Geißmar, Johanna 

Geburtsdatum/-ort: 07.12.1877;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 01·1943-09-30.09.1941; Auschwitz
Beruf/Funktion:
  • Ärztin, Opfer des NS-Systems
Kurzbiografie: ab 1884 Schule, Studium, ca. 1904 Eröffnung einer kinderärztlichen Praxis in Mannheim
1911-1934 Kinderärztliche Praxis in Heidelberg-Neuenheim
1934 Berufsverbot, Umsiedlung nach Falkau, 1935 nach Saig (Hochschwarzwald)
1940 (22. 10.) Deportation nach Gurs (im besetzten Frankreich), 12. 8. 1942 Transport nach Auschwitz
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr.
Eltern: Vater: Josef Geißmar (1828-1905), Rechtsanwalt
Mutter: Anna, geb. Regensburger (1844-1911)
Geschwister: 5, darunter
Friedrich Geißmar, Dr. med., gest. 1940 Saig
Jakob Geißmar, Landgerichtsrat, gest. 1. 3. 1944 Theresienstadt
Leopold Geißmar, Rechtsanwalt, gest. 1918 Mannheim, Vater von Berta Geißmar
GND-ID: GND/1012561631

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 90-92

Johanna Geißmar stammt aus einer der vielen jüdischen Familien Mannheims, die im kulturellen, geistigen und politischen Leben der Stadt während des 19. Jahrhunderts auf vielfältige Weise ihren gewichtigen Beitrag zum „Zweiten Goldenen Zeitalter Mannheims“ – nach dem ersten unter Kurfürst Carl Theodor im 18. Jahrhundert – leisteten. Für Johanna Geißmar, die jüngste von sechs Geschwistern, ergab sich wohl von selbst, daß sie, dem Beispiel der Brüder folgend, ein akademisches Studium aufnahm; Studentinnen stellten allerdings vor hundert Jahren an den deutschen Universitäten eine verschwindende Minderheit dar. Einige der Lebensdaten Johanna Geißmars ließen sich nicht ermitteln. Nachweisen ließ sich, daß sie von 1891-1894 die Höhere Mädchenschule (Großherzogliches Institut) in Mannheim besuchte; wo sie das Abitur ablegte und dann studierte, ist unbekannt. Fest steht, daß sie nach dem Tod der Mutter im Jahre 1911 die nach dem Studium eröffnete ärztliche Praxis nach Heidelberg-Neuenheim verlegte und dort bis 1934 als Kinderärztin praktizierte.
Ihr achtjähriger Leidensweg begann 1934. Mit dem Gauleiter und späteren Reichsstatthalter Robert Wagner hatte einer der schlimmsten Judenhasser des „Dritten Reiches“ die Macht in Baden übernommen. Ein von ihm eingesetzter „Staatskommissar für die Badische Ärztekammer“ ordnete schon am 30.3.1933 an, daß jüdische Ärzte von ihrer Tätigkeit bei den Krankenkassen und Fürsorgeverbänden mit sofortiger Wirkung ausgeschlossen werden“. Der Verband privater Krankenkassenunternehmen beschloß im August 1933, Honorare jüdischer Ärzte nicht mehr zu vergüten. Es gelang Geißmar zwar noch, trotz dieser Schikanen ihre Praxis bis in das Jahr 1934 hinein fortzuführen, aber in diesem Jahr wurde den Juden die Ausübung des Arztberufs verboten, sie durften sich nur noch als „Krankenbehandler“ bei Glaubens- und Leidensgenossen betätigen. So war Geißmar die Lebensgrundlage entzogen, und wegen der von Wagner und seinen Spießgesellen ständig geschürten Haßkampagne gegen die Juden gestaltete sich deren Leben in den badischen Städten unerträglich. Geißmar zog sich in den Hochschwarzwald zurück, zuerst nach Falkau und dann am 10. 10. 1935 nach Saig, wo sie ganz in der Stille und Einsamkeit lebte. Im Jahre 1938 zog einer ihrer Brüder, der praktische Arzt Dr. Friedrich Geißmar, zu ihr. Zwei Jahre später nahm er sich in Ratlosigkeit und Verzweiflung im Hochfirstwald das Leben. Ein anderer Bruder, der Heidelberger Landgerichtsrat Jakob Geißmar, starb am 1. 3. 1944 in Theresienstadt. Während dieser schweren Jahre in der Abgeschiedenheit des Schwarzwalds kümmerte sich die Leiterin eines Kinderkurheims in Saig, Erika Schwoerer, um die Verfemte. Als sie deswegen Schwierigkeiten bekam, trat der Pfarrer der Evangelischen Diasporagemeinde Hinterzarten, Martin Huss, an ihre Stelle.
