Munder, Eugen Paul 

Geburtsdatum/-ort: 09.10.1899;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 20.11.1952;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Verwaltungsdirektor der AOK und Gauleiter der NSDAP
Kurzbiografie: 1906–1915 Schickardt-Bürgerschule Stuttgart
1915–1917 Lehrling bei Schultheiß Weber Unterriexingen
1917–1919 Kriegsdienst Feldartillerie
1919–1920 Lehrling bei Schultheiß Sülzle Großglattbach
1919–1920 Gehilfe und Amtsaktuarsvertreter Stadtschultheißamt Bietigheim
1919–1920 Vorkurs für Verwaltungskandidaten Heilbronn (Vorprüfung)
1920–1921 Kanzleigehilfe Oberamt Gaildorf
1920–1921 staatl. Unterrichtskurs für Verwaltungskandidaten (Prüfung)
1921–1931 Hilfsberichterstatter beim Landesgewerbeamt Stuttgart
1923 Obersekretär Oberamt Vaihingen/Enz, dann Landesgewerbeamt Stuttgart
1931 Ernennung zum Rechnungsrat (1.1.) und staatl. Krankenkassenprüfer beim Oberversicherungsamt Stuttgart
1933 Stellvertreter des Staatskommissars für die Krankenkassen in Württemberg (27.3.)
1933 kommissarischer Geschäftsführer des Württ. Krankenkassenverbands (9.6.) bzw. des Landesverbands Württemberg- Hohenzollern im Reichsverband der Ortskrankenkassen (5.7.)
1933–1945 Geschäftsführer (1.9.) und Verwaltungsdirektor (22.9.) AOK Stuttgart
1945–1950 Haft und Spruchkammerverfahren
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Mitgliedschaften: Mitgliedschaften: Verein württ. Verwaltungsbeamten (1915–1937); Stellv.Vorsitzender (1933–1937, Auflösung); NSDAP (1925–1928, 1935–1945); Ortsgruppenleiter Stuttgart (1925); Gauleiter Württemberg (1925–1928); SA (1935–1945) (Sturmbannführer „ehrenhalber“ 1935–1945); NSV (1933–1945); Reichsbund Deutscher Beamter (1933–1945); Leitung Beamtenbeirat des Innen- und Wirtschaftsministeriums (1933); Geschäftsführer Krankenkassenverband (1933); Beirat Zentralleitung für das Stiftungs- und Anstaltswesen in Württemberg (1937–1945)
Verheiratet: 28.11.1927 (Ulm) Marie Luise Hedwig, geb. Dursch (1902–1979)
Eltern: Vater: Christian Munder (1870–1936), Maschinist
Mutter: Friedrike, geb. Benz (1872–1954)
Geschwister: Emma (1897–1927), deren Tochter Gertrud (geboren 1923), Patenkind
Kinder: 2:
Utz (1929–2012), Kälteanlagenbauer;
Gutrun Ute (geboren 1931)
GND-ID: GND/1012571300

Biografie: Michael Matthiesen (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 3 (2017), 162-167

Aus einfachen Verhältnissen stammend, der Vater ist Maschinenmeister der Stuttgarter Brauereien Wulle und Rettenmeier, die Mutter Näherin, liest sich der junge Eugen durch die Bibliotheken von Heslach und des neuen Rudolf-Sophien-Stifts, wo sein Vater 1914 Hausverwalter wird. An der Bürgerschule macht er das „Einjährige“, ein Onkel, der Buchdrucker ist, lenkt ihn in die Verwaltungslaufbahn. Sie wurde bis zum Ersten Weltkrieg noch in der Art des „Lehrlingsziehens“ durch die Amtleute und Schultheißen betrieben, das die Beamten des mittleren Dienstes durch die Selbstorganisation ihrer Ausbildung zu ersetzen suchten. Auch Munder muss zunächst noch in die Provinz in Stellung gehen. Seine literarische Produktion dieser Lebensphase ist verloren. Es folgt der Kriegsdienst als Artillerist an der Front im Elsass. Nach dem Waffenstillstand wird Munder ins Kriegsministerium nach Stuttgart kommandiert. Hier setzt nun der autobiographische Report ein, den er später als Gauleiter verfasst hat. Als es während