Rohr, Ossy 

Andere Namensformen:
  • Rohr, Oskar
Geburtsdatum/-ort: 24.03.1912;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 09.11.1988;  Mannheim
Beruf/Funktion:
  • Fußballnationalspieler, erster deutscher Berufsfußballer
Kurzbiografie: 1919–1927 Besuch d. Volksschule (Neckarschule) in Mannheim
1920–1928 Schüler- u. Jugendspieler beim MFC Viktoria 1912 u. dem MFC 02 Phönix in Mannheim
1927–1931 Lehre als Elektromechaniker bei BBC Mannheim
1928–1931 Jugend- u. Ligaspieler beim VfR Mannheim
1931–1933 Spieler beim FC Bayern München
1933–1934 Spieler bei Grashoppers Zürich
1934–1939 Berufsspieler bei Racing Strasbourg
1937 Torschützenkönig d. französischen Liga
1939–1942 Internierung in Frankreich
1942 Aufenthalt in Sète in Südfrankreich, Inhaftierung, Überstellung an dt. Behörden
1942–1945 Soldat im II. Weltkrieg
1945–1949 Spieler bei verschiedenen Vereinen in d. Oberliga Süd
1951–1976 Angestellter im Amt für Verteidigungslasten, Mannheim
Weitere Angaben zur Person: Religion: freirelig.
Verheiratet: 1947 (Mannheim) Josephine, geb. Seibert (1915–2009)
Eltern: Vater: Philipp (1869–1944), Fuhrmann, Hafenarbeiter u. Gastwirt
Mutter: Katharina, geb. Erkert (1871–1962)
Geschwister: 6, Philipp (1893–1965), Otto (1895–1930), Karl (1897–1970), Rosa (geboren/gestorben 1899), Paula (1903–1994) u. Heinrich (1905–1968)
Kinder: keine
GND-ID: GND/1047270137

Biografie: Karl-Heinz Schwarz-Pich (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 315-316

Rohr gehört als Mittelstürmer zu den besten Spielern, die der deutsche Fußball in seiner Geschichte hervorgebracht hat. Seine Spielweise zeichnete sich durch ein variables Stellungsspiel aus; er war schnell und kraftvoll im Antritt, ein guter Techniker, beidfüßig und verfügte über einen ebenso präzisen wie fulminanten Schuss.
Rohrs Fußballleidenschaft begann auf den Neckarwiesen gegenüber der Mannheimer Innenstadt, wo sich die Kinder und Jugendlichen zum Fußballspiel trafen. Als Schüler spielte er beim MFC Viktoria 1912, dessen Spielgelände sich unweit der elterlichen Wohnung in der Dalbergstraße 40 unterhalb der Jungbuschbrücke befand. Von dort dürfte er zum MFC Phönix 02 gewechselt sein, wo schon seine beiden älteren Brüder Philipp und Heinrich in der Liga-Mannschaft spielten. 1928 wurde der VfR Mannheim, der in den 1920er-Jahren in Süddeutschland zu den Spitzenmannschaften zählte, auf ihn aufmerksam. Rohr trainierte bereits als 16-Jähriger mit der Ligamannschaft und wurde mit 18 Jahren Stammspieler. Als beim FC Bayern München 1931 der Nationalmittelstürmer Josef Pöttinger verletzungsbedingt für längere Zeit ausfiel, holten die Bayern Rohr an die Isar. Weil er noch nicht volljährig war, unterschrieben die Eltern den Vertrag und erhielten dafür ein Handgeld. Rohr erzielte für die Bayern in 32 Spielen 29 Tore, darunter auch das erste Tor beim 2:0 Sieg über Eintracht Frankfurt 1932, was für die Bayern den Gewinn ihrer ersten deutschen Meisterschaft bedeutete. Rohr, den sie „Ossy“, „Bubi“ oder „Schnackl“ nannten, war in München so populär, dass er 1931 ein Filmangebot erhielt und an der Seite des bekannten Komikers Weiß Ferdl in dem Film „Mutter der Kompanie“ mitwirkte. 