Nach dem Frankreichfeldzug, im Jahre 1940, beschlossen die Gauleiter Wagner (Baden) und Bürckel (Saarpfalz), ihre Herrschaftsgebiete Judenfrei“ zu machen und alle dort wohnenden Juden in das besetzte Frankreich „abzuschieben“, wie es in der Sprache des Unmenschen hieß. Es war eine Nacht- und Nebelaktion. Geißmar wurde wie allen anderen 6 504 badischen Juden – und den über tausend saarpfälzischen – am 21. 10. 1940 von der Polizei mitgeteilt, daß sie innerhalb von zwei Stunden abgeholt würden und daß sie 50 kg Gepäck, eine Wolldecke und 100 Mark mitnehmen könnten. Die Juden aus dem Freiburger Bereich wurden mit Bussen in den Bürgerbräusaal im Freiburger Stadtteil Stühlinger verbracht. Dort mußten sie vor einem Freiburger Notar Vermögensverzichtserklärungen unterschreiben, und Gauleiter Wagner ordnete am 23. 10. 1940 an, daß das gesamte Vermögen der aus Baden ausgewiesenen Juden beschlagnahmt werde und dem Land Baden für verfallen erklärt sei. Am gleichen Tag begann der Eisenbahntransport nach Gurs (Département Pyrénées Atlantiques, nahe der spanischen Grenze), er dauerte vier Tage. Die Deportierten waren zum Teil Sechzig- und Siebzigjährige, der älteste war 98, der jüngste 3 Jahre alt.
Die – vielfach beschriebenen (siehe Literatur) – Zustände in dem unter französischer Leitung stehenden Lager waren anfangs katastrophal. Zeitweise waren bis zu 13 000 Menschen dort untergebracht. Sie kampierten in großen fensterlosen Baracken und lagen auf Strohsäcken, auf dem blanken Holzboden. Die Baracken verfügten über keinerlei sanitäre Einrichtungen. Die Familien wurden auseinandergerissen, Männer und Frauen lebten in streng voneinander abgeschirmten Lagerblocks. Hunger und Kälte forderten einen hohen Zoll von den Deportierten, bis März 1941 starben über tausend der badischen Juden. Einem kleinen Teil gelang die Auswanderung nach Amerika, dies ließ das Reichssicherheitshauptamt am 28. 2. 1941 zu – „Besondere Unterstützung“ (der jüdischen Antragsteller) „ist jedoch nicht angebracht“. Auch Geißmar hätte die Möglichkeit der Auswanderung gehabt, aber sie lehnte dies zweimal ab, da sie, vom ersten Tag der Deportation an als eine der Lagerärztinnen tätig, ihre Patienten nicht im Stich lassen wollte.
Über das Wirken Geißmars als Ärztin in Gurs liegen mehrere Augenzeugenberichte vor. Sie sei nie ungeduldig, nie müde geworden. Alle hätten sich in ihrer Nähe geborgen gefühlt und vergessen, daß sie in der Hoffnungslosigkeit des Deportiertendaseins lebten. „Klein, blaß, mit gutem Blick und reinen Augen, aus denen die Klarheit der Kinder leuchtete, die sie, die Kinderärztin, in Heidelberg betreut hatte ... Geißmar und ihre drei Helferinnen schalteten und walteten unbefangen, hingebend und in heiterer Harmonie“ (Ludwig Mann).