der Berliner Spartakuskämpfe am 9. Januar 1919 auch in Stuttgart zu einer Massendemonstration kam, stand Munder vor dem Rathaus in der Menge und bewunderte die Rede des aus dem Schweizer Exil zurückgekehrten Willi Münzenberg. Aber schon vor dem Arbeitsministerium, wo Edwin Hoernle Minister Lindemann zum Rücktritt zwingen will, änderte sich Munders Haltung, als die Situation eskaliert und vor seinen Augen Beamte bedrängt werden. Die nun folgende Abkehr von der sozialistischen Revolution und Flucht aus der Großstadt zurück in die Berufsarbeit auf dem Land ist stilisiert. Auch dort bleiben Kontakte erhalten, so korrespondiert er mit Hoernles Partnerin Helene Hess über die Notwendigkeit, einen Minister mit „sanftem Druck“ aus dem Amt zu befördern. Eine solche Gelegenheit bot sich ihm selbst ein Jahr später in Gaildorf. Bürgerliche Redner wie Haussmann und Bazille überzeugen Munder nicht, also gründet er einen „Hakenkreuz-Klub“ zur Provokation des Establishments, dazu einen vom Gemeinderat unerwünschten Sportverein. Erst die fürstliche Standesherrschaft habe das Gelände zur Verfügung gestellt und ihm sogar eine goldene Stoppuhr geschenkt.
Durchaus nicht humorlos ist auch die folgende Schilderung seiner Abenteuer beim Kapp-Putsch im März 1920. Nachdem Munder als Einziger vergeblich dem Generalstreik widersprochen haben will, plant er die Umleitung des Zuges, mit dem Ebert und Noske nach Stuttgart fahren, aber die Eisenbahnbeamten informieren sie falsch, und die Verschwörer kommen zu spät zum Bahnhof.
Im Landesgewerbeamt nimmt dann sein Vorgesetzter Karl Waldmann den emphatischen jungen Kollegen mit zum Männerchor des Schwäbischen Albvereins und zu Versammlungen jener völkischen Gruppen, die damals die rechte Szene Stuttgarts prägten. Und nun begeistert sich Munder für den Nationalsozialismus, weil er „mit so jungfrischer brutaler Offenheit den Menschen und Parteien die Masken vom Gesicht reisst“. Waldmann, der nicht Soldat gewesen war, aber schon verheiratet ist, zögert selbst noch bis Oktober 1925, in die NSDAP einzutreten. Munder aber, dem bei den Völkischen das soziale Bewusstsein, die „Brüderlichkeit“ zu fehlen schien, engagiert sich unter diesem Vorbehalt – sein Vater blieb zeitlebens Mitglied der SPD. So kommt es zum Wagnis einer Parteikarriere im Vertrauen auf zwei Symbolfiguren: Ludendorff und Hitler.
Die Entwicklung des sich ständig neu formierenden Nationalsozialismus wurde durchaus aufmerksam beobachtet, sowohl von Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher als auch von den Ministern Beyerle und Bolz (Zentrum) und der „politischen Abteilung“ im Polizeipräsidium. Wenn trotzdem nicht viel geschah, ihr entgegenzutreten, lag das an den prominenten Kreisen im Hintergrund, als deren Beauftragte Beamte wie Munder und Waldmann operierten. Hitler war bereits seit 1920 immer wieder in Stuttgart zu Gast gewesen und dort auch privat vernetzt. Er logiert bei Freunden wie Fritz Weidle, dessen Sohn sein Patenkind war, bei Honoratioren wie General Adolf Schwab, dessen Tochter Else Voelter und dem Bildhauer und Professor an der Kunstakademie Arnold Waldschmidt, dessen Frau wiederum Olly Schwarz wird, die Tochter des norwegischen Konsuls und Aufsichtsrats Albert Schwarz. Voelter stellt Kontakte zur Automobilindustrie her, Waldschmidt gestaltet später ein Monumentalrelief am Reichsluftfahrtministerium.