1932 berief Reichstrainer Otto Nerz den 19-Jährigen in die Nationalmannschaft. Eine ganz große Karriere schien ihm in Deutschland bevorzustehen, doch Rohr wechselte im Sommer 1933 mit seinem Trainer Richard Dombi zu den Grashoppers Zürich. Mit diesem Verein wurde er 1934 Schweizer Pokalsieger. Danach unterschrieb er einen Profivertrag bei Racing Straßburg und ging damit als erster deutscher Berufsfußballer in die Fußballgeschichte ein. Allerdings bedeute das auch das Ende seiner Karriere in der deutschen Fußballnationalmannschaft, in der grundsätzlich nur Amateure spielberechtigt waren; die Nationalsozialisten lehnten den Berufsfußball kategorisch ab. Rohr wurde als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt und seine Erfolge im Ausland totgeschwiegen. Anfang der 1940er-Jahre wurde sogar das Gerücht lanciert, Rohr sei in der Fremdenlegion. Racing Strasbourg indessen, das in Frankreich nie zu den führenden Vereinen gehört hatte, feierte mit Rohr in den 1930er-Jahren seine bisher größten Erfolge. In Rohrs erster Saison 1934/35 wurde Racing französischer Vizemeister; Rohr erzielte in 22 Spielen 20 Tore. In der folgenden Saison waren es 28 Tore, und 1937 wurde er mit 30 Treffern französischer Torschützenkönig und von Albert Lebrun empfangen, dem Präsidenten der Französischen Republik. Insgesamt erzielte Rohr in seinen fünf Jahren bei Racing Strasbourg 117 Tore in der ersten französischen Liga, rechnerisch also 23 Treffer pro Saison.
Vom Dezember 1939 an, drei Monate nach Ausbruch des II. Weltkriegs, wurde Rohr von den Franzosen zweieinhalb Jahre in einem Internierungslager festgehalten. Der Schriftsteller Arthur Koestler beschrieb den Aufenthalt in den Lagern als katastrophal und menschenunwürdig. Rohr hat über diesen Zeitabschnitt seines Lebens später auch im Familienkreis nie gesprochen. Im Mai 1942 wurde er entlassen und ließ sich in Sète an der Mittelmeerküste nieder. Sète lag in der „zone non occupée“, der unbesetzten Zone. Er schloss sich dem FC Sète an, ohne möglicherweise für den Verein ein Pflichtspiel bestritten zu haben; denn schon wenige Wochen nach der Entlassung wurde er, zeitlebens ein unpolitischer Mensch, wegen „kommunistischer Umtriebe“ und „antifranzösischer Propaganda“ verhaftet und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, wovon er einen Monate abbüßte. Rohr hatte diesen Vorwurf bestritten; es kann unterstellt werden, dass der Haftgrund zwischen der Gestapo und französischen Behörden abgesprochen war.
Nach der Entlassung aus dem französischen Gefängnis wurde Rohr Deutschland überstellt und zunächst in Karlsruhe in Untersuchungshaft genommen. Am 20. Oktober 1942 wurde er ins Strafgefängnis Kislau überführt, von dort aber bereits am 31. Oktober nach Mannheim entlassen, wo er sich dann bei seinen Eltern in H 5, 17 in der Innenstadt aufhielt. Die rasche Entlassung hatte wohl sein ältester Bruder Philipp, Unterscharführer der SS, bewirkt. Im Dezember 1942 wurde Rohr zum Kriegsdienst eingezogen und diente an der Ostfront zuletzt als Gefreiter bei der Heeres-Flak 278. Aufgrund einer leichten Verwundung wurde er in den letzten Kriegswochen aus dem Kampfgebiet ausgeflogen. Dabei hatte er das Glück, dass ihn ein aus München stammender Pilot erkannt hatte und als letzten Mann mit an Bord der Maschine nahm.
