Distelbarth, Paul Heinrich 

Geburtsdatum/-ort: 23.12.1879; Wiesenthal (Böhmen)
Sterbedatum/-ort: 17.01.1963;  Rittelhof/Löwenstein
Beruf/Funktion:
  • Publizist und Verleger
Kurzbiografie: 1885–1889 Volksschule in Morchenstern, Böhmen
1890–1896 Realgymnasium in Zittau, Sachsen
1896–1899 Kaufmännische Lehre in Stuttgart, dann bis 1900 Kaufmännische Tätigkeit in Paris
1901–1902 Militärdienst als „Einjährig-Freiwilliger“, Leutnant
1902 Eintritt in das väterliche Modeschmuck-Geschäft in Morchenstern, nahe Gablonz
1911 Übernahme u. Ausbau des väterlichen Unternehmens
1914–1919 Kriegsdienst, Infanterie, in Russland, zuletzt Hauptmann; 1915 Verwundung, EK I
1921 Verkauf des Gewerbes u. d. Liegenschaften in Morchenstern u. Ankauf eines Landgutes in Rittelhof/Löwenstein bei Heilbronn
1921–1931 Obst- und Weinbauer, Mitglied im „Reichsbund d. Kriegsbeschädigten“ u. im „Kyffhäuser-Bund“
1931–1933 Beginn seiner pazifistischen Mittlertätigkeit zwischen dt. u. französ. Kriegsopferverbänden in Kooperation mit d. Dt.-Französ. Gesellschaft, dem Reichsbund d. Kriegsbeschädigten u. Robert Bosch.
1933–1939 Nach Verhaftungsbefehl wegen Verdachts auf militärischen Landesverrat, im Febr. 1934 aufgehoben, Übersiedlung nach Paris u. Arbeit als Schriftsteller u. Zeitungskorrespondent
1939–1945 Rückkehr nach Rittelhof; Kurzbesuch März/April
1941 im besetzten Frankreich
1946–1951 Lizenzträger d. regionalen Zeitung in Heilbronn u. umfassende Publikations- u. Vortrags-Tätigkeit für den demokratischen Wiederaufbau u. die dt.-französ. Verständigung; bis 1954 Mitglied des Vereinsvorstands d. württ.-bad. Zeitungsverleger
1952–1963 Übergabe d. Geschäftsführung d. „Heilbronner Stimme“ an den jüngsten Sohn Frank 1955; Reisen in Frankreich, Russland, China u. Publizistik in völkerversöhnender Wirkungsabsicht
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev., später freireligiös
Auszeichnungen: Ehrungen: Place Paul Distelbarth am Lycée Ronsard in Vendôme (2003); Ev. Paul-Distelbarth-Gymnasium in Obersulm (2005)
Verheiratet: 1911 (Heilbronn) Hildegard, geb. Erhardt (1887–1975)
Eltern: Vater: Paul Rudolf (1843–1924), Kaufmann
Mutter: Marie, geb. Kretschmer (1847–1919)
Geschwister: 4; Elsa (1874–1963), Martha (1876–1964), Hilde (1881–1957) u. Trude (1886–1933)
Kinder: 6;
Wolfgang (1912–2004),
Gerda (geboren 1914),
Hagen (1918–1941),
Kurd (1919–1942),
Freia (1923–2002),
Frank (1928–2012)
GND-ID: GND/116142332

Biografie: Hans Manfred Bock (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 69-74

Distelbarth war neben Friedrich Sieburg der erfolgreichste deutsche Frankreich-Publizist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein „Lebendiges Frankreich“ (1936) war eine Art Replik auf Sieburgs „Gott in Frankreich?