Dichtel, Anton 

Geburtsdatum/-ort: 18.09.1901; Brilon/Westfalen
Sterbedatum/-ort: 29.04.1978;  Freiburg im Br.
Beruf/Funktion:
  • Mitglied des Landtags – CDU, Staatsrat, Regierungspräsident
Kurzbiografie: 1907-1915 Volksschule in Brilon
1915-1919 Unselbständiger Arbeitnehmer
1920 1. Jan.-1933 13. Nov. Sekretär der christlichen Fabrik- und Transportarbeitergewerkschaft in Brilon, Essen, Halle, Magdeburg, Berlin und ab 1924 in Freiburg im Br., Vorsitzender des Kartells der Christlichen Gewerkschaften
1929-1933 Mitglied des Bürgerausschusses von Freiburg und des Vorstandes der Badischen Zentrumspartei
1933 16. Sep.- 13. Nov. arbeitslos
1933 15. Nov.-1946 1. Dez. Angestellter in einer Freiburger Lebensmittelgroßhandlung, zuletzt Prokurist
1944 Inhaftierung nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli
1945 Mitbegründer der BCSV, dem Vorläufer der CDU-Südbaden
1946-1956 Stadtrat in Freiburg
1946 1. Dez.-1947 6. Aug. Staatskommissar für Ernährung im ersten vorläufigen (süd)badischen Staatssekretariat
1948-1978 Mitglied des Landtags – (Süd-)Baden bis 1952, Parteivorsitzender der CDU-(Süd-)Baden bis 1966, danach Ehrenvorsitzender
1953-1957 Staatsrat in der Regierung von Baden-Württemberg
1956-1957 Mitglied des Landtags – CDU
1956 Oberbürgermeister-Kandidatur in Freiburg
1957 1. Aug.-1967 31. Okt. Südbadischer Regierungspräsident
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Auszeichnungen: (Auswahl): Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland mit Stern (1958) und Schulterband (1967); Nationalorden der Republik Madagaskar und Komturkreuz des französischen Ordens für landwirtschaftliche Verdienste (1962); Komturkreuz mit Stern des Verdienstordens des Malteserordens (1963); Großkreuz mit Stern des Königreichs Saudi-Arabien (1966); Verfassungsmedaille in Gold des Landes Baden-Württemberg und Goldene Ehrennadel des Verbands der Kriegsbeschädigten (1967); Großkreuz des päpstlichen Silvesterordens (1968); Ehrenbürger von Bad Krozingen (1967), Bernau (1968), (Bad) Bellingen (1969) und Freiburg (1971)
Verheiratet: 1926 (Brilon) Maria, geb. Tilly (1906-1976)
Eltern: Vater: Wilhelm (1869-1914), Schreinermeister
Mutter: Wilhelmine, geb. Dohle (1874-1947)
Geschwister: 4:
Josef (geb. 1905)
Franz (geb. 1907-1945 für tot erklärt)
Albert (geb. 1909)
Klemens (geb. 1914)
Kinder: 3:
Angela, verheiratete Wüst (geb. 1930)
Irmgard (geb. 1932)
Robert (geb. 1934)
GND-ID: GND/11609611X

Biografie: Fred Ludwig Sepaintner (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 49-52

Christlich-soziales Engagement und ein gerüttelt Maß an Beharrlichkeit, das waren wohl die hervorstechenden Eigenschaften des Westfalen Dichtel, der bereits 24-jährig nach Freiburg gekommen war und (süd)badische Nachkriegsgeschichte mitgeschrieben hat.
Dichtels Jugend war vom frühen Tod des Vaters überschattet; seine schulische Ausbildung verlief kärglich und seinen Fähigkeiten und Ambitionen keineswegs adäquat. Das Eigenstudium vornehmlich von Werken, die im Volksverein für das katholische Deutschland erschienen waren und Fortbildungen, wie sie das Kolpingwerk und die christlichen Gewerkschaften boten, verhalfen aber zu einem gewissen Ausgleich, und man scheint dann auch rasch auf die Fähigkeiten des jungen Mannes aufmerksam geworden zu sein.
Karriere begann als Sekretär der christlichen Gewerkschaften in der Heimatstadt, ein erster Anfang, wie die weiteren Stationen zeigen: Essen, Halle, Magdeburg und Berlin, wo er Sekretär des Zentralverbandes der christlichen Fabrik- und Transportarbeitergewerkschaft war. Die nächste und entscheidende Station war dann bereits Freiburg im Breisgau, wo er rasch emporstieg, den Vorsitz des Ortskartells der christlichen Gewerkschaften einnahm, Stadtverordneter für das Zentrum wurde, in den Vorstand der Badischen Zentrumspartei einrückte.
