Kistner, Adolf 

Geburtsdatum/-ort: 15.07.1878;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 20.11.1940;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Pädagoge und Historiker der Naturwissenschaft und Technik
Kurzbiografie: 1887 IX.–1896 VII. Humanistisches Gymnasium Mannheim
1896 XII.–1899 V. Studium d. Mathematik u. Naturwissenschaften an d. Univ. Heidelberg
1900 I. Staatsprüfung für das höhere Lehramt an Mittelschulen mit dem Zeugnis I. Grades, (Oberlehrerzeugnis)
1900 I.–1901 VII. Probejahr im Realgymnasium Mannheim u. von März bis Juni 1901 in Weinheim
1901 IX. –1904 VIII. Lehramtspraktikant an d. Oberrealschule Heidelberg, bis April 1902, u. Sinsheim
1904 IX.–1909 III. Professor an d. Oberrealschule Sinsheim
1909 IV.–1914 III. Professor am Gymnasium Wertheim
1914 IV. –1936 II. Professor am Gymnasium Karlsruhe
1939 IV. Umzug nach Heidelberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1902 (Sinsheim) Julie Antonie (Toni), geb. Reinhardt (1876–1945).
Eltern: Vater: Christian August Adolf Berthold (1831–1905), Friseur in Mannheim
Mutter: Adolphine, geb. Vogt (1845–1893)
Geschwister: 3; Wilhelmine (1869–1874), Gabriele (1870–nach 1916) u. Richard (* 1881)
Kinder: keine
GND-ID: GND/116194006

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 198-201

Kistners Vater, ein Friseur, bemühte sich sehr um die Ausbildung seines ältesten Sohns. Er schickte ihn zunächst in die Privatlehranstalt „Institut Wilhelm Schwarz“, nach dessen Abschluss Kistner die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium bestand. Die humanistische Bildung entsprach aber keineswegs seinen Neigungen und der Gymnasialunterricht begeisterte Kistner nur wenig. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Kistner das Aufkommen eines „realistischen Bildungsideals“ um die Jahrhundertwende später als „Aufschwung“ bezeichnete. Vom zweiten Schuljahr an wurde Kistners Fleiß nur als „durchschnittlich“ bewertet. Er zeigte kaum Erfolge im Lernen, mit Ausnahme der Mathematik und Naturwissenschaft. Kistner erinnerte sich später, während der Schulzeit aber „manche Stunde auf der Sternwarte, im Naturalienkabinett und in dem alten astronomischen Turm des ehemaligen Jesuitenkollegs“ verbracht zu haben. Damals erwachte sein Interesse an der Geschichte der Naturwissenschaften. Andere Fächer blieben vernachlässigt. Allerdings wurde Kistner jährlich versetzt und verließ das Gymnasium regulär mit dem Reifezeugnis, womit er Mathematik und Naturwissenschaften studieren konnte. Dennoch war seine humanistische Schulbildung nicht folgenlos: Ihr verdankte Kistner einen guten Einblick in die allgemeine Geschichte und den ausgezeichneten literarischen Stil seiner Schriften.
Wahrscheinlich wurde Kistner seine Laufbahn als Schullehrer schon früh vorgezeichnet: er studierte an der nahen Universität Heidelberg nur fünf Semester, um anschließend das Staatsexamen für das höhere Lehramt abzulegen. Nach dem Lehramtspraktikum wurde er „Großherzoglicher Professor“, der zuerst in Sinsheim, dann in Wertheim und in Karlsruhe jeweils Mathematik und Physik unterrichtete. Er leitete auch das physikalische Kabinett und das chemische Labor. Als geschickter Lehrer wusste er das Interesse seiner Schüler für Naturwissenschaft zu wecken. So ist überliefert, dass er seine Schüler eine Telefonleitung zwischen seiner Schule und der städtischen Töchterschule legen ließ und den Schülern auch erlaubte, zur Probe zu telefonieren. Eine sichere pädagogische Methode Kistners war die lebhafte und zielgerichtete Verwendung wissenschaftsgeschichtlicher Informationen. „Lieber gar keine geschichtlichen Bemerkungen, als das trockene und sinnlose Aufzählen von Namen und Daten, dem man allenthalben begegnet“, war seine Devise. Kistner verfügte über ein System von Experimenten, die auf klassischen Versuchen basierten. Damit verband er den geschichtlichen Hintergrund, die Zusammenhänge der Erscheinungen und Begriffe. „Er arbeitete sicher wie ein Wissender, einfach wie ein Könner oder Weiser und eindringlich wie ein heilig Besessener“, so ein schmeichelhaftes zeitgenössisches Urteil.
