Netter, Marie 

Geburtsdatum/-ort: 28.02.1856;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 25.01.1934;  Mannheim
Beruf/Funktion:
  • Musiklehrerin, Journalistin
Kurzbiografie: 1862–1870 Schulbesuch
seit 1870 Klavierstudien
1878 Ausbildung zur Klavierlehrerin u. Dozentin am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main
1889 Rückkehr nach Mannheim
seit 1891 Kunstreferat d. Frankfurter Ztg. für Mannheim; Reisen als Korrespondentin nach Schweden, Südfrankreich u. in die östlichen Mittelmeerländer; Musikkritikerin bei d. Neuen Mannheimer Ztg. u. dem Mannh. Generalanzeiger
1914–1918 Vorsteherin eines Lazaretts in Mannheim
1915–1924 Theaterkritikerin für die Volksstimme, Mannheim
seit 1918 Dozentin an d. Musikhochschule Mannheim; Mitarbeit im Musikreferat d. Volksstimme
Weitere Angaben zur Person: Religion: jüd.
Verheiratet: unverheiratet
Eltern: Vater: Eli (1815–1902), Kaufmann
Mutter: Lisette, geb. Rosenthal (* 1826)
Geschwister: 4; Henriette (* 1845), Carl (* 1852), Theodora (* 1859) u. Emil (* 1862)
Kinder: keine
GND-ID: GND/1018909907

Biografie: Sabine Pich (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 291-292