Den Karrierebruch brachte dann der Beginn der NS-Herrschaft; Dichtel verlor seine Ämter; er trat in die Freiburger Lebensmittelgroßhandlung „Stadt und Land“ ein, war wiederum nicht ohne Erfolg, erhielt die Prokura, vor allem aber: der militärisch als wichtig eingestufte Versorgungsbetrieb bewahrte Dichtel vor dem Kriegseinsatz. Dass der ehemalige Zentrumsmann den braunen Machthabern dennoch nie geheuer war, belegt die Tatsache, dass auch er im Rahmen der Aktion „Gewitter“ nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 vorübergehend inhaftiert wurde.
Mit dem Kriegsende begann der entscheidende Abschnitt in Dichtels Lebens. Inzwischen Teilhaber der Freiburger Lebensmittelgroßhandlung Karl Sexauer engagierte er sich auch wieder politisch, wurde Mitbegründer der BCSV, woraus die südbadische CDU schließlich hervorging, Freiburger Stadtrat und Mitglied des ersten (süd)badischen Landtags. Dass er sich auch dort hervortat, zeigt seine Berufung in das erste, von der französischen Besatzung Ende 1946 eingesetzte Staatssekretariat. Dichtel wurde „Staatskommissar für Ernährung“ oder, wie er selbst ebenso sarkastisch wie zutreffend formulierte: für „Unterernährung“. Seine Amtsführung scheint der Besatzungsmacht aber nicht gerade zugesagt zu haben: nach einem halben Jahr wurde Dichtel wieder seines Amtes enthoben und sogar inhaftiert. Sei dahingestellt, ob der „Ordre de Mérite Agricole“, den er 1962 vom französischen Staat erhielt, hierfür eine Art „Wiedergutmachung“ sein sollte.
Inzwischen hatte Dichtel längst die wichtigsten Stationen seines Lebens erreicht: war südbadischer CDU-Vorsitzender, baden-württembergischer Staatsrat und schließlich südbadischer Regierungspräsident geworden. 1947, als das erste (süd)badische Parlament gewählt war, wurde Dichtel Fraktionsvorsitzender der BCSV/ CDU und weil der Staatspräsident Leo Wohleb als Regierungschef nicht länger Parteivorsitzender sein konnte, auch Parteivorsitzender. Dichtel trat damit ein Amt an, das spannungsgeladener kaum sein konnte. Keine andere Partei durchlitt die „Badenfrage“ in ähnlicher Weise wie die CDU, war nur annähernd so tief gespalten. Der Vorsitzende aber musste zusammenhalten, ausgleichen zwischen beiden entgegengesetzten Flügeln: der Mehrheit, die für die Wiederherstellung des Landes Baden eintrat, gleichermaßen aber auch den Angehörigen der Minderheit, den Befürwortern des Südweststaates, und Dichtel musste – Realpolitiker ex officio – seine Partei erfolgreich durch alle anstehenden Wahlen, zumal die der Verfassunggebenden Landesversammlung führen, damit badischen Interessen beim Übergang zum neuen Land Baden-Württemberg auch künftig gewahrt würden. Vor der nächsten Herausforderung stand er bereits im Jahr darauf. 1953 war Reinhold Maier, der erste baden-württembergische Ministerpräsident, zurückgetreten und Gebhard Müller ging daran, die erste CDU-geführte Landesregierung zu bilden. Müller fuhr eigens nach Freiburg, um Dichtel zum Eintritt in sein Kabinett zu bewegen, der aber zögerte zuerst, ließ den CDU-Landesvorstand darüber befinden. Im zweiten Anlauf schließlich votierte die Mehrheit für den Eintritt Dichtels in die Landesregierung. Mag Dichtel als Staatsrat, ministergleich ohne eigenen Geschäftsbereich, in Stuttgart für Baden erfolgreich agiert haben, die für ihn schmachvolle Niederlage bei der Oberbürgermeisterwahl in Freiburg 1956, als der Staatsrat und CDU-Landesvorsitzende heftig diffamiert wurde und schließlich gegen seinen Parteifreund, den bisherigen Freiburger Bürgermeister Josef Brandel mit 28,4 % gegen 67,7 % überraschend eindeutig unterlag, trägt fraglos den Charakter der Abrechnung mit dem „Verräter“ altbadischer Interessen.