Während Hitlers Landsberger Haft fährt eine Gruppe der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung (NSFB), im November 1924 zu Ludendorff nach München. Friedrich Schlumpberger leitet die Delegation, Munder führt Protokoll. Die Stuttgarter Ortsgruppe lebte schon damals im Streit mit ihrem Leiter Christian Mergenthaler und suchte nun Schutz beim Übergangsführer der Partei im Reich. Anfang 1925 werben Mergenthaler und Munders Gruppe gleichzeitig um Hitlers Gunst, wer den Neuaufbau der Partei organisieren darf. Die Stuttgarter trennen sich von Mergenthaler, laden Gregor Strasser ein, im Juli kommt es in Anwesenheit Hitlers zur Wiedergründung des Landesverbands. Ernannter Bevollmächtigter der Parteileitung wird Waldschmidt, Munder gewählter Ortgruppenführer. Als Hitler dann wieder öffentlich in Stuttgart sprechen darf, werden diese Auftritte in der Liederhalle im August und Dezember von Munder eröffnet, beim zweiten Mal als Gauleiter für Württemberg. Zentrales Thema ist jeweils das Verhältnis zur sozialen Frage, Munders Maxime die Identität von Ideen und Interessen, von Partei und Wählern. Auf der Straße erscheinen die von seinem Stellvertreter Fritz Gundlach und dem Ulmer Wilhelm Dreher aufgestellten Kolonnen der SA, der „Völkische Beobachter“ berichtet von Hitlers Rede Ende 1925 unter der Überschrift „Die soziale Mission des Nationalsozialismus“. 1926 sind Hitler und Goebbels gleich zweimal in den Wulle- und Dinkelacker-Sälen, Hitler feiert seinen Geburtstag bei Else Voelter, und Goebbels, in dessen Tagebüchern Munder nun immer öfter erscheint, schreibt voller Zuneigung, der „ordentliche Junge“ sei ein „stiller Sucher“, mit dem er sich ganze Abende unterhalten könne. Es verstehe ihn zwar kaum jemand in Stuttgart, doch erst Munder habe den geraden Weg gefunden: „aus aufgeregter Bourgeoise wurde Revolution“. In einer Schrift dieses Jahres ist der letzte Brief „Denker und Prediger“ direkt an Munder gerichtet, in dem Goebbels den Unterschied zwischen der Belehrung von Bürgern und Beamten und einer revolutionären Tat erklärt, aus der allein die Erlösung erwachse. Höhepunkt dieser Entwicklung war ein Vorbeimarsch der Partei aus Württemberg und Baden vor Hitler, flankiert von Munder und Goebbels, am 7. Mai 1927 in Stuttgart. Kurz darauf riskieren es Hitler und Munder sogar, Mergenthaler in die Partei aufzunehmen, und die alte Rivalität lebt sofort wieder auf. Zudem hatte sich der junge Gauleiter nun in eine dramatische Affäre um die Ehefrau des Braumaschinenfabrikanten und Gaukassierers Essich verstrickt. Auch sie ist Parteigenossin, auch hier war Hitler zu Gast gewesen. Der Freundschaftskult einer expressionistischen Kriegsgeneration, stieß an seine politischen und bürgerlichen Grenzen. Walter Buch, der aus Baden stammende neue oberste Parteirichter, eröffnet dem schwäbischen Gauleiter Ende 1927, ihr „Parteivorsitzender“ Hitler erteile ihm „eine ernste Verwarnung“, weil er sich „nicht die gebotene Zurückhaltung auferlegt“ habe. Munder hatte aber schon den Schlussstrich gezogen und im November, am Tag nach der letzten Begegnung mit Goebbels, im Ulmer Münster seine Verlobte geheiratet. Nun beendete er auch die Parteikarriere.