Dank ausländischer Hilfe wurden im Jahre 1941 die Lebensverhältnisse im Lager etwas erträglicher. Aber nach der sogenannten Wannsee-Konferenz am 21. 1. 1942, auf der die „Endlösung der Judenfrage“, also die „Säuberung“ des von Hitler beherrschten Europa von Juden, beschlossen worden war, erfaßte die Mechanik des Vernichtungsapparats auch die deportierten Juden in Gurs. Am 12. 8. 1942 wurden zusammen mit Geißmar 1006 namentlich bekannte Juden über das Sammellager Drancy in der Nähe von Paris nach Auschwitz transportiert. Wieder hätte Geißmar die Möglichkeit gehabt, diesem Schicksal zu entgehen, da die Ärzte und Schwestern des Lagers nicht auf der Deportiertenliste standen. Die französische Lagerleitung und die verbleibenden Lagerärzte versuchten, Geißmar und die mit ihr gleichaltrige Oberin des Jüdischen Krankenhauses in Mannheim von 1913 bis 1940 zum Bleiben in Gurs zu bewegen; aber Pauline Maier und Geißmar wollten ihre Patienten und Leidensgenossen nicht allein in der Ungewißheit des Transports lassen, von dem sie wohl ahnten, daß er in den sicheren Untergang führen würde. Ein Augenzeuge, Dr. med. Eugen Neter (1866-1956), berichtete über seinen Abschied von den beiden Frauen: „Als letzte stiegen sie auf das Lastauto, das sie forttragen sollte: Oberin Pauline Maier und die Ärztin Dr. Johanna Geißmar“. Furchtlos betraten sie den in die Gaskammer von Auschwitz führenden Weg.
Quellen: Studienprof. u. Pfarrer i. R. Martin Huss, Hinterzarten, Gedenkpredigt über Dr. med. J. Geißmar am 13.12. 1992 in der Ev. Kirche von Lenzkirch (Hochschwarzwald) (Mskr.); „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen“, Bei einem Adventsgottesdienst in der Ev. Kirche in Lenzkirch wurde die jüdische Ärztin J. Geißmar geehrt, in: Südkurier vom 17. 12. 1992.
Nachweis: Bildnachweise: Nicht ermittelt.

Literatur: (Auswahl) Ludwig Mann, Heldentum in Gurs. Maschinenschriftl. Mskr. im Landesamt f. d. Wiedergutmachung, Karlsruhe; Franz Hundsnurscher/Gerhard Taddey, Die jüd. Gemeinden in Baden. Denkmale - Geschichte – Schicksale, hg. v. d. Archivdirektion Stuttgart, 1968; Paul Sauer, Die Schicksale d. jüd. Bürger B-Ws während d. NS-Verfolgungszeit 1933-1945, 1969; Hans-Joachim Fliedner, Die Judenverfolgung in Mannheim 1933-1945, 1971; Hanna Schramm, Menschen in Gurs. Erinnerungen an e. französ. Internierungslager (1940-1941), 1977; Gerhard Taddey, Die Zeit d. Verfolgung 1933-1945, in: Juden in Baden 1809-1984, 175 Jahre Oberrat d. Israeliten Badens, Hg. Oberrat der Israeliten Badens, Karlsruhe, bearb.: Dr. Jaël B. Paulus, 1984; Karl Otto Watzinger, Gesch. d. Juden in Mannheim 1650-1945, 1987 2. Aufl.; Josef Werner, Hakenkreuz u. Judenstern. Das Schicksal d. Karlsruher Juden im Dritten Reich, 1988; Michael Philipp, Alle weinten, aber keiner schrie. Erinnerung an d. französ. Internierungslager Gurs, in: FAZ vom 23. 3. 1991.
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