Dergestalt angeschlagen schien der Höhepunkt von Dichtels Laufbahn überschritten, das Verbleiben in Stuttgart allein seine politische Zukunft. Da bot Gebhard Müller ihm das Amt des südbadischen Regierungspräsidenten an. Die Integration des Landes zu fördern, insbesondere aber die Verhältnisse in Südbaden, und die neugeschaffene Mittelinstanz weiter zu festigen, wie Gebhard Müller beim Festakt der Amtsübergabe in Freiburg betonte, dazu schien Dichtel der richtige Mann.
Aufschlussreich für Dichtels Verständnis von der neuen Funktion erscheint die Tatsache, dass er sich sogleich aller Stuttgarter Verpflichtungen entledigte: er gab nicht nur das Amt des Staatsrats zurück, sondern legte sogar sein Landtagsmandat nieder. Allein den CDU-Landesvorsitz behielt er bei: politischer Repräsentant Südbadens wollte er also sein, anders als seine württembergischen Kollegen in Stuttgart und Tübingen, Vermittler zwischen Regierung und Region, und in welch beachtlichem Maße ihm dies gelungen ist, lässt die Antwort Kurt Georg Kiesingers erkennen. Gefragt, ob es so etwas wie ein eigenes Bewusstsein in den Regierungspräsidien gebe, meinte er, eigentlich nur in Südbaden, und sah dafür historische und personelle Gründe.
Religiosität und das Streben nach sozialem Ausgleich blieben unverändert Grundzüge von Dichtels Wirken, auch als Regierungspräsident. Die direkt zupackende Art der Amtsführung, oft vor Ort, seine tiefe Verankerung in der Landschaft Südbadens und Volkstümlichkeit gleichermaßen trugen zu seinem Erfolg bei, genauso wie seine Verwaltungskompetenz, die mit dem ihm eigenen Beharrungsvermögen in verbindliche Formen gekleidet hervortritt. Dichtels scheinbare Ubiquität im Bezirk – er kannte fast alle einflussreichen Repräsentanten öffentlicher Interessen, ob sie aus dem Mittelstand, der Industrie, dem Handwerk oder aus der Landwirtschaft kamen – und seine für die damalige Zeit erstaunlich intensive Pressearbeit bewirkten ein Übriges. Der Westfale erschien bald als der Volksmann schlechthin. Wenn ihn die Presse beim Ausscheiden aus dem Amt 1967 geradezu überschwänglich würdigte, „unverwischbare Spuren“ sehen wollte, die er in Südbaden hinterlassen habe, so fällt ein bezeichnendes Licht auf die zeitgenössische Popularität des „Südbadischen Landesvaters“, wie ihn nicht allein die Presse sondern selbst Ministerpräsident Kiesinger apostrophierte.
Die Arbeitsschwerpunkte des Regierungspräsidenten Dichtel, zumal in den frühen Jahren seiner Amtszeit, lassen sich nur im Kontext der noch andauernden Nachkriegszeit begreifen. So stand die Beseitigung noch vorhandener Kriegsschäden und der beharrliche Hinweis auf die Nachteile, die Südbaden seit dem I. Weltkrieg hatte erleiden müssen, zumindest in der ersten Hälfte seiner Amtszeit ganz oben in der Prioritätenliste seiner Bemühungen. Parallel dazu galt seine Aufmerksamkeit dem Ausbau der Verkehrswege; denn darin sah er Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufschwung: der Fertigstellung der Autobahn Frankfurt – Basel 1962 kommt dabei herausragende Bedeutung zu, gleichermaßen aber auch der damals oft heftig umstrittenen Neugestaltung ihrer Verkehrsanbindungen. Dichtel hatte durchaus auch erkannt, wie wichtig für Südbaden die Verbesserung der West-Ost-Achsen ist, auch wenn der nachhaltige Erfolg auf diesem Gebiet ausbleiben mochte. Die Eisenbahntrasse entlang der Oberrheinebene wurde während Dichtels Amtszeit wieder zweigleisig ausgebaut und zu einer der wichtigsten Strecken der Bahn im Zentrum Europas. Und schließlich weist Dichtels Funktion als Vorsitzender der Rheinhafengesellschaft Weil am Rhein auf sein Interesse auch am Ausbau der Rheinschifffahrt. Der Förderung der Landwirtschaft, benachteiligter Gebiete wie des Hotzenwaldes zumal, galt das Interesse des Regierungspräsidenten genauso wie dem wieder einsetzenden Fremdenverkehr. Dass Dichtel dabei auf die zahlreichen Kur- und Badeorte zwischen Baden-Baden und Bad Bellingen abhob, verdeutlicht sein Engagement in den Bäderverwaltungen. Dies trug ihm später gleich mehrere Ehrenbürgerwürden ein. Kulturelles Engagement bewies Dichtel, wenn es um die Traditionspflege und die alemannische Fasnet ging. So setzte er sich beispielsweise dafür ein, dass der Hebelpreis an Deutsche, Schweizer, Vorarlberger und Elsässer Dichter und Schriftsteller gleichermaßen verliehen wurde. Im kulturellen Erbe sah er „ewige Werte“, die er pflegen wollte, damit „der Mensch nicht wurzellos und seiner Heimat entfremdet“ werde, wie er in seiner Rede beim Hebel-Schatzkästlein am 20. Mai 1967 betonte. Bei solchen Gelegenheiten hob Dichtel auch immer wieder die Bedeutung der großen alemannischen Kulturträger, neben Hebel besonders Hans Thoma oder Heinrich Hansjakob hervor. Bei fast allen „Geburtstagsfeiern“ der Gemeinden betonte er, dass Traditionspflege Ehrenpflicht sei, und besonders gerne präsentierte sich Dichtel auf Heimatfesten überall in seinem Bezirk.
