Reichert, Karl 

Geburtsdatum/-ort: 24.01.1852;  Ulm
Sterbedatum/-ort: 20.03.1921;  Ludwigstal bei Tuttlingen
Beruf/Funktion:
  • Bergrat und Hüttenwerksvorstand
Kurzbiografie: 1871–1872 Studium an der Fachhochschule für Mathematik und Naturwiss. in Stuttgart
1872–1875 Studium an der Fachhochschule für chemische Technik
1874 Praktika bei Eisen- und Stahlwerken im Ruhrgebiet
1875 Praktikum im Hüttenwerk Wasseralfingen
1875–1876 Militärdienst
1876 Chemisches Laboratorium am Polytechnikum Stuttgart
1876–1879 Verwaltungsassistent im Hüttenwerk Friedrichstal
1878 Erste Dienstprüfung
1879–1880 weiterer Dienst in Wasseralfingen, Königsbronn und Friedrichshall
1881 Zweite Dienstprüfung
1884 Ernennung zum Hüttenverwaltungsassistent in Ludwigstal
1887 Ernennung zum Werksvorstand in Ludwigstal
1907 Ernennung zum Bergrat
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1884 Marie Theodora, geb. Jäger (1858–1939)
Eltern: Vater: Carl Wilhelm Heinrich Reichert (1817–1901), Hauswundarzt
Mutter: Anna Barbara, geb. Schmid (* 1824)
Geschwister: Julie Mathilde (1853–1867)
Kinder: Elisabeth Mathilde
GND-ID: GND/101950952X

Biografie: Uwe Fliegauf (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 219-220