“ (1929), das im Nachbarland eine – im doppelten Wortsinne – „fertige“ Nation sah. Die gegensätzliche Wahrnehmung und Bewertung des Frankreichs der Zwischenkriegszeit durch beide Autoren stand in ursächlichem Zusammenhang mit ihrem unterschiedlichen Lebensentwurf und historischen Lebensverlauf. Anders als beim „Artisten“ Sieburg beruhte die Weltsicht des Moralisten Distelbarth auf erfahrungserprobten Wertegrundlagen und von ihnen diktierten Verhaltensmustern, die er seinen Lesern in einer suggestiv sinnfälligen Sprache nahezubringen versuchte. Distelbarth wollte nie ein „Wortemacher“ sein, sondern durch seine Texte gesellschaftliche Wirkung erzielen und die Verhaltensdispositionen seiner Landsleute in elementaren politischen Fragen wie Krieg und Frieden oder deutsch-französisches Verhältnis verändern. Diese politisch-öffentliche Tätigkeit war vor allem das Ergebnis seiner Verarbeitung der Kriegserfahrungen der Jahre 1914 bis 1918. Seine Erziehung und Ausbildung verlief vorher in den Bahnen, die von seinen württembergischen Eltern in Böhmen abgesteckt worden waren. Sein Vater hatte dort 1869 in Morchenstern bei Gablonz ein Glasperlen-Herstellungs- und Exportgeschäft gegründet, das bis 1921 mit einem internationalen Kundenkreis von ihm, ab 1911 von Distelbarth geleitet wurde. Aus seiner Vorkriegsjugendzeit zwischen Böhmen und Württemberg erlangten für Distelbarth mindestens drei Prägungen eine anhaltende Bedeutung: Ein in der böhmischen Diaspora gefestigtes evangelisches Christentum, eine in der württembergischen Familientradition angelegte Verbindung zu Frankreich und eine kaufmännisch motivierte große Offenheit für Fragen des internationalen Lebens. Im August 1914 als sächsischer Oberleutnant mobilisiert verbrachte Distelbarth die Kriegsjahre an der Ostfront und wurde 1915 durch einen Handschuss verwundet. Nach dem Friedensschluss von Brest-Litowsk im Februar 1918 mit der Ukraine bis zum Januar 1919 war er Kreishauptmann von Borissow in Weißrussland. Nach Gründung der Tschechischen Republik und auf dem Höhepunkt seines Gewerbes in Morchenstern verkaufte Distelbarth den böhmischen Besitz und erwarb einen landwirtschaftlichen Betrieb in der württembergischen Heimat seiner Familie, den er ab 1921 zu einem Obst- und Weingut ausgestaltete. In den folgenden zehn Jahren, in denen die landwirtschaftliche und kaufmännische Arbeit in Löwenstein-Rittelhof den Mittelpunkt seiner Existenz bildete, vollzog Distelbarth eine kritische Aufarbeitung der Kriegserfahrungen, als deren Ergebnis er zum Pazifisten wurde. Teile seiner autobiographisch-erzählerischen Aufzeichnungen gelangten in die Hände des Marburger Theologen Martin Rade, der als Exponent des „Kulturprotestantismus“ ein linksliberal-pazifistisches Engagement vertrat. Aus dieser Begegnung entstand eine dauerhafte Kommunikation, die durch Besuche Rades in Distelbarths „Neuer Heimat“ gefestigt wurde. Da die Friedenssicherung nach dem Versailler Vertrag zentral von den deutsch-französischen Beziehungen abhing und diese nach dem Ende der Locarno-Ära ab 1930 sich wieder konflikthaft zu verändern begannen, rückte das deutsch-französische Problem in das Blickfeld des konservativen Pazifisten Distelbarth. Die in seiner Familie traditionelle Verbindung nach Paris – sein Großvater war dort drei Jahre als Baumeister, sein Vater 2½ Jahre als Kaufmann tätig – und sein eigenes Paris-Jahr hielten sein Interesse am Nachbarland ebenso wach wie der Umstand, dass seine jüngste Schwester dort seit 1910 verheiratet war. Die Frankreich- und Friedensaktivitäten Distelbarths, die auch koinzidierten mit wachsenden geschäftlichen