Ein Besuch in München bei Hitler führt in Anwesenheit Mergenthalers zum Bruch. Bereits am 6.1.28 verlässt Munder die Partei, am 9. Januar tritt darauf auch der gesamte Vorstand der Württemberger NSDAP zurück und ebenfalls aus der Partei aus – mit einer Ausnahme: Wilhelm Murr aus Esslingen, der bereits im Oktober eine Versammlung mit Gottfried Feder anstelle Munders geleitet hatte, bleibt in der Partei und schreibt Hitler am 12. Januar, Munder begründe den Austritt damit, „dass sein Glaube an Ihr Gerechtigkeitsgefühl und damit an Ihr soziales Denken schwinde“. Murr erklärte sich bereit, den Kampf um die „Proletarierseelen“ weiterzuführen, und wurde am 1. Februar von Hitler zum Nachfolger ernannt. An ihn richtete Munder dann auch seinen offenen Abschiedsbrief in der Parteizeitung unter der Überschrift „Zu Schiff nach Frankreich“ (Maria Stuart, letzter Auftritt). Seine aus dem „Verein christlicher junger Männer“ hervorgegangene Gruppe trete nun ab. Das werde viele enttäuschen, denen „die Heilslehre des Nationalsozialismus gepredigt“ werden müsse. Es sei nun an Murr, diesen Trost zu spenden, erklärte Munder unter Hinweis auf den Selbstmord dreier Kommunisten in Köpenick im November 1927, und seinem Sohn „rechtzeitig das wahre Gesicht dieser Welt“ zu zeigen. Während Karl Waldmann 1931 wieder in die Partei zurückkehrte, konzentrierte sich Munder ganz auf seine berufliche Laufbahn. Bereits 1927 war eine Broschüre im Boorberg-Verlag erschienen, dessen Leiter selbst aus dem Beamtenstand kam und nun Schriften zur Verwaltungspraxis veröffentlichte. Anfang 1931 wird Munder durch Ministerialdirektor Staiger als Prüfer der Krankenkassen berufen, Wirtschaftsminister Maier verteidigt den Personalvorschlag im Landtag. Gemeinsam mit seinem neuen Vorgesetzten Otto Müller publiziert Munder einen Führer durch die Krankenversicherung, und bietet dem inzwischen in den Landtag gewählten Waldmann seinen Rat an. Als im März 1933 ein Reichskommissar zur Aufsicht über die Ortskrankenkassen bestellt wird, ernennt der neue Staatspräsident Murr mit Müller einen weiteren Kommissar und dieser Munder zu seinem Stellvertreter. Der Eigensinn des schwäbischen Nationalsozialismus zeigt sich auch darin, dass Munder zwar die „Gleichschaltung“ des Vereins württembergischer Verwaltungsbeamten vornahm, diesen aber vor der Auflösung bewahrte, während alle anderen Beamtenvereine in den Reichsbund deutscher Beamten eintreten mussten. Eigentlicher Führer der schwäbischen Standesorganisation wurde Waldmann, nun als Staatssekretär des Reichsstatthalters der Gegenspieler Mergenthalers. Während Munder die Wiederaufnahme in die Partei zunächst verwehrt blieb, machte seine dienstliche Karriere nun große Fortschritte.
