die sogenannte Monopoldebatte und führte zu einer regelrechten Volksbewegung. Zwischen dem 25. und 29. April 1904 inszenierte Klingele in Säckingen, Waldshut und Schopfheim fünf Veranstaltungen, in denen er in spektakulärer Form u. a. seine Warnungen vor der Ausbeutung der Wasserkraftreserven durch private Elektrokonzerne vortrug. Klingele hatte diese Aktionen mit dem Abgeordneten Rudolf Obkircher koordiniert, der mit anderen nationalliberalen Mitgliedern der Zweiten Kammer am 26. April eine Interpellation eingereicht hatte, in der eine staatliche Energiepolitik unter Mitwirkung des Parlamentes eingefordert wurde. Eine in Baden und in der Nordschweiz zu gleicher Zeit von Klingele verbreitete Broschüre gegen die „Grundsätze“ der Landesregierung sorgte für zusätzliches publizistisches Echo beidseits des Rheins. Wenn er auch wie ein Volkstribun auftrat, polemisierte und polarisierte, so war er in seinen Forderungen doch eher ein Pragmatiker. Sein Hauptanliegen war es, „die in den öffentlichen Gewässern liegenden Werte der Allgemeinheit zu gute kommen“ zu lassen. Wie viele andere befürchtete er, dass die neuen Kraftwerke ihre Hauptstromkontingente an die mit ihnen kapitalmäßig verflochtenen Großbetriebe der Elektrochemie abgeben könnten. Somit würde eine flächendeckende und preisgünstige Versorgung für mittelständische Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Kommunen mit der „weißen Kohle“ verhindert. Entsprechend forderte er die Wahrung der Interessen der Allgemeinheit in den Konzessionsverträgen, die Verstaatlichung der Kraftwerke sowie eine verbraucherfreundliche, staatliche Energiepolitik. Klingele war seit 1904 zwischen Waldshut, Zürich, Basel und Karlsruhe eine populäre Gestalt geworden, teils angefeindet, gefürchtet oder verspottet, teils aber auch bewundert und respektiert. Es ist sein Verdienst, in einer Zeit, als bürgerlich-demokratische Interessenartikulation gegen Staat und Großindustrie gerade im Entstehen begriffen war, die verschiedenen Stimmungen gebündelt zu haben und zum Wortführer einer regelrechten Volksbewegung geworden zu sein, und es war nicht zuletzt seine immer wieder zu beobachtende demagogische, oft skurrile bis neurotische Art, die dem völlig neuen Thema „Stromversorgung“ einen hohen Grad an Popularität und Publizität verschafft hatte. Selbst seine Gegner mussten einräumen, dass er eine hohe Fachkompetenz besaß. So wurde Klingele in weiten Kreisen zum Synonym für den Kampf der „Kleinen“ gegen die „Großen“. Eine regelrechte Bürgerinitiative zu organisieren, gelang ihm jedoch nicht. Während sich beim Kraftwerk Laufenburg 1905 noch die Interessen der Privatindustrie durchsetzen konnten, bildete die Konzessionierung des Kraftwerks Augst-Wyhlen 1906 einen Wendepunkt, da hier der Staat erstmals regulierend eingriff – ein Teilerfolg für Klingele und die Antimonopolbewegung. Mit der Errichtung des staatseigenen Murgkraftwerks 1913 – einem Vorläufer des Badenwerks –, für das Klingele sich in Karlsruhe noch einmal heftig engagiert hatte, war dann der entscheidende Schritt zur staatlichen Energiepolitik getan.
Klingele hatte 1909 Säckingen verlassen, da die Anfeindungen zu stark geworden waren. In Ingolstadt baute er sich eine neue Existenz auf, zunächst als Backofenfabrikant, dann als Inhaber einer Kohlenhandlung, schließlich einer Dampfwäscherei und Plätterei. Er, der engagierte nationalkonservative Individualist mit seinem ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit, versuchte noch diverse Male durch Eingaben an den Reichstag, an Hindenburg und die Reichskanzler Fehrenbach und Brüning in die Politik einzugreifen. Mit Hitler war er sich 1920 bei einem gemeinsamen Spaziergang in Passau in der Ablehnung des Versailler Vertrages einig. Direkt hat er sich jedoch nicht mehr eingemischt und war nach den greifbaren Unterlagen auch nicht NSDAP-Mitglied.
Werke: Programmatische Artikel über Energiepolitik im Säckinger Tagblatt vom 28. 4., 3. 5., 10. 5., 17. 5., 9. 6., 1. 11. u. 19. 11. 1904; Sind die Grundsätze d. großherzogl. Regierung bei Vergebung d. Wasserkräfte am Oberrhein im beiläufigen Werte von 50 Mio. Mark an auswärtige Spekulanten die richtigen? Gewissensschrei eines Vaterlandsfreundes, 1904; Wohin gehen wir? Gewissensschreie eines Einsamen!, 1933.
Nachweis: Bildnachweise: bei Schupp 1992 u. Bocks, 1994 (vgl. Lit.).

Literatur: Volker Schupp u. Emil Gött. Dokumente u. Darstellungen zu Leben, Dichtung u. früher Lebensreform, Literar. Topographie 2, 1992; Wolfgang Bocks, Perspektiven mit Strom, 1994; Bernhard Stier, Politische Steuerung großtechnischer Systeme – Elektrizität u. Energiepolitik in Baden 1890-1935, in: ZGO 142, 1994, 249-300, bes. 256 f.; Wolfgang Bocks, Einmischungen. A. Klingele – d. Vorreiter des Bürgerprotestes, in: Allmende H. 46/47, 1995, 217-238.
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