Nur wenige biographische Lebenszeugnisse der gebürtigen Mannheimer Jüdin Netter finden sich verstreut in den Nachlässen ihrer Korrespondenzpartner, so des Mannheimer Historikers und Stadtchronisten Friedrich Walter (BWB III 437) oder des Reichstagsabgeordneten und Chefredakteurs der Volksstimme, der Mannheimer SPD-Zeitung, Oskar Geck (➝ IV 86). Ihre Briefe aber erweisen sich als wertvolle Zeitzeugnisse und reflektieren Zeitgeschichtliches und lokale Ereignisse, aber auch persönliche Befindlichkeiten, und zwischen den Zeilen tritt häufig Netters feiner von Ironie durchdrungener Humor zutage.
Diese wenigen Dokumente geben Einblicke in eine außergewöhnliche Persönlichkeit, lassen eine begeisterungsfähige, analytisch scharfsichtige Intellektuelle erkennen, die zeitlebens eigenständig ihren Lebensunterhalt mit Schreiben und Musikunterricht bestritt, einen großen Freundeskreis im damaligen linksintellektuellen Mannheimer Bürgertums pflegte, ausgedehnte Reisen nach Nord- und Südeuropa unternahm und mit 68 Jahren ihre Dissertation über die Mannheimer Handelskammer veröffentlichte.
Dabei kam Netter nicht aus dem wohlhabenden jüdischen Besitzbürgertum. Sie wuchs als viertes Kind in eher bescheidenen Verhältnissen einer Kaufmannsfamilie auf, freilich in einem kulturellen Milieu, das ihre Anlagen und Talente förderte. Im Alter von 15 Jahren verließ Netter die Schule, da diese ihren Ansprüchen nicht genügte; für eine höhere Schulbildung fehlten offenbar die Mittel. Neben einer unbekannten Erwerbstätigkeit konzentrierte sich Netter jahrelang auf Klavierstudien und erreichte schließlich als 23-jährige die Aufnahme am Hoch’schen Konservatorium, das kurz zuvor in Frankfurt am Main gegründet worden war. Hier lehrten damals so berühmte Musiker wie Julius Stockhausen (1826–1906), Clara Schumann (1819–1896) und Engelbert Humperdinck (1854–1921); bekanntester zeitgenössischer Stipendiat war Paul Hindemith (1895–1963). Elf Jahre später verließ Netter – mittlerweile Dozentin – das Musikinstitut und kehrte nach Mannheim zurück, um ihre Eltern im Geschäft zu unterstützen. Seit 1907 wohnte Netter im Parkring 2. Ihre beiden Schwestern lebten ebenfalls in Mannheim. Beide Brüder waren 1870 nach Amerika ausgewandert.
In dieser Zeit übertrug ihr die renommierte „Frankfurter Zeitung“ das Kunstreferat über Mannheim. Diese Zeitung war während der Weimarer Republik berühmt für ihr Feuilleton, in dem viele Geistesgrößen der damaligen Zeit wie Ernst Bloch (1885–1977), Walter Benjamin (1892–1940), Joseph Roth (1894–1939) oder Siegfried Kracauer (1889–1966) publizierten. Damit begann Netters umfangreiche journalistische Tätigkeit. Sie unternahm Reisen nach Schweden, Südfrankreich und in die östlichen Mittelmeerländer. Sie schrieb auch Reiseberichte und Rezensionen für die Neue Mannheimer Zeitung und den Generalanzeiger. Während des I. Weltkriegs leitete Netter vermutlich das Lazarett in der Elisabethschule. In Nachtarbeit verfasste sie damals Theater- und Musikkritiken für die Frankfurter Zeitung und die in Mannheim erscheinende „Volksstimme“, für die sie bis 1924 als freie Mitarbeiterin tätig war.
Nach Kriegsende nahm Netter eine Lehrtätigkeit an der 1899 gegründeten Musikhochschule Mannheim auf. Da durch die Inflation ihre bescheidenen Ersparnisse verloren gingen, musste sie, um zu überleben, mit 67 Jahren ihr Arbeitspensum noch steigern. Als Schriftstellerin und Klavierlehrerin genoss sie damals im gebildeten Mannheimer Bürgertum hohes Ansehen und pflegte weiter ihren umfangreichen Freundeskreis, der von liberalkonservativen bis linksintellektuellen Geistesgrößen reichte. Dies spricht für ihre Fähigkeit, Menschen über ideologisch-politische Auseinandersetzungen hinweg persönlich zu fesseln. Über ihre journalistische Tätigkeit hinaus veröffentlichte Netter auch einige Skizzen und Novellen, die jedoch inzwischen verschollen scheinen. Ihre Rezensionen dagegen, die sie z. T. in ihren Briefen erwähnt, harren noch eingehender Würdigung.
Während des arbeitsreichen Lebens und besonders im Alter hatte Netter mit ihrer labilen Gesundheit zu kämpfen und in Briefen an Oskar Geck beklagte sie ihren Lebensüberdruss. Netter starb im Alter von 78 Jahren; der NS-Terror der 1930er Jahre blieb ihr so erspart. Offensichtlich existiert kein Nachlass; und es sind auch keine Nachrufe auf diese außergewöhnlich begabte und stets mit den materiellen Erfordernissen ihrer Existenz kämpfende Frau überliefert.
Quellen: StadtA Mannheim Personenstandsbogen, Personengeschichtl. Sammlung S 1/3433, Mannheimer Adressbücher (1856–1934), NL Oskar Geck, 1965, Nr. 3 u. 4; NL Friedrich Walter, 3/1956, Nr. 42; Neue Mannheimer Zeitung vom 27. 2. 1926.
Werke: Die Gobelins im Mannheimer Schloss, in: Frankfurter Ztg. vom 5. 2. 1903, auch in: Mannheimer Geschichtsbl. Nr. 5, 1903, 124 –127; Die Geschichte d. Mannheimer Handelskammer von 1830–1879, Diss. phil. Heidelberg, 1924.
Nachweis: Bildnachweise: nicht ermittelt.

Literatur: Peter Cahn, Das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt am Main (1878–1978), 1979; Ernst Leopold Stahl, Das Mannheimer Nationaltheater. Ein Jahrhundert Deutscher Theaterkultur im Reich, 1929, 394.
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