Rachfahl, Felix Carl 

Geburtsdatum/-ort: 09.04.1867; Schömberg/Schlesien
Sterbedatum/-ort: 15.03.1925;  Freiburg i. Br.
Beruf/Funktion:
  • Historiker
Kurzbiografie: 1876-1886 Besuch des katholischen Gymnasiums in Glatz und des Matthiasgymnasiums in Breslau. Abitur
1886-1890 Studium der Geschichte (u. a. bei Richard Roepell, Jakob Caro, Max Lenz und Ernst Kruse) und Philosophie (Jakob Freudenthal, Benno Erdmann und Theodor Lipps) in Breslau. Eintritt in die Burschenschaft der Raczeks
1890 Promotion zum Dr. phil.
1890-1893 Teilnahme am Seminar Gustav Schmollers in Berlin. Archivstudien in Breslau
1893 Habilitation und Privatdozent für Mittlere und Neuere Geschichte in Kiel
1898 außerordentlicher Prof. in Halle
1903 ordentlicher Prof. für Mittelalterliche Geschichte in Königsberg
1907 ordentlicher Prof. für Neuere Geschichte in Gießen
1908 Mitglied der Historischen Kommission für Hessen
1909 ordentlicher Prof. in Kiel
1914 ordentlicher Prof. in Freiburg
1916 Ehrenmitglied der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte. Mitglied der Badischen Historischen Kommission
1921 Ehrenmitglied des Vereins für Geschichte Schlesiens
1922 Ehrenmitglied des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung
1922-1923 Rektor der Universität Freiburg
Weitere Angaben zur Person: Verheiratet: 1898 Julie Petrine, geb. Conrad (1879-1910), ev., Tochter des Kaufmanns Heinrich Peter Nicolaus und der Juliane Dorothea Amalie, geb. Deneken, in Flensburg
Eltern: Vater: Joseph Rachfahl, Kaufmann
Mutter: Agnes, geb. Deutschmann
Kinder: keine
GND-ID: GND/11632158X

Biografie: Volker Dotterweich (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 3 (1990), 222-224