Der Drang, naturwissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln, prägte auch die umfangreiche literarische Tätigkeit Kistners. Er verfasste acht Bücher, mehr als 80 Publikationen in Zeitschriften, dazu mehrere Zeitungsartikel zur Geschichte von Kultur, Naturwissenschaft und Technik. Mit seinen Honoraren kaufte er eine reichhaltige Bibliothek und finanzierte weitere Forschungen. Eine chronische Herzkrankheit erlaubte ihm indessen wenig Bewegung, den größten Teil seiner Zeit verbrachte er so am Schreibtisch.
Kistner fühlte die Notwendigkeit, Kenntnisse über seinen Arbeitsbereich möglichst weit zu verbreiten. Darin sah er seine Lebensaufgabe. Er begann mit einer elementaren „Geschichte der Physik“ in zwei Teilen (1906), die eine gute Aufnahme fand und deren 3. Auflage 1934 auch in Spanischer Übersetzung erschien. Auch später verfasste Kistner solch allgemeine Darstellungen, die insbesondere für die Lehrer und für fortgeschrittene Schüler von hohem didaktischem Wert waren. Sie zeigen Kistners großes pädagogisches Talent und seine meisterhafte Fähigkeit, Inhalte klar, knapp und immer interessant zu vermitteln.
Zugleich mit den allgemeinen Arbeiten führte Kistner seine Forschungen über ausgewählte Themen aus der Geschichte von Naturwissenschaft und Technik durch, so über die Anfänge der Ballonfahrt, frühe Blitzschutzversuche, Physiker und Chemiker des 18. Jh.s und wissenschaftliche Instrumente der Vergangenheit. Sehr früh begann er das Problem „Messung der Zeit“ zu bearbeiten. Sein erstes Werk dazu, eher mathematisch, aber mit stark historisch-kulturell geprägtem Hintergrund, war dem Kalender der Juden gewidmet.
Bald wandte Kistner sich der Geschichte der Uhr zu, seine erste Publikation darüber erschien jedoch viel später: Aus Anlass der Einrichtung des Bad. Landesmuseums im Karlsruher Schloss, wohin die früher im Kunstgewerbemuseum untergebrachte große Uhrensammlung gelangte, publizierte Kistner eine knappe, inhaltsreiche Beschreibung dieser Sammlung. Die weitere Bearbeitung dieser Sammlung brachte Kistner in Kontakt mit der Bad. Uhrmacherschule in Furtwangen. Vom Ministerium für Kultus und Unterricht bekam er den ehrenamtlichen Auftrag, ein Verzeichnis der aus 1012 Objekten bestehenden Uhrensammlung der Furtwanger Schule zu fertigen. So entstand das Buch über diese Sammlung, das außer der Beschreibung des Inventars mehrere einführende Kapitel enthält: über Kalenderkunde, „Die Uhr und ihre Teile“, „die Schwarzwälder Uhr“ und über bedeutende Persönlichkeiten des Uhrenwesens im Schwarzwald. Als Höhepunkt seiner mehr als 20-jährigen sorgfältigen Arbeiten publizierte Kistner die Monographie „Die Schwarzwälder Uhr“. Sie basierte auf der Untersuchung von etwa 1200 alten Schwarzwälder Uhren in verschiedenen deutschen und ausländischen Sammlungen, der Besichtigung aller Uhrenwerkstätten und -fabriken des Schwarzwalds, zahllosen mündlichen Anfragen bei alten Uhrmachern und Schildmalern, der Auswertung von Archivunterlagen und Auskünften von Pfarrern, Ämtern, Fabriken und Museen. Das Ergebnis stellt die Entwicklungsgeschichte des Uhrengewerbes in technischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht inhaltsreich, aber auch allgemeinverständlich und volkstümlich dar. Neben mehr als 130 Fotografien enthält das Buch zahlreiche biographische Einzelheiten und gehört zu den interessantesten Beiträgen über die Geschichte des Uhrenwesens. Diesem Buch folgte während des nächsten Jahrzehnts noch ein Dutzend Artikel mit biographischen Nachträgen zum Thema, was zeigt, dass Kistner dieses Forschungsfeld bis zum Lebensende bearbeitete und letztlich seinen Ruf als bedeutender Historiker des Uhrenwesens begründete.