Schwierigkeiten, fanden zu Beginn der 1930er-Jahre praktische Bewährungsmöglichkeiten in drei Handlungsfeldern. Vermittelt über die Familie Rade trat er in Kontakt mit Vertretern des größten Kriegsopferverbandes in Frankreich, der „Union fédérale des anciens combattants et victimes de guerre“, U F. Seine Kontaktnahme Anfang 1932 in Dijon mit diesem vorwiegend kleingewerblichen und agrarischen Gesellschaftsausschnitt in der U F wurde für Distelbarth nicht allein zu einem lebensbestimmenden Erlebnis, sondern zu einem Initiationsprozess in die dominante Gesellschaftsstruktur der Dritten Republik der 1930er-Jahre. Er trat in der Folgezeit in Frankreich als Repräsentant des „Reichsbundes der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen“ auf, der mit dem „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ die Parteien der Weimarer Koalition unterstützte und seit 1925 Verbindungen mit der republikanischen und pazifistischen U F aufgebaut hatte. Der 1932 rund 390000 Mitglieder zählende Reichsbund bot für Distelbarths Werben um die deutsch-französische Verständigung einen ungleich größeren Resonanzboden als die Organisation, die ab 1928 das Ziel der Verbesserung der wechselseitigen Kontakte und Kenntnisse zwischen Deutschen und Franzosen auf ihr Panier geschrieben hatte, die Deutsch-Französische Gesellschaft, D F G, mit deren Stuttgarter Ortsgruppe er vor allem verbunden war, die nach Berlin und Frankfurt am Main die stärkste Sektion stellte. Der Gründer und Leiter der DFG stellte Ende 1932 die Mittlertätigkeit Distelbarths in seiner Korrespondenz mit dem Auswärtigen Amt in leuchtendsten Farben dar. Zu der Zeit war allerdings die Mitgliederentwicklung dieser republiktreuen Organisation bereits im Rückschritt begriffen. Umso wichtiger wurde für Distelbarths Wirken zwischen Deutschland und Frankreich das tätige Interesse, das Robert Bosch an seinen Aktivitäten nahm. Beeindruckt von der Intensität der Bestrebungen des pazifistischen Einzelkämpfers und interessiert am Ausbau seiner Marktanteile für Elektroprodukte in Frankreich bot er Distelbarth die Zusammenarbeit und ab Ende 1932 ein Anstellungsverhältnis mit eigenem Büro an, das diesem die Konzentration auf die Verbindungsarbeit mit Frankreich ermöglichte. Während der mehr als sechs Monate, die Distelbarth 1932 im Nachbarland in rastlosen Bemühungen um Friedenssicherung verbrachte, trat er nicht nur mit einer größeren Zahl von Presseartikeln im Milieu seiner Organisationszugehörigkeit und durch Bosch vermittelt in der Stuttgarter Presse hervor. Er wagte sich während der Weltabrüstungskonferenz ab Februar 1932 in Genf auch mit zivilgesellschaftlichen Initiativen auf das diplomatische Feld und unterbreitete dem deutschen Außenminister von Neurath und dem französischen Kriegsminister Paul-Boncour als vertrauensbildende Maßnahme gedachte Ausarbeitungen zu einem „Präliminarvertrag zu gegenseitiger Hilfeleistung zwischen Deutschland und Frankreich“. Am 6. Juli 1932 wurde Distelbarth als Reichsbund-Vertreter mit Erich Roßmann und den U F-Politikern Henri Pichot und Jean de Watteville von den Regierungschefs beider Länder am Rande der Konferenz von Lausanne empfangen.