Rachfahl gehörte zu den vielseitigsten Historikern der Wilhelminischen Epoche. In Forschung und Lehre behandelte er die Zeit vom Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Geborener Schlesier, empfing er prägende Eindrücke bei den Historikern seiner Heimatuniversität Breslau, bei Richard Roepell und Jakob Caro, der seine Promotion anregte, und bei Max Lenz, der ihn für die wissenschaftliche Arbeit im Geiste Rankes gewann. Dann aber weckte in Berlin Gustav Schmoller sein Interesse an der Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. 1893 habilitierte sich Rachfahl auf Wunsch Friedrich Althoffs in Kiel, nach fünfjähriger Privatdozentenzeit wurde er 1898 als Extraordinarius nach Halle und von nun an in raschem Wechsel an die Universitäten Königsberg (1903), Gießen (1907), Kiel (1909) und schließlich als Nachfolger Friedrich Meineckes 1914 nach Freiburg berufen.
Mit seiner Dissertation über den „Stettiner Erbfolgestreit 1464-1472“ (1890), einer quellenkritischen Untersuchung der brandenburgisch-pommerschen Erbauseinandersetzung, nahm Rachfahl bei der deutschen Territorialgeschichte des späten Mittelalters seinen Ausgangspunkt. Seine Herkunft aus dem schlesisch-böhmischen Grenzland mag ein Grund dafür gewesen sein, daß ihm die Landesgeschichte hauptsächlich in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte wichtig war. Dies wird beispielhaft deutlich in seinem ersten Hauptwerk über die „Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem dreißigjährigen Kriege“ (1894), das aus seiner Kieler Habilitationsschrift hervorging. Im Mittelpunkt der von Schmoller beeinflußten verwaltungsgeschichtlichen Arbeit steht die historische Entwicklung staatlichen Lebens in Schlesien, namentlich die systematische Beschreibung der schlesischen Behördenorganisation im 15. und 16. Jahrhundert. Hier griff Rachfahl erstmals das verfassungsgeschichtliche Thema auf, das ihn dann ein Leben lang beschäftigen sollte: die Ausformung des dualistischen Ständestaats in der frühen Neuzeit. Noch in Kiel faßte er den Entschluß, eine Geschichte des niederländischen Freiheitskampfes unter Wilhelm von Oranien zu schreiben, wo das Ringen zwischen Krone und Ständen universalhistorische Dimensionen annahm. Im Spiegel der Biographie seines „Helden“ sollten die politischen, sozialen und geistigen Zustände der Niederlande des 16. Jahrhunderts zu einem Gesamtbild zusammengeschlossen werden. Darüber hinaus war Oranien für Rachfahl, der katholisch erzogen worden war, sich aber von der Kirche gelöst hatte, der große Vorkämpfer des Prinzips religiöser Toleranz, zu dem er sich – auch gegenüber dem Judentum – rückhaltlos bekannte. Das Werk „Wilhelm von Oranien und der Niederländische Aufstand“ (1906-1924) war für die reine Fachwissenschaft geschrieben. Zu breit angelegt, reichte es nach drei umfangreichen Bänden erst bis 1569 und blieb ein Torso.
Rachfahl war ein scharfsinniger, wenn auch nicht unfehlbarer Kritiker. Theoriebildung, die nicht auf empirischer Forschung beruhte, lehnte er entschieden ab. Bei den zahlreichen Kontroversen, zu denen er Stellung bezog, ging es ihm immer auch um die Klärung methodischer Positionen. So leitete er 1895 die „heiße Phase“ des Streites ein, den Karl Lamprecht mit der Grundkonzeption seiner „Deutschen Geschichte“ ausgelöst hatte. Dabei betonte er die Wirksamkeit der „großen Ideen“ innerhalb der Geschichte und relativierte die Wertschätzung ökonomischer Faktoren, hinter der er eine positivistische Neubestimmung von Gegenstand und Methode der Geschichtswissenschaft vermutete. Nicht minder heftig wandte er sich gegen die Konstruktion einer gesetzmäßigen Stufenfolge in der Entwicklung der Staaten und Kulturen. Seine umfassende Kritik forderte den Leipziger Historiker zu einer eigenen Gegenschrift heraus („Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft“, 1896). Schließlich verwarf Rachfahl Lamprechts „kollektivistische“ Geschichtsauffassung zugunsten einer „individualistischen“ Geschichtsbetrachtung im Sinne Rankes. Später hat er sich auf Auseinandersetzungen mit Max Weber und Ernst Troeltsch über die Wirtschaftsethik des Calvinismus und mit Werner Sombart über den Anteil des Judentums an der „Genesis des modernen Kapitalismus“ eingelassen. Und noch in seinem letzten Buch über „Staat, Gesellschaft, Kultur und Geschichte“ (1924), das sich auf der Grenzlinie zwischen Historik und Geschichtsphilosophie bewegt, hat Rachfahl, der mit dem Breslauer Spinozisten Jakob Freudenthal seit seiner Studienzeit freundschaftlich verbunden war, seine vom Primat des Politischen geprägte Geschichtsauffassung gegenüber der Begriffsbildung der modernen Soziologie abgegrenzt und gefordert, Sozial- und Kulturgeschichte in der Staatsgeschichte zu einer „höheren Einheit“ zusammenzufassen.
Rachfahl zählt so zu den „politischen Historikern“. In der praktischen Politik hielt er sich indes merklich zurück. Erst in den Freiburger Jahren forderten ihn die Zeitereignisse als Wissenschaftler zu politischen Stellungnahmen heraus: 1917 rechtfertigte er den deutschen Einmarsch in Belgien mit historischen Gründen, im gleichen Jahr veranlaßte er zusammen mit dem Romanisten Gottfried Baist eine Protestkundgebung Freiburger Professoren gegen die Erzbergersche Friedensresolution, 1919 wandte er sich gegen die Auslieferung Wilhelms II. an die Siegermächte. Aus Abneigung gegen die Demokratisierung Preußens und Furcht vor dem „Bolschewismus“ Berlins stellte er vorübergehend die Auflösung des großpreußischen Staatsverbandes zur Diskussion („Preußen und Deutschland“, 1919). Schließlich sprach er sich nach der Volksabstimmung von 1921 für den Verbleib Oberschlesiens beim Reich aus. Politisch war Rachfahl ein Konservativer, wenn auch frei von parteidogmatischen Bindungen. G. von Below, der seine Berufung nach Baden mit Hilfe eines Minderheitenvotums durchgesetzt hatte, stufte ihn für die Zeit vor 1918 zwischen „freikonservativ und nationalliberal“ ein. Nach der Revolution sympathisierte Rachfahl mit der DVP. Als die große Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges zu erscheinen begann, verfolgte er das Ziel, durch eine zusammenfassende Analyse der deutschen Außenpolitik seit 1870 die „Ursachen des erlittenen Unrechts“ zu ermitteln und „zur Wiederherstellung des Zertrümmerten“ beizutragen, eine Unternehmung, aus der neben mehreren Einzelstudien eine streng diplomatiegeschichtliche, apologetische Darstellung der Außenpolitik Bismarcks hervorging („Die Bismarck'sche Ära“, 1923). Im Kern enthielt das Buch den Vorwurf, daß es die Reichsregierung nach Bismarck versäumt habe, durch ein Bündnis mit England der „Einkreisung“ Deutschlands entgegenzuwirken.
Der badischen Landesgeschichte hat Rachfahl keine eigenen Forschungen gewidmet. Eine in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg geplante Kulturgeschichte des alemannischen Stammesgebiets kam nicht zur Ausführung. Dagegen hat er die Ausbildung badischer Geschichtslehrer nachhaltig beeinflußt. Auch als akademischer Lehrer bekannte er sich zu Ranke, der ihm in der Strenge der Quellenkritik, im Streben nach Universalität und Objektivität sowie in der Bestimmung der politischen Geschichte als Hauptgegenstand des Historikers Vorbild war. In historischen Kontroversen, wie sