Kienscherf, Otto Johannes 

Geburtsdatum/-ort: 07.04.1868; Magdeburg
Sterbedatum/-ort: 11.01.1957; Hannover
Beruf/Funktion:
  • Schauspieler
Kurzbiografie: 1874-1878 Höhere Knabenschule Stettin, 1878-1880 Berlin, 1880-1885 Realgymnasium Stettin
1885-1888 Ausbildung zum Handlungsgehilfen in einem Stettiner Herrenbekleidungsgeschäft, nach Abschluß der Lehre kurzzeitig Angestellter in dem Konfektionshaus Gerson in Berlin, danach Ausbildung zum Schauspieler an der „Hochschule für dramatische Kunst“ in Berlin, April 1888 Reifeprüfung
1888-1895 Jahresengagements an einer Wanderbühne in Sachsen und an den Theatern in Krefeld, Burg bei Magdeburg, Solingen, Łódź, Essen, Gera und Bremerhaven; 1890-1894 Sommerspielzeiten in Magdeburg
1895-1898 Stadttheater Leipzig, Sommerspielzeiten in Zoppot; mehrere Semester Gasthörer an der Universität Leipzig
1898-1899 Engagements an den deutschen Theatern in Milwaukee und Chicago, Gastspiele in New York und St. Louis
1899-1905 Residenztheater in Wiesbaden
1905-1908 Oberregisseur des Schauspiels am Kölner Stadttheater
1908-1944 Großherzoglich Badisches Hoftheater (Badisches Landestheater, Badisches Staatstheater) in Karlsruhe (Oberspielleiter, Dramaturg, Schauspieler), 1932 Ruhestand
1924 Staatsschauspieler
1948 Ehrenmitglied des Badischen Staatstheaters
bis 1953 Gelegentliche Auftritte im Badischen Staatstheater
1955 Umzug nach Hannover
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch-lutherisch
Verheiratet: 1899 Leipzig, Margarete Helene, geb. Leibe
Eltern: Johann Karl Kienscherf (1836-1919), Erster Waldhornist im Stettiner Stadtorchester
Auguste Luise Anna, geb. Bleyle (1844-1872)
Geschwister: Bruder Georg, starb zwölfjährig
Kinder: Lotte (1900-1916)
Hans-Herbert (1907-1988)
Gretel Hoffmann-Kienscherf (geb. 1912)
GND-ID: GND/116168633

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 265-267

Bühneneindrücke konnte schon der Schuljunge Kienscherf sammeln, er trug seinem Vater das Waldhorn in den Orchesterraum und durfte von dort aus der Aktion auf der Bühne folgen. Aber der Musik konnte er nichts abgewinnen; sein einziges und ungeteiltes Interesse galt von vornherein dem Schauspiel. So war es nur zwangsläufig, daß er den auf väterlichen Wunsch aufgenommenen – ungeliebten – Kaufmannsberuf bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aufgab und die Ausbildung zum Schauspieler begann. An der Berliner Hochschule für dramatische Kunst begegnete er dem großen Josef Kainz (1858-1910), der besonderes Interesse an seinem begabtesten Schüler nahm und ihn während der Ausbildungszeit mit Aufträgen aller Art praktisch durchfütterte, da der Vater den Monatswechsel gesperrt und die Beziehungen abgebrochen hatte, als er von dem Tausch Kontor-Bühne erfuhr. Kainz war es auch, der es einige Zeit später verstand, den erzürnten Vater vom Talent und der Notwendigkeit des vom Sohne eingeschlagenen Berufswegs zu überzeugen und die Versöhnung herbeizuführen.
Der Beginn auf einer Wanderbühne – einer besseren Schmiere – in Pottschappel im Königreich Sachsen war alles andere als ermutigend. Der Anfänger erhielt eine Monatsgage von 65 Mark, das Wirtshauszimmer kostete pro Nacht 1 Mark. So war Schmalhans häufigster Küchenmeister, und es bedurfte des ganzen Idealismus und zähen Willens des jungen Schauspielers, diese Notzeiten zu überstehen. Er war glücklich über die Maßen, als er nach verschiedenen ad-hoc-Engagements eine erste feste Stelle beim deutschen Theater in Łódź antreten konnte. In Leipzig schließlich, ab 1895, war er schon arriviert und konnte sich leisten, neben den Theaterverpflichtungen Vorlesungen bei Wilhelm Wundt in Philosophie und Erich Marcks in Geschichte zu hören – Interessengebiete, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr loslassen sollten.
Die Direktion der deutschen Theater in Milwaukee und Chicago hielt alljährlich im Deutschen Reich Ausschau nach jungen Talenten für einjährige Engagements, und die Wahl fiel im Jahre 1898 auf Kienscherf. Er selbst hat bekundet, daß dieses Jahr in den USA für seine künstlerische Entwicklung von größter Bedeutung war, nicht nur wegen der großen Rollen, die er jetzt spielen durfte, sondern auch wegen der vielfältigen Reiseeindrücke und der damit verbundenen Erweiterung des Horizonts. Dem USA-Aufenthalt schlossen sich mehrjährige Verpflichtungen in Wiesbaden und Köln an, ehe er schließlich im Jahre 1908 in der Hauptstadt des Großherzogtums Baden seinen eigentlichen Lebensmittelpunkt finden sollte. Er wurde als Oberspielleiter engagiert, und „mit besonderer Liebe brachte er Gestalten unserer deutschen Klassiker auf die Bühne, eindringlich, gut gesehen und lebenswahr; gestützt auf eine heute oft vernachlässigte Sprechtechnik und eine intelligente Erfassung des jeweiligen Charakters“, hieß es in einem Glückwunschartikel zum 60. Geburtstag. Als Kienscherf in Karlsruhe begann, fand er ein festgefügtes Ensemble vor, das über viele Jahre, ja Jahrzehnte geschlossen beieinander blieb; einige Namen wenigstens aus dieser Blütezeit des Karlsruher Schauspiels seien genannt: Melanie Ermarth, Marie Frauendorfer, Maria Genter-Bauer, Alwine Müller, Fritz Herz, Hugo Höcker, Wilhelm Kempf, Max Schneider, Paul Müller. Der von seinen Kollegen als „gütiger, liebenswerter, freundschaftsbereiter Mensch“ geschilderte Kienscherf gliederte sich mühelos ein und hielt auch seinerseits dem Karlsruher Theater 36 aktive Jahre lang, und darüber hinaus, die Treue. Der Schauspieler Kienscherf war eine würdevolle, achtunggebietende Erscheinung, und entsprechende Rollen, etwa der Pastor Moser in den „Räubern“, lagen ihm wohl am besten. Eine prächtige weiße Mähne umwallte das scharf und gut geschnittene Gesicht, „Otto Lockenhaupt“ war denn auch sein Spitzname im Karlsruher Theater. „Immer schien er in höheren Sphären zu leben, was natürlich die Neckereien der Kollegen geradezu herausforderte“ (Lola Ervig).
Es war eine glückliche Idee der Intendanz, Kienscherf im Jahre 1920 das verantwortungsvolle Amt des Dramaturgen anzubieten; dies entsprach ganz seinen weitgespannten literarischen und geistigen Neigungen. Der weitreichende Einfluß, den der Dramaturg – und vor allem ein der Theaterpraxis entstammender – auf die jährliche Spielplangestaltung ausübt, wirkte sich auf das Karlsruher Theaterleben bereichernd und belebend aus. Kienscherf verfügte darüber hinaus über eine gewandte Feder, erwähnt seien nur seine gehaltvollen Werkeinführungen in den Theaterprogrammheften. Daneben fand er auch noch Zeit zur schriftstellerischen Betätigung (Werke). 1933 wurde er, Nicht-Pg und als Mitglied der „Schlaraffia“ haltlosen Verdächtigungen ausgesetzt, sofort durch einen Parteigenossen abgelöst und wirkte wieder bis zur Zerstörung des Hauses im Jahre 1944 als Schauspieler mit Zeitverträgen.