Nach der NS-„Machtergreifung“ wurden die friedens- und frankreichpolitischen Initiativen Distelbarths der Jahre 1932/33 Anlass für seine politisch-strafrechtliche Verfolgung. Distelbarth erfuhr während einer Frankreichreise vom Reichsbund, dass Anfang April 1933 wegen des Verdachts auf Landesverrat ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden und sein Haus in Rittelhof wie sein Bosch-Büro in Stuttgart durchsucht worden seien. Distelbarth entschied, den Nachweis der Unhaltbarkeit dieser Anschuldigung von Paris aus mit Hilfe der deutschen Botschaft zu betreiben. Seine damit verbundene Weigerung, dem ultimativen Wunsch Boschs auf sofortige Rückkehr Folge zu leisten, führte 1933 zur arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung und zur Aufhebung ihres Vertragsverhältnisses. Distelbarth, der die Offerten des Büros Ribbentrop zum Aufbau neuer paradiplomatischer Kontaktstrukturen der Nationalsozialisten nach Frankreich ablehnte, stellte sich im September 1933 der Politischen Polizei in Stuttgart zur Vernehmung und bewirkte, dass er bis 1939 von Paris aus seine Familie in Rittelhof besuchen konnte. In Paris hielt er Abstand, zu den NS-Repräsentanten und zu den deutschen Exilanten, baute aber zahlreiche Sozialbeziehungen auf zu den Anciens Combattants, namentlich zum U F-Präsidenten Henri Pichot, und zu den Intellektuellen um die „Union pour la vérité“ Paul Desjardins sowie zu führenden Mitgliedern des Kreises um die „Nouvelle Revue Française“. Distelbarth schrieb in den folgenden Jahren u.a. für die Kulturzeitschriften „Die christliche Welt“ (Martin Rade), „Die Hilfe“ (Theodor Heuss) und die jungkonservative Wochenschrift „Der Ring“ sowie als Korrespondent für die „Basler Nachrichten“ und die Prager „Bohemia“.
In Paris wurde Distelbarth bis Ende 1934 zur Vertrauensperson des U F-Präsidenten Pichot, der von den Nationalsozialisten als Ansprechpartner für die Gründung einer neuen Verständigungsorganisation heftig umworben wurde, nach den November- Pogromen 1938 aber seine Beziehungen zu NS-Deutschland abbrach. Er war es, der Distelbarths Projekt eines Frankreichbuches beharrlich förderte, durch Hilfszusagen ermöglichte und schließlich durch ein werbendes Vorwort für NS-Deutschland unangreifbar machte. Das Buch, das Distelbarths publizistisches Renommee begründete, war mit Ernst Rowohlt abgesprochen und machte in Paris bereits vor seinem Erscheinen Weihnachten 1935 aufgrund übersetzter Presse-Vorabdrucke von sich reden. „Lebendiges Frankreich“ zog die Aufmerksamkeit von mehr als 100 Rezensenten und das Vernichtungsurteil der NS-Zensur auf sich. Es wurde bis 1939 jährlich, mit kleineren Konzessionen an die NS-Zensur, neu aufgelegt und nach Kriegsbeginn verboten. Die französische Ausgabe „France vivante“, 1937, brachte dem Autor Distelbarth die Anerkennung der Pariser N R F-Intellektuellen, die dankbare Bewunderung vieler französischer Leser und die Reputation als Frankreichkenner in Deutschland ein. Auf dieser Grundlage stabilisierten sich seine persönlichen Beziehungen zu dem Philosophen Paul Desjardins, Gründer des Pariser Intellektuellenzirkels „Union pour la vérité“ und der europäischen „Décades de Pontigny“, und zum deutschen Verlagswesen. Ernst Rowohlt trat vor den Berliner Zensurbehörden für seinen Autor ein und Ernst Klett orderte bei Distelbarth ein Buch über die aktuellen Wortführer des intellektuellen Lebens in Paris, das Distelbarth mit Hilfe seiner Bekannten in der „Union pour la vérité“ verfasste und das unter dem Titel „Lebendiges Werden in Frankreich“ 1937 auf den Markt kam. Die Breite der Resonanz, die „Lebendiges Frankreich“ in beiden Ländern auslöste, bekräftigte Distelbarth in seiner Basisannahme, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit das „Rückgrat“ Europas werden könne und müsse. Bei seiner Rückkehr nach Rittelhof zu Kriegsbeginn im September 1939 überwog diese prospektive Gewissheit die schmerzhafte Einsicht in das Scheitern aller Anstrengungen zur Verhinderung eines abermaligen Krieges.
Nach Kriegsende 1945 eröffneten sich für den Schriftsteller und Journalisten Distelbarth ganz neue Möglichkeiten des Wirkens für einen „deutsch-französischen Bund“. Er setzte seine publizistische Arbeit an der Revision des deutschen Frankreichbildes fort und erweiterte seinen journalistischen Aktionsradius durch die Herausgabe einer eigenen Regionalzeitung. Für rund zehn Jahre vom lebendigen Kontakt mit Frankreich abgeschlossen suchte er retrospektiv einen Schlüssel zur Erklärung des Scheiterns der Verständigungsbemühungen zwischen Deutschen und Franzosen in der Zwischenkriegszeit. Mit diesen Arbeiten zur Vergangenheitsbewältigung, die insbesondere in dem Buch „Franzosen und Deutsche. Bauern und Krieger“, 1946, ihren Niederschlag fanden, verband sich Distelbarths verlegerische Tätigkeit als Mitgründer und Geschäftsführer der „Heilbronner Stimme“. Dort stellte er resolut seine These von der Notwendigkeit eines deutsch-französischen Bündnisses als tragendem Pfeiler der Integration Europas in den Mittelpunkt seiner Leitartikel.
Das auch von Rowohlt verlegte Buch „Franzosen und Deutsche“, die Frucht langer Winterabende auf seinem Obstgut, war mit seinen mehrfachen Neuausgaben das auflagenstärkste deutsche Frankreichbuch der späten 1940er-Jahre. Neben einem glänzenden Rückblick auf die zivilgesellschaftlichen Verständigungsinitiativen der beiden Zwischenkriegsjahrzehnte (Kapitel 12) umriss der Autor einen eher problematischen Erklärungsansatz für das Misslingen dieser Bestrebungen. Hier griff er auf die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominante nationalcharakterologische Argumentation zurück, die den einzelnen Nationen langfristig gleichbleibende Kollektivmerkmale zuschrieb und aus ihnen ihr außenpolitisches Verhalten ableitete. Im Falle Deutschlands und Frankreichs waren es nach Distelbarth die politische Kultur des Kriegers und des Bauern, die einander gegenüberstanden und geschichtsmächtig wurden. Das Ende der „preußischen Kriegerkaste“ nach 1945 bot in Deutschland erstmals die Gelegenheit zur friedfertigen Erneuerung der politischen Kultur der Nation und die Voraussetzung für ein einvernehmliches Verhältnis zu Frankreich als Basis der europäischen Integration. Diesen geschichtspolitischen Entwurf vermochte Distelbarth mit Billigung der US-amerikanischen Zensurbehörden zu vertreten. 1948 konnte Rowohlt Distelbarths Klassiker „Lebendiges Frankreich“ neubearbeitet wieder auflegen. Sollte das „Bauern-Krieger“-Buch in erster Linie der Erneuerung der politischen Kultur der Deutschen dienen, so wollte Distelbarth mit seinem letzten Frankreich-Buch von 1953 seinen Lesern vor allem die Augen öffnen für den kulturhistorischen Reichtum des Nachbarlandes und die Tradition feindseliger Sehgewohnheiten korrigieren, die ein Großteil der wieder auf Reisen gehenden Deutschen mitbrachte. Seit der Gründung der beiden deutschen Staaten im Herbst 1949 vertrat Distelbarth aus deutschland- wie aus europapolitischen Erwägungen eine Position der Neutralität im begonnenen Kalten Krieg. Unter Berufung auf den US-Publizisten Walter Lippmann und Autoren wie Maurice Duverger von „Le Monde“ warb er für ein neutrales Europa zwischen den beiden großen Weltmächten. Diese euroneutralistische Argumentation brachte ihn in Verbindung mit der Nachkriegs-Friedensbewegung und weckte das Interesse der DDR-Presse, die gelegentlich auf ihn Bezug nahm. Um zur Verhinderung der Eskalation des Kalten Krieges beizutragen, sah er sich veranlasst, die Möglichkeit eines Blickes hinter den „Eisernen Vorhang“ zu ergreifen durch organisierte Gruppenreisen in die UdSSR (Mai 1953) und nach China (1955 und 1957), die er in Begleitung seines jüngsten Sohnes antrat. Mit seinem wieder von Rowohlt verlegten und in der DDR nachgedruckten Russland-Buch konnte er nicht annähernd die Publikumswirkung erlangen wie in den 1930er-Jahren mit „Lebendiges Frankreich“. Dies erlebte in der Konstellation der 1950er-Jahre seine letzte Neuausgabe im ostdeutschen Union-Verlag, der auch Teile seiner Ausarbeitungen über China veröffentlichte.
Zeichnete sich in Distelbarths Buchpublikationen indirekt sein Weg in der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ab, so traten die ihn bestimmenden politischen Impulse in seiner journalistischen Arbeit unmittelbar zu Tage. Im März 1946 übertrug die amerikanische Besatzungsmacht ihm und dem ehemaligen SPD-Redakteur Hermann Schwerdtfeger die Lizenz für die Regionalzeitung von Heilbronn. Der Chefredakteur Schwerdtfeger und der kaufmännisch Verantwortliche bzw. Leitartikler Distelbarth stellten in den ersten fünf Jahren die „Heilbronner Stimme“ gegen vielfältige materielle und administrative Schwierigkeiten und vermittels eines argumentationsfreudigen Meinungsjournalismus auf eine solide ökonomische Basis. Die Zeitung überlebte die Aufhebung des Lizenzzwanges 1949. 1957 konnte sie ein eigenes Hochhaus im Heilbronner Zentrum beziehen. Distelbarths Leitartikel der frühen Jahre fanden auch Nachdrucke in der überregionalen Presse, z.B. in „Neue Zeitung“ und im „Tagesspiegel“, Berlin. Distelbarth wurde zu mehreren Zentren des Kultur- und Presselebens im Südwesten hinzu gebeten, gab aber seinen mentalen Vorbehalt gegen den „Kulturbetrieb“ niemals ganz auf. Die politische Entwicklung der frühen Bundesrepublik beurteilte er gemäß seinem euroneutralistischen Wunschbild, indem er 1950 das Projekt der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ ebenso entschieden begrüßte, wie er die Schaffung einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ ablehnte. Als in der zweiten Jahreshälfte 1950 infolge des Korea-Krieges die Polarisierungswirkung des Kalten Krieges übermächtig wurde, stellte Distelbarth seine Leitartikel in der „Heilbronner Stimme“ ein und versuchte an der Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt erneut, als publizistischer Einzelgänger die Rolle eines Blockadebrechers im internationalen Mächteantagonismus zu übernehmen.
Quellen: Dt. LiteraturA Marbach am Neckar, NL Hans Rothe, Korrespondenz PD-Hans Rothe u.NL Paul Distelbarth (in Bearb.); A d. „Heilbronner Stimme“, Grundlage d. „Auswahlbibliographie für die Schriften von Paul Heinrich Distelbarth“, in: Hans Manfred Bock (Hg.), Paul Heinrich Distelbarth. Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur u. Politik Frankreichs u. zu den dt.-französ. Beziehungen 1932–1953, 1997, 507-517, Bibliographie mit 228 Titeln (incl. Buchtitel), zentriert auf die Frankreich-Thematik; Private Korrespondenz Paul Distelbarth – Hilde Distelbarth 1933–1939, im Familienbesitz, begrenzt zugänglich; Paul Distelbarth, Wacht im Osten. Frontoffizier im I. Weltkrieg. Der Kreishauptmann von Borissow, hgg. von Wolfgang D., Heilbronn 1989; Paul Rudolf Distelbarth, Lebenserinnerungen, hgg. von Eberhard Geyer, Typoskript o. O. o.J. (54 S.); Politisches A. des Auswärtigen Amtes, Akten d. Pariser Botschaft, Bestrebungen zur Herbeiführung einer dt.-französ. Verständigung 1925 bis 1939, u. Polit. Beziehungen Frankreich Bd. 2, Distelbarth; Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, Nachlass Gottfried Salomon; UnternehmensA d. Robert- Bosch-AG, Stuttgart.