Die AOK Stuttgart hatte im April 1933 entgegen den Anordnungen der neuen Machthaber noch ihren Geschäftsführer Siegrist zum Direktor gewählt, was umgehend durch politische Säuberungen beantwortet wurde; der damals verhaftete Referent Ernst Müller wird 1945 in sein Amt zurückkehren und die Justiz mit Belastungsmaterial gegen Munder und Genossen versorgen – aber der neue Leiter, ein „alter Kämpfer“, ist fachlich überfordert. So kommt es zum Ämtertausch, und der im Krankenkassenverband verwendete Munder wird durch Staatskommissar Müller und Fritz Schulz, den Gauobmann der DAF, Geschäftsführer und bald darauf Verwaltungsdirektor der AOK Stuttgart. Ihr 1932 noch von Eugen Bolz eingeweihtes Gebäude an der Militärstraße (heute Breitscheidstraße/Berliner Platz, Abriss 2013) symbolisierte mit dem Stil der neuen Sachlichkeit – so wie das Landesgewerbeamt den Historismus – den Geist sozialer Selbstverwaltung. Die Finanzhoheit der Krankenkassen war aber schon 1931 durch Brünings Notverordnungen beseitigt worden, nun folgte durch Reichsgesetz im Juli 1934 die organisatorische Unterordnung unter die Versicherungsämter. Munder hat sich diesen Aufgaben, zu denen auch die „Flurbereinigung“ durch Aufnahme weiterer Orts- und Ersatzkassen gehörte, mit großer Energie angenommen. Immer neue Organisationspläne, Statistiken, Prüfungen und Arbeitsvorschriften, Fragen der Pflichtmitgliedschaft und des Beitragswesens, das System der Berichte und Betriebsappelle, alle Formen der Betreuung und Kontrolle der „Gefolgschaft“ werden erprobt, die Betriebsfürsorge der Versicherten, die „Krankenüberwachung“ durch „Vertrauensärzte“ der DAF und die finanzielle „Aussteuerung“ organisiert. Munder hat jeden dieser Abläufe in Abstimmung mit den Beamten des Reichsarbeitsministeriums als Lektor im Verlag des Freundes Walter Kohlhammer, zunächst in der Rubrik „Der Fachberater“ in seinem „Handbuch“ und dann im „Zentralblatt“ der Reichsversicherung dokumentiert. Dazu werden dort Formulare, Verträge, Anordnungen, Streitfälle, Entscheidungen des Oberversicherungsamtes und sogar einzelne Korrespondenzen abgedruckt.
Die AOK Stuttgart vermietete Räumlichkeiten an die Zeitschrift „Arbeitertum“ der DAF und an das DJH, aber auch an das Amt für Rassepolitik der NSDAP; der berüchtigte Ministerialrat Eugen Stähle erläutert in Munders „Handbuch“ das Verhältnis zwischen Krankenkasse und Gesundheitsamt. Trotzdem musste sich Munder noch 1939 rechtfertigen, nicht genügend „alte Kämpfer“ eingestellt zu haben (15 Prozent der Belegschaft). Seine Sekretärin berichtet der Spruchkammer von Besuchen einer Parteigenossin, die ihn für den SD zur Stimmung in der Bevölkerung befragen will, aber mit getippten Berichten abgefertigt worden sei. Munder seinerseits habe großes Interesse an den Krankenakten verurteilter Psychopaten wie Ernst August Wagner gezeigt. Immer wieder erkundigte sich später die Spruchkammer, ob er bei Hinrichtungen anwesend gewesen sei. Mitarbeiter schildern den Direktor als unberechenbar und überstreng, insbesondere während des Krieges. Andererseits beauftragte er seinen Vorgänger Carl Gamer, eine Geschichte der AOK Stuttgart zu verfassen. Sein späterer Nachfolger Hans Leiser, mit Munder seit 1920 bekannt, meinte eine Veränderung wahrgenommen zu haben, seit der Freund als Vorgesetzter ihm das „Du“ entzogen hatte. Politische Beobachter wie Heinrich Huth (Allianz), Otto Müller und Karl Waldmann vertraten die These, Munders Verhalten im „Dritten Reich“ sei nur durch unerhörte Angst zu erklären.