1930 erschien das zweite große Werk Kistners, das die Naturwissenschaft in der Kurpfalz zur Zeit des Kurfürsten Carl Theodor behandelt. Unermüdlich sammelte Kistner in vielen Archiven und Bibliotheken Deutschlands wie auch in Privatsammlungen des In- und Auslands zerstreute Materialien, bis sich letztendlich, wie er es metaphorisch ausdrückte: „nach der Analyse von insgesamt 493 Faszikeln die verschiedenartigen Atome und Atomgruppen [haben]gewinnen lassen, deren Synthese schließlich gelungen ist.“ In diesem Werk schildert Kistner nach der allgemeinen Übersicht alle Seiten der damaligen Naturwissenschaft in der Kurpfalz, von der Astronomie bis zur Medizin, setzt sie in Verbindung mit geschichtlichen Ereignissen und geistigen Strömungen der Zeit und fügt auch biographische Daten der Akteure ein. Dabei zeigt Kistners reiches naturwissenschaftliches und allgemeines Wissen. Erfüllt von der „Entdeckerfreude“, die der Verfasser „beim Sammeln des Stoffes haben durfte“, stellt dieses Werk ein Monument der kurpfälzischen Naturwissenschaft dar. Dank der Fülle von Tatsachen und Gedanken und seiner geschickten Darstellung ist das Buch unverändert lesenswert, wird nach wie vor zitiert und gilt bis heute als Standardwerk zu diesem Thema.
Aus gesundheitlichen Gründen ging Kistner 1936 vorzeitig in den Ruhestand. Einige Zeit blieb er noch in Karlsruhe und bemühte sich, seine weiteren Forschungsergebnisse zu publizieren, bis er 1939 in der Hoffnung auf Linderung seiner Leiden nach Heidelberg umsiedelte, wo er aber bereits nach einem Jahr starb. Seine reiche Bibliothek vermachte Kistner der Universität. Der Nachlass Kistner veranschaulicht seinen akribischen Umgang mit Quellen und Kulturobjekten und die Zuverlässigkeit seiner Arbeit. Jedes seiner beiden großen Werke stellt bis heute einen musterhaften „case study“ dar, was diese Werke für Historiker der Naturwissenschaft und Technik beachtlich bleiben ließ.
Quellen: StadtA Mannheim, Familienbogen, Meldekartei, Bestand Karl-Friedrich Gymnasium, Zug. 4/1977, Nr. 4, 5, 32, Konferenzen u. Abiturientenzeugnisse, Nr. 80– 83, Schülerlisten; UA Heidelberg, Studentenakten Kistner; GLA Karlsruhe 235/31654 u. 466/10360, Akten Kistner, Abt. N, Nachlass Kistner; UB Heidelberg O 243-6, Sammlung von Zeitschriften- u. Zeitungsaufsätzen aus dem Nachlass Kistner.
Werke: Der Kalender d. Juden. Vollständige Anleitung zu seiner Berechnung für alle Zeiten, 1905; Geschichte d. Physik, 2 Bde. 1906, 2. Aufl. 1919, 3. Aufl. 1934 (Übersetzung ins Spanische); Deutsche Physiker u. Chemiker, 1908, 2. Aufl. 1925 als „Deutsche Meister d. Naturwissenschaft u. Technik“, 2 Bde.; Physikalische Experimente auf historischer Grundlage, in: Pädagogisches Archiv 55, 1913, 296–307; Geschichtliche Hilfsmittel für den naturwissenschaftl. Unterricht, ebd. 56, 1914, 363–371; Zur Entwickelung des Bunsensbrenners, in: Chemische Apparatur 2, 1915, 187–189; Goethes physikalische Apparate, in: Central- Ztg. für Optik u. Mechanik 37, 1916, 139 f., 154 f.; Zur Geschichte des Luftschiffers Bittorf u. d. Ballonverbote, in: Geschichtsbll. für Technik, Industrie u. Gewerbe 4, 1917, 38–50; Physik u. Chemie im Weltkrieg, 1917; Die geschichtliche Entwicklung des Bombenwurfs aus Luftfahrzeugen, in: Geschichtsbll. für Technik u. Industrie 5, 1918, 89–109; Die Geschichte d. Schwarzwalduhr u. das Bad. Landesmuseum, ebd. 7, 1920, 30–42; Graf Karl Heinrich Josef von Sickingen u. seine „Versuche über die Platina“ (1782), in: Mannheimer Geschichtsbll. 22, 1921, 85–93, 105–109; Der Feinbau d. Materie, 1923; Die historische Uhrensammlung Furtwangen, 1925; Die Schwarzwälder Uhr, 1927; Mannheimer Stadtrat u. kurpfälzische Regierung gegen das alchemistische Laborieren, in: Studien zur Geschichte d. Chemie, FG für Edmund O. von Lippmann, 1927, 109–114, nachgedruckt in: Die BASF 15, 1965, 49–54; Die Pflege d. Naturwissenschaften in Mannheim zur Zeit Karl Theodors, 1930; Beiträge zur Geschichte dt. Uhrmacher u. Uhrmacherfamilien, in: Uhrmacher-Woche 35,1928, 661–663, 38, 1931, 128–130, 160 f., 217–219, 254 f., 44, 1937, 609– 611, 632 f.; Planetarium u. Globen im Büchersaal des Mannheimer Schlosses, in: Mannheimer Geschichtsbll. 36, 1935, 203–210; Paulus Kreuz, d. erste Uhrenglockengießer des Schwarzwalds, in: Uhrmacher-Woche 43, 1936, 556–561; Die Anfänge d. Experimentalphysik an d. Univ. Heidelberg, in: ZGO 50, 1936, 110–134; W. A. Mozart u. d. Chemiker Graf K. H. J. von Sickingen, kurpfälz. Gesandter in Paris, in: Mannheimer Geschichtsbll. 38, 1937, 42–48.
Nachweis: Bildnachweise: Nicht ermittelt.

Literatur: Poggendorffs Biograph.-literar. Handwörterb. VI, Teil 2, 1937, 1326 u. VII a, Teil 2, 1958, 760 f.; S. v. Weiher, Adolf Kistner, d. Erforscher des Schwarzwälder Uhrengewerbes, in: BH 30, 1950, 82–84 (mit Bibliographie); K. Broßmer, Professor Adolf Kistner (1878–1940), Historiker d. Naturwissenschaften, ebd. 34, 1954, 77–79 (auch in: Südwestdt. Schulbll. 53, 1954, 54 f.); H. Maierheuser, Professor Adolf Kistner, d. Erforscher des Schwarzwälder Uhrengewerbes, als Lehrer u. Mensch, ebd., 79–81.
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