Werke: Muss die Kriegsschuldlüge die dt.-französ. Beziehungen für immer vergiften?, in: Die Christliche Welt, 1932, Nr. 2, 78-84; Wie ein Reichsbündler in Frankreich aufgenommen wurde, in: „Reichsbund“ vom 20.6.1932; Der gesunde Menschenverstand, in: „Württ. Ztg.“ vom 31.10.32; Erlebnisse mit französ. Frontkämpfern, in: Dt.-französ. Rundschau, 1932, 362-365; Est-il vrai qu’un abîme nous sépare?, in: Revue d’Allemagne, 1932, 892-900; Der Abgrund zwischen Deutschland u. Frankreich, in: Dt.-französ. Rundschau, 1932, 698-703; Pourquoi les Français ont-ils peur des Allemands?, in: Vu vom 22.3.1933, 415f.; Frankreichs politischer Weg, in: Die Hilfe, 1934, Nr. 16, 369-371; Zur Frage d. Versöhnung zwischen Deutschland u. Frankreich, in: Der Wirtschaftsring, 1934, 750-754; Lebendiges Frankreich. Mit einem Vorwort von Henri Pichot, 1936, 2. Aufl. 1936 bis 5. Aufl. 1939; France vivante. Texte français par l’auteur, 1937 (2 Bde); Neues Werden in Frankreich. Zeugnisse führender Franzosen, 1937; La Personne France, 1942; Franzosen u. Deutsche. Bauern u. Krieger, 1946; Dt.-französ. Verständigung, in: „Heilbronner Stimme“ vom 5., 8., 10., 12., 17., 27.10. u. 2.11.1946; Franzosen u. Deutsche. Bauern u. Krieger. Sonderausg., 1947; Lebendiges Frankreich, 1948; Dt.-französ. Bund, „Heilbronner Stimme“ vom 25.9. u. 15.12.1948; Europäisches Denken, ebd. vom 14. u. 15.12.1948; Neutralität, ebd. vom 1.11.1949; Für u. wider Schuman, ebd. vom 17.5.1950; Frankreich gestern, heute, immer, 1953; Rußland heute. Bericht einer Reise, 1954, 2. Aufl. 1957; Lebendiges Frankreich, 1956; Blüte d. Mitte. Reise in das größte Land alter Kultur u. neuen Lebenswillens, 1958; Dt.-französ. Bund, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung Nr. 71/72, 1993, 90-94; Kurzer Lebenslauf. Autobiogr. Skizze, ebd. Nr. 71/72, 1993, 95f. (Erstveröffentlichung); L’„Union“ vue par un écrivain allemand. Texte annoté par George Guy-Grand, ebd. Nr. 78/79, 1993, 167-169; 12 Texte aus Zeitschriften-, Zeitungs- u. Buchveröffentlichungen zum Thema „Gesellschaft, Kultur u. Politik in Frankreich 1932–1949“, 33 Texte ders. Provenienz zum Thema „Dt.-französ. Beziehungen u. europ. Einigung 1932–1953“, in: H. M. Bock (Hg.), Paul Distelbarth. Das andere Frankreich, 1997, 99-309 u. 313-503.
Nachweis: Bildnachweise: U. Jacobi, 2006, 31 (vgl. Literatur).

Literatur: Hermann Schwerdtfeger, Paul Heinrich Distelbarth †, in: „Heilbronner Stimme“ vom 18.1.1963; Klara Marie Fassbinder, Dem Andenken an Paul Distelbarth, in: Frau u. Frieden, 1963, Nr. 4, 10; Theodor Heuss, Robert Bosch. Leben u. Leistung, 1975, 362f.; Günter Wirth, Distelbarth u. d. „Erbfeind“, in: Die Weltbühne, 1979, 1609–1611; D. Wissmann, Paul Heinrich Distelbarth. Streiter für Frieden u. internat. Entspannung, in: „Heilbronner Stimme“ vom 22.12.1979; Antoine Prost, Les Anciens Combattants français et l’Allemagne 1932–1936, in: La France et l’Allemagne 1932–1936, 1980, 131-148; Frank Distelbarth, Paul Distelbarth. Ein Publizist d. Völkerverständigung, in: 700 Jahre Stadt Löwenstein 1287–1987, 1987, 495-502; Hans Manfred Bock, Paul Distelbarth u. die dt.-französ. „Verständigung von unten“, in: Dokumente Zs. für den dt.-französ. Dialog, 1990, 249–255; Wolfgang Geiger, Sympathie für den Feind? Zur Vorgeschichte d. dt.-französ. Freundschaft, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 1990, Nr. 7, 604-614; Hans Manfred Bock, „Ich setze immer noch meine Hoffnung auf Frankreich“. Paul Distelbarths publizistische u. verständigungspolit. Arbeit nach dem II. Weltkrieg, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, 1993, Nr. 71/72, 64-89; Gilbert Badia, La France vue par Paul Distelbarth: un pays modèle, in: H. M. Bock, R. Meyer-Kalkus, M. Trebitsch (Hgg.), Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, 1993, 175-185; Margot Taureck, „Esprit“ u. „Bonne volonté“ bei Friedrich Sieburg u. Paul Distelbarth, ebd., 187-202; Uwe Jacobi, 250 Jahre Heilbronner Presse. Geschichte d. Medien im Unterland u. in Hohenlohe 1744–1994, 1993 (mit Bildnachweis); H. M. Bock, Konservativer Einzelgänger u. pazifist. Grenzgänger zwischen Deutschland u. Frankreich. Der Frankreich-Publizist Paul Distelbarth im Dritten Reich, in: Francia, Forschungen zur westeurop. Geschichte, 1994/3, 99-133; ders., Paul Distelbarth „Lebendiges Frankreich“. Ein Dokument verdeckter Opposition u. verständigungspolitischer Kontinuität im „Dritten Reich“, in: Exilforschung, ein internat. Jb., Bd. 12, 1994, 99-113; Claire Trichet, Paul Distelbarth. Frankophilie in den dreißiger Jahren, Maîtrise d’allemand, 1994 (97 S.); Robert Bosch u. die dt.-französ. Verständigung. Polit. Denken u. Handeln im Spiegel d. Briefwechsel, o. J. (1996); H. M. Bock, Ein Anwalt alternativer Frankreich-Sicht u. Frankreich-Politik in Deutschland, in: ders., Paul Heinrich Distelbarth. Das andere Frankreich, 1997, 3–97; Wolfgang Geiger, Une approche francophile: Paul Distelbarth, in: ders., L’image de la France dans l’Allemagne nazie 1933–1945, 1999, 55-105; Claire Moreau Trichet, Henri Pichot et l’Allemagne de 1930 à 1945, 2004; Christian Weiß, „Soldaten des Friedens“. Die pazifistischen Veteranen u. Kriegsopfer des „Reichsbundes“ u. ihre Kontakte zu den französ. anciens combattants 1919–1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte d. Zwischenkriegszeit 1918–1939, 2005, 183-204; Uwe Jacobi (Hg.): Die Stimme d. Region – 60 Jahre Heilbronner Stimme, 2006 (mit Bildnachweis); H. M. Bock, Ein „Patriarch d. dt.-französ. Verständigung“. Paul Heinrich Distelbarth (1879–1963), in: Christhard Schenk (Hg.), Heilbronner Köpfe IV., 2007, 9-34; ders., Paul Heinrich Distelbarth (1879–1963). Ein Patriarch d. dt.-französ. Verständigung, mit Nachwort von Frank Distelbarth, o.J. (Separatdruck aus „Heilbronner Köpfe IV“, mit Bildnachweis); ders., Distelbarth, Paul Heinrich, in: Nicole Colin, Corine Defrance u.a., Lexikon d. dt.-französ. Kulturbeziehungen nach 1945, 2013, 201f.
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