Wie komplex die Situation werden konnte, zeigt ein Fall, den die Kammer vielleicht auch deshalb aufmerksam betrachtete, weil ihr Vorsitzender von Kirn selbst als „Mischling“ zu den Opfern des Dritten Reiches gehört hatte. Eine Heilgymnastikerin aus der Familie der „Madame Kaulla“ war seit 1932 freiberuflich für die AOK tätig. Als Munder 1936 im Rahmen einer Routineüberprüfung die jüdische Herkunft bemerkte, wurde ihr die Kassenzulassung entzogen. Im Versicherungsamt gab dem Einspruch Kaullas 1938 gerade jener Oberregierungsrat Ehrlinger statt, der 1933 noch die „Säuberungen“ in der AOK durchgeführt hatte und nun ebenfalls Mitarbeiter in Munders „Handbuch“ war. Dagegen setzte sich Munder 1939 wiederum mit einer Beschwerde beim Oberversicherungsamt durch. Kaulla überlebte das „Dritte Reich“ und erklärte als Zeugin vor der Spruchkammer, sie habe nur brieflich mit den Behörden verhandelt. In der medizinhistorischen Literatur legendär ist die Heimsuchung Stuttgarts 1940 durch einen „Stoßtrupp“ von Ärzten des Reichsarbeitsministeriums, die den auffällig hohen Krankenstand der AOK von über 5000 Versicherten (5 Prozent) durch Kontrollen in Wohnungen und Krankenhäusern auf die Hälfte drückten, was aber nach ihrer Abreise durch die Vertrauensärzte der Stadt sofort wieder korrigiert wurde und der Kasse wie ihrem Direktor jede Menge erzürnter Kommentare einbrachte. Munder hatte die AOK Stuttgart aus einem sozialdemokratischen in einen nationalsozialistischen Musterbetrieb verwandelt. Sowohl die umfangreiche publizistische Aktivität als auch die im Archiv der AOK verwahrten Unterlagen zur „Sorge um die Volksgesundheit“, also dem Beitrag zum „Leistungskampf der deutschen Betriebe 1941“, belegen den Ehrgeiz und den Erfolg dieses Bemühens, das durch die festliche Verleihung des „Gau-Diploms“ am 28. Mai 1941 offizielle Anerkennung fand. Da die Spruchkammer keine institutionelle Verortung der Wirksamkeit Munders vornahm, fehlt dieser Augenblick in der Liederhalle, als Wilhelm Murr seinem Vorgänger – beide in Uniform – die Auszeichnung überreichte, die bis 1945 die Dokumente der AOK Stuttgart zierte. Vielleicht ist es nur in Schwaben möglich gewesen, dass zwei Gauleiter einander in dieser Weise begegneten? Das Ausmaß der Verdrängung wird deutlich, wenn nicht nur Munder in der Verhandlung unwidersprochen erklären konnte, er habe im „Dritten Reich“ kein Wort mehr mit Murr gewechselt, sondern auch die Kammer ihrerseits zwar mehrfach Hitlers Auftritte in der Liederhalle thematisierte, aber die Feier der Behörde am gleichen Ort 1941 nicht einmal erwähnt hat.