Ab Mai 1945 war Rohr wieder in Mannheim gemeldet. Vor der Kapitulation hielt er sich inkognito bei seinem Bruder Heinrich in Viernheim auf. So entging er der Gefangennahme durch die Amerikaner. Anfang 1947 wurde Rohr von den Franzosen in der Nähe von Ludwigshafen, wo er ein Fußballspiel besuchte, erneut verhaftet und musste eine Reststrafe von zwei Monaten im Gefängnis von Straßburg absitzen.
Bis 1950, dem Ende seiner aktiven Spielzeit, bestritt Rohr noch 60 Spiele in der höchsten deutschen Spielklasse und erzielte 27 Treffer. Rohr schoss damit mehr Tore als die meisten anderen Mittelstürmer in Deutschland und das, obwohl er inzwischen schon fast vierzig Jahre alt war: 1945/46 in der Vorrunde für den VfR Mannheim, in der Rückrunde für den TSV Schwaben Augsburg, 1947/48 für den FK Pirmasens und 1948/49 wieder in Mannheim für den SV Waldhof. Die zahlreichen Vereinswechsel sind damit zu erklären, dass der jeweilige Verein einen Arbeitsplatz für den Spieler beschaffen musste, was unmittelbar nach dem Krieg oft nur für kurze Zeit möglich war; seinen erlernten Beruf, Elektromechaniker, hat Rohr nie ausgeübt. Berufsfußball kam in Deutschland erst lange Zeit nach der Spielerkarriere des ersten deutschen Berufsfußballers auf. Bis 1951 betätigte sich Rohr dann beim TSV Handschuhsheim als Trainer. Auf Fürsprache des ehemaligen Nationalspielers Kurt Langenbein vom VfR Mannheim, der Verwaltungsdirektor bei den Städtischen Verkehrsbetrieben in Mannheim war, erhielt er dann eine Anstellung im Städtischen Amt für Verteidigungslasten.
So verbrachte Rohr die letzten Lebensjahrzehnte wieder in seiner Geburtsstadt. Er wohnte in der Neckarstadt-Ost, unweit der Neckarwiese, wo seine ersten Spielversuche stattgefunden hatten. Noch mit 60 Jahren spielte er in der Altenherrenmannschaft des VfR Mannheim und in einer Mannheimer Prominentenauswahl. Rohr, ein starker Raucher, starb mit 76 Jahren an Lungenkrebs. An der Beerdigung nahm auch eine Abordnung des FC Bayern München teil.
Quellen: StadtA Mannheim, Familienstandsbogen; Personalamt d. Stadt Mannheim, Lebenslauf Rohrs; GLA Karlsruhe, Politischer Meldebogen vom 13.12.1946, Akte Gefangenenlager Kislau u. 465 a/56/SJ/315 Spruchkammerakte Philipp Rohr (Bruder); StadtA Strasbourg 603 MW 685=period 1919–1939, Meldebogen Rohrs; StadtA Zürich, Meldebogen; Auskünfte d. Grasshoppers Zürich vom 13.10.2008, des TSV Handschuhsheim vom 19.10.2008, sowie d. Ehefrau Josephine Rohr u. des Neffen Dieter Baschenegger, beide Mannheim, vom September 2008.
Nachweis: Bildnachweise: Fußballhochburg 1995, 123; DFB, 2000, 366 (vgl. Literatur).

Literatur: 12 Uhr Blatt, Berlin, vom 1.6.1943; Gerhard Zeilinger, Die Fußballhochburg Mannheim, 1995; VfR Mannheim (Hg.), 100 Jahre VfR Mannheim 1896–1996, 1996; Hans Blickensdörfer, Rund sind Ball u. Baskenmütze – Erinnerungen, 1997; Jürgen Bitter, Ossy Rohr, in: Deutschlands Fußball Nationalspieler, 1997, 398; DFB (Hg.), 100 Jahre DFB, 2000.
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