Ein eminent wichtiges Kennzeichen der Ära Dichtel schließlich, „Herzensangelegenheit“, wie er bei der Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes an den Colmarer Oberbürgermeister Joseph Rey am 17. Februar 1967 formulierte, war die Intensivierung der badisch-elsässischen Kontakte. Die Freundschaft mit Rey, die auf die gemeinsame NS-Haft zurückging, half hierbei immer wieder, Bahnen zu brechen: „Wir wollen Brücken bauen!“ lautete Dichtels Devise, was ebenso wörtlich wie im übertragenen Sinne zu verstehen war. Die Einweihung der Europabrücke von Kehl nach Straßburg 1960 fand weit über die Grenzen der benachbarten Regionen hinaus Beachtung und die Gründung der CIMAB, der Interessengemeinschaft Breisgau-Mittleres Elsass, ist nur ein weiteres Indiz für die damals noch beginnende Normalisierung im Verhältnis zum stammverwandten Nachbarn auf der anderen Rheinseite. Weniger spektakulär, indes nicht minder wichtig, vollzog sich unterdessen die Verbesserung des Verhältnisses zu den Schweizer Nachbarkantonen.
Der untersetzte, eher korpulente Herr mit dem ausdrucksvoll mächtigen Haupt, dichtem, welligem Haar und den durchdringenden Augen repräsentierte ausgesprochen gerne, nahm, auch nachdem ihm Hermann Person im Amt des Regierungspräsidenten gefolgt war, noch oft und gerne öffentliche Auftritte wahr und genoss sichtlich die verbliebene Popularität. Erst in seinen letzten Jahren wurde es ruhiger um ihn. Mag der Eindruck seines ihm ureigenen Stils damals bereits verblasst sein, es blieb das Verdienst, dem Amt des Freiburger Regierungspräsidenten weit mehr Bedeutung verschafft zu haben, als es bei der Gründung der Mittelinstanz beabsichtigt gewesen sein mochte. Und er war es auch zuerst, der seine, die größte und einflussreichste Partei im Bezirk, in schwierigen zwei Jahrzehnten zusammenhielt und so das politische Gewicht Südbadens im Südweststaat mitbegründen half, was wohl seine wichtigste Leistung im neuen Lande darstellt.
Quellen: StAF F 30/1, 529, Personalakte u. 5646-5659, Reden als Regierungspräsident, HStAS EA 2/150, Bü 223, Personalakte Innenmin. u. 1/151 Bü 13, Personalakte Staatsministerium [darin: zahlreiche Presseartikel über Dichtel].
Werke: Redemanuskripte aus der Zeit als Regierungspräsident im StAF (vgl. Quellen).
Nachweis: Bildnachweise: Ölgemälde von Fritz Kaiser aus dem Jahr 1969 im Regierungspräsidium Freiburg, Basler Hof; Fotos in: StAF u. BZ vom 29. 7. 1957, auch bei Schneider, 2002, passim (vgl. Quellen u. Lit.).

Literatur: Die CDU in B-W u. ihre Geschichte, hg. von P. L. Weinacht, 1978; ders. u. Tilman Mayer, Ursprung u. Entfaltung christl. Demokratie in Südbaden, 1982; Martin Stingl, Der Kartoffelkrieg, in: ZGO 149, 2001, 471-493, bes. 487-491; Hans Filbinger, A. Dichtel, weitschauender Politiker, in: BH 1, 2002, 31-34; Konrad Schneider, Begegnung mit A. Dichtel, Südbadens populärem Regierungspräsidenten, ebd. 12-30; Handbuch d. b-w Geschichte Bd. 4, 2003, Register, 904.
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