Munder war im April 1945 noch als Volkssturmmann auf einem Fahrrad vor dem „Feind“ aus Stuttgart geflohen. Nach einer Odyssee kehrt er zusammen mit seinem Sohn zurück und wird mehrfach verhaftet. Epileptische Anfälle führen zur Einweisung in ein Lazarett nach Karlsruhe, wo er seine Erinnerungen und erste Rechtfertigungsschriften verfasst. Erinnerungslücken gelten zunächst als „Spruchkammerkrankheit“, aber bereits in der Verhandlung, zu der im März 1948 die Presse in den Schillersaal der Liederhalle eingeladen wird, und deren Protokoll allein 100 Seiten füllt, wirkt Munder nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Unmittelbar nach dem (50 Seiten umfassenden) Spruch, der ihn als „Hauptschuldigen“ bezeichnet, ergeht die Anordnung, Munder in ein Arbeitslager zu verbringen, da es zum „Steine-Klopfen“ noch reichen dürfte. Erst danach gelingt es der Verteidigung eine gründliche Untersuchung zu erreichen, die in der Universitätsklinik Marburg 1949 endlich zu der Diagnose führt, dass ein Hirntumor den Mann zerstört. In der Berufung 1950 ist Munder nicht mehr anwesend, als nun Juristen seinen Fall verhandeln (in der 1. Instanz waren Ankläger und Vorsitzender Kaufleute), wohl aber der frühere Personalreferent der AOK. Der Spruch wird nur in „Belasteter“ geändert – sein Freund Waldmann war schon 1949 als „Mitläufer“ eingestuft worden. Ministerpräsident Reinhold Maier begnadigte Munder, der kurz darauf starb.
Im Rahmen des Forschungsprojekts zur „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der NS-Zeit“ wurde Munders Wirken zwischen Partei und Verwaltung wieder entdeckt und in Kooperation mit der AOK Baden-Württemberg erforscht. Durch den doppelten Versuch, das Medium des Sozialen zunächst im Pathos der Politik und dann im Alltag der Bürokratie zu finden, erweist sich dieses Leben als ungewöhnlicher Spiegel seiner Zeit.
Quellen: BA: BDC Eugen Munder NS 1/1023 Gauleiter-Dispositionsfonds, NS 22/1077 Reichsorganisationsleiter der NSDAP, NS 26/166 Hauptarchiv der NSDAP: Gau Württemberg-Hohenzollern, NS 36 Oberstes Parteigericht der NSDAP, Fall Paul Essich- Eugen Munder, R 187 Sammlung Schumacher. LA BW: StAL Versorgungsakte EL 76 Bü 4386; Spruchkammer-Verfahrensakte EL 902/20 Bü 78796; Handakte des öffentlichen Klägers EL 905/4 Bü 1553 (sowie weitere Karteikarten), PL 501 II NSDAP-Gauleitung Württemberg-Hohenzollern; HStAS: RStH E 140 Bü 133 Handakten Karl Waldmann; Württ. Wirtschaftsministerium E 383 b Bü 191 Personalakte Munder; Württ. Innenministerium E 151/01 Bü 2652 – 2657 Beamtenbeiräte und Beamtenvereine; J 53/47 Memoiren Ludwig Battenberg; J 383 Bü 716 Politische Lageberichte des Landespolizeiamtes 1922 – 1934; Archiv der AOK BW (Inventar Horst Marburger); Drei Briefe von Joseph Goebbels und eine Karte von Rudolf Heß an Gauleiter Munder 1926 im Autographenhandel (Hermann-Historica 2015); NL Eugen Munder (Privatbesitz).