Nachdem der Vater die angestrebte, besser bezahlte Anstellung als Hauswundarzt am Marienhospital erhalten hatte, kehrte die Familie kurz nach der Geburt des Sohnes 1852 von Ulm wieder nach Stuttgart zurück, wo Karl Reichert in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs und die Schule besuchte. Seit 1871 absolvierte er dort ein praxisorientiertes naturwissenschaftliches und mathematisches Studium, das ihn während zweier größerer Praktika im Ruhrgebiet und im Hüttenwerk Wasseralfingen mit dem Eisenhüttenwesen in Verbindung brachte. Nach der Ableistung des einjährig-freiwilligen Militärdienstes, dem er später noch das Patent als Reserveoffizier folgen ließ, und einer kurzen Labortätigkeit am Stuttgarter Polytechnikum bereitete Reichert sich seit 1876 als Hüttenkandidat auf eine leitende Tätigkeit im württembergischen Staatshüttenwesen vor. Zunächst wurde er als Assistent des Hüttenverwalters in der Stahl- und Sensenfabrik Friedrichstal eingesetzt, wo er sich dank seiner Kompetenz und Tüchtigkeit rasch bewährte, so dass er die erste Dienstprüfung 1878 erfolgreich abzulegen vermochte. Auch die weitere Probedienstzeit, die er auf verschiedenen Positionen der Hüttenverwaltungen in Königsbronn und Wasseralfingen sowie auf der Saline Friedrichshall ableistete, verlief erfolgreich und 1881 bestand Reichert schließlich die anspruchsvolle zweite Dienstprüfung mit achtbarem Ergebnis und „zureichendem Erfolg“. Als Anwärter bewarb er sich nun um die begehrte, feste Anstellung als Hüttenbeamter und wurde schließlich 1884 als Hüttenverwaltungsassistent nach Ludwigstal berufen. Das anschließende zügige Avancement im Staatsdienst, das ihn bereits 1887 an die Spitze dieses 1696 bei Tuttlingen an der Donau gegründeten Eisen verarbeitenden Betriebs führte, dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass dieses kleine Regionalwerk mit seinen kaum 100 Beschäftigten zum damaligen Zeitpunkt zu den wirtschaftlichen Problemfällen des württembergischen Hüttenwesen zählte: Peripher gelegen, vollständig auf Rohstoffzufuhr angewiesen und durch die wachsende Konkurrenz der technologisch fortschrittlichen rheinischen Anbieter bedroht, verzeichnete das Werk seit Jahren rückläufige Erträge, weshalb die Finanzkommission der Abgeordnetenkammer bereits über die Schließung des Standorts debattierte. Damit hatte Reichert kurz nach seiner Berufung die erste Bewährungsprobe zu bestehen. Es zeigte sich, dass er als Werksvorstand seine Lebensaufgabe gefunden hatte und im neuen Amt seine fachlichen Stärken voll zur Geltung kamen: So reagierte er besonnen auf die existenzbedrohende Situation und wies gegenüber den kritischen Abgeordneten auf die erzielten Konsolidierungserfolge, die Zweckmäßigkeit der technischen Anlagen und auf die Tatsache hin, dass Ludwigstal als Lieferant von Gussteilen für die aufstrebende regionale Wirtschaft eine besondere Bedeutung zukam. Auch betonte Reichert die Verantwortung des Bergrates für die wirtschaftliche Versorgung der von einer Werksstilllegung betroffenen Ludwigstaler Hüttenarbeiterfamilien – nicht zuletzt dieser Argumentation vermochten sich die Volksvertreter nicht zu entziehen. Letztendlich sicherte Reichert durch sein entschiedenes Eintreten und besonderes Engagement den Werksstandort. Die gute Geschäftsentwicklung der folgenden Jahre, die auch auf Reicherts Geschick bei der Gewinnung neuer Kunden für das Werk zurückzuführen war, verhinderte, dass ein solcher Plan wieder auf der politischen Agenda erschien. Parallel dazu förderte er die verbliebene Eisengießerei und es gelang ihm, mit der Achsenproduktion einen zunächst profitablen Produktionszweig zu etablieren, der allerdings 1905 wegen ungünstiger Wettbewerbsbedingungen wieder aufgegeben werden musste. Die verbliebene Kundengießerei konnte, so erkannte Reichert frühzeitig, nur dann aufrechterhalten werden, wenn man deren technische und produktbezogene Spezialisierung vorantrieb. Seine auch gegenüber dem zögerlichen Bergrat durchgesetzte Strategie zahlte sich aus: Unter den günstigen Bedingungen der Hochindustrialisierung vor dem Ersten Weltkrieg machte sich neben der hohen Produktqualität auch seine vorausschauende Entscheidung für die Erzeugung von Automobil- und Seriengussteilen bezahlt.
So geschickt er im geschäftlichen und hüttentechnischen Bereich agierte, so schwierig und zunehmend konfliktär gestalteten sich seine Beziehungen zur Arbeiterschaft, der er als radikaler Gegner gewerkschaftlicher Mitbestimmung mit einem – für ihn als überzeugtem Reserveoffizier typischen – autoritär-patriarchalen Führungsstil gegenübertrat. Regelmäßig polemisierte deshalb die Schwäbische Tagwacht gegen den selbsternannten „König von Ludwigstal“ und sogar im Landtag – das bildete ein Novum im württembergischen Hüttenwesen – wurde auf Veranlassung sozialdemokratischer Abgeordneter über Reicherts angeblich unhaltbares Gebaren diskutiert, ohne dass ihm allerdings konkrete Dienstvergehen nachgewiesen werden konnten. Obwohl die befürchtete Eskalation mit wirtschaftlichen Nachteilen ausblieb, konnte nach 1905/06 von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Werksvorstand und Mitarbeitern im Werk keine Rede mehr sein – darüber verblassten die Verdienste Reicherts. Durch die schwierige Kriegszeit vermochte er das ihm am Herzen liegende Hüttenwerk noch zu führen, dann machte die angegriffene Gesundheit und zunehmende Altersschwäche seine Ablösung unerlässlich.
Quellen: StadtA Tuttlingen. StadtA Stuttgart. Familienregister Bd 19, Teil 1. HStAS E 222: 725. WABW B 1001: 21, 81, 91, 364, 478, 482, 486. Protokoll der Abgeordnetenkammer, 31.3.1887 und 5.7.1905. Schwäbische Tagwacht, Nr. 108, 1906.
Nachweis: Bildnachweise: WABW B 1011: 866.

Literatur: E. Reinert, Württ. Eisenhütten in der Gegend der oberen Donau 1941; U. Fliegauf, Die Schwäbischen Hüttenwerke zwischen Staats- und Privatwirtschaft 2007, 408 ff.
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