Der Lebensabend brachte hohe Ehrungen: Er wurde zum Ehrenmitglied des Badischen Staatstheaters ernannt, und die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger zeichnete ihr langjähriges Vorstandsmitglied mit der goldenen Ehrennadel aus. Gelegentlich trat er auch noch auf, zum letzten Mal im Jahre 1951, als er als 83jähriger den Itel Reding in „Wilhelm Tell“ spielte; in derselben Aufführung gab sein Sohn Hans-Herbert den Stauffacher. Den weiteren Lebensabend verbrachte er im Kreis der Familie in Hannover, aber als er starb, wurde er, entsprechend seinem Wunsch, in Karlsruhe beigesetzt, der Stadt, in der er in der ersten Jahrhunderthälfte eine der repräsentativsten Gestalten der dortigen Theatergeschichte war und die ihm in 47 Jahren wirkliche Heimat geworden war.
Quellen: Mitteilungen von Frau Gretel Hoffmann-Kienscherf in Aarau (Schweiz); Personal-Akten im GLAK 57 a/2134, 466/10264
Werke: Offene Spielleitung, Dramaturgische Humoreske, in: Karlsruher Tageblatt vom 10.02.1924; Die Hohentwielfestspiele 1924, in: Karlsruher Generalanzeiger vom 20.07.1924; Vom praktischen Theater, eine dramaturgische Studie, in: „Karlsruher Kunstwarte“ vom 06.05.1924; Das Hirschkäfererlebnis, Humoreske, in: Badische Presse vom 21.06.1936; Das Pfeifkonzert, Aus der Erinnerungsmappe eines alten Schauspielers, in: Badische Presse vom 14.02.1937; Die Braut des Banditen, Aus der Erinnerungsmappe eines alten Schauspielers, in: Residenzanzeiger vom 27./28.10.1938; Das Niemandskind, Erzählung, in: Badische Presse vom 07.05.1939; Lanzelot Gobbos Gewissen, Ein textkritischer Versuch zu Shakespeares „The merchant of Venice“ Akt II Sz. II, in: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Weimar 1939, Band 75; Hans im Glück, Weihnachtsmärchenspiel, 1938 im Badischen Staatstheater aufgeführt
Nachweis: Bildnachweise: in: L. Ervig, Ein erfülltes Leben (siehe oben), und in den meisten Publikationen unter Literatur

Literatur: Ein Leben für die Bühne, Otto Kienscherf zum 60. Geburtstag, in: Badische Presse vom 06.04.1928; Otto Kienscherf, in: Karlsruher Tageblatt vom 06.04.1928; M. M., Über Milwaukee nach Karlsruhe, Aus den Erinnerungen des Schauspielers Otto Kienscherf, in: BNN vom 24.04.1948; Lola Ervig, „Jetzt ist’s der Richtige!“, Zu Otto Kienscherfs 85. Geburtstag am 7. April, in: BNN vom 04.04.1953; Helkö, Schauspieler Otto Kienscherf 85 Jahre, in: Allgemeine Zeitung von Ostern 1953; Lola Ervig, Ein erfülltes Leben, in: BNN vom 14.01.1957; Schauspieler Otto Kienscherf †, in: Allgemeine Zeitung vom 14.01.1957; Beileid für Schauspieler Otto Kienscherf, in: Durlacher Tagblatt vom 16.01.1957; Franz Josef Wehinger, Oberspielleiter Schauspieler Otto Kienscherf (7.4.1868 in Magdeburg – 11.1.1957 in Hannover), mit einem 1948 veröffentlichten Auszug aus den Erinnerungen Otto Kienscherfs, in: Karlsruher Fächer 1957 (o. D.); Lola Ervig, Bevor der Vorhang fiel, Ein Bilderbuch vom alten Theater am Schloßplatz, in: BNN vom 10., 17., 24.11.; 01., 08., 15., 22., 29.12.1973; 05., 12., 19., 26.01., 02., 05.02.1974; Karlsruher Theatergeschichte. Vom Hoftheater zum Staatstheater, bearbeitet von Günther Haass u. a., Karlsruhe 1982
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