Werke: Konradin, der letzte der Hohenstaufen, 1915; Halt hart an mir. Kriegslieder, 1916; Führer durch die Reichsgewerbeordnung und sämtliche Ausführungsbestimmungen für Württemberg, 1927; Die Handwerksnovelle und sämtliche Änderungen der Reichsgewerbeordnung, 1929; Führer durch die Krankenversicherung, hg. von Otto Müller und Eugen Munder, 1932; Das Recht im neuen Reich. Loseblattausgabe der Gesetze des Reichs, hg. von Karl Waldmann, Otto Müller und Eugen Munder (4 Ordner) 1933 – 1936; Die Kassen- und Rechnungsführung der reichsgesetzlichen Krankenkassen, von Eugen Munder und Richard Noe, 1934, 2. Aufl. 1935; Der gehobene mittlere Verwaltungsdienst in Württemberg. Ein Beitrag zur Berufskunde und Berufsberatung, hg. vom Verein Württ. Verwaltungsbeamten e.V., 1935; 100 Jahre Württembergischer Verwaltungsdienst. FS, hg. vom Verein Württ. Verwaltungsbeamten e.V., 1937; Das Recht in der Reichsversicherung. Loseblattausgabe der Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Bescheide und Verwaltungspraxis der Krankenversicherung, hg. von ORR (Peter) Martin und Verwaltungsdirektor (Eugen) Munder (14 Lieferungen) 1935 – 1939; Handbuch der Reichsversicherung. Loseblatt-Wörterbuch über Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und Schrifttum der Sozialversicherung, hg. von Otto Müller, Joseph Krell und Eugen Munder, 1935 ff.; Das Recht der Krankenversicherung von A – Z, hg. von Regierungsdirektor Otto Müller und Verwaltungsdirektor Eugen Munder 1940, 3. Aufl. 1943; Redaktion der Rubrik „Von der Verwaltung für die Verwaltung“, in: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, 1939 – 1941, zuvor Beilage „Das neue Recht in der Sozialversicherung“, 1933 – 1935. Mitarbeit in Zeitschriften und Zeitungen: Regelmäßig: Südwestdeutscher Beobachter; Politische Wochenzeitung der NSDAP, hg. Eugen Munder, 1926/27; Der Verwaltungsmann; Württembergische Verwaltungs-Zeitschrift; Das geltende Recht, Monatsschrift für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur. Die Verwaltungspraxis. Einzelne Beiträge: Stuttgarter Neues Tagblatt, Süddeutsche Zeitung (Stuttgart), Württembergische Krankenkassen-Zeitung, Die Betriebskrankenkasse, Die Arbeiterversorgung, Die Krankenversicherung, Zahnärztliche Mitteilungen, Die deutsche Innungskrankenkasse, Soziale Zukunft, Reichsarbeitsblatt.
Nachweis: Bildnachweise: Württ. Verwaltungs-Zeitschrift 7/8 (Juli – August 1933), 189; FS Verein Württ. Verwaltungsbeamter 1937, 115; Stuttgart im Dritten Reich 1983, 136 (mit Faksimiles); Spruchkammer-Verfahrensakte; Harald Sandner, Hitler. Das Inventar I, 2016, 535; Hochzeitsfoto (Privatbesitz); Album zur Geschichte der AOK Stuttgart 1933 – 1944 (Privatbesitz).

Literatur: Joseph Goebbels, Die zweite Revolution, 1926; Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hg. von Elke Fröhlich, Teil I, Bd. 1/II (Dezember 1925–Mai 1928), 2005; Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutsch-völkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919 – 1923, 1970; Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Völkische Radikale in Stuttgart. Zur Vorgeschichte und Frühphase der NSDAP 1890 – 1925 red. Jürgen Genuneit. Begleitausstellung zum Prolog, 1982; Walter Nachtmann, Von der Splitterpartei zur Staatspartei. Zur Entwicklung des Nationalsozialismus in Stuttgart von 1925 bis 1933, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, red. Karlheinz Fuchs, 1983, 128-157; AOK Stuttgart (Hg.), Willy Wurster: Von Bismarcks Unterstützungskasse zur modernen Gesundheitsversicherung, 1984; Roland Müller, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, 1988; Ulrich Knödler, Von der Reform zum Raubbau. Arbeitsmedizin, Leistungsmedizin, Kontrollmedizin, in: Norbert Frei (Hg.), Medizin und Gesundheitsmedizin in der NS-Zeit; Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1991, 113-136; Marc von Miquel, Ortskrankenkassen im „Dritten Reich“, in: Mitteilungsblatt für soziale Bewegungen 38 (2007), 61-76; Michael Matthiesen, Das verborgene Sozialministerium. Eugen Munder – vom Gauleiter zum AOK-Direktor, ersch. 2018, hg. von Wolfram Pyta und Edgar Wolfrum, Bd. 2 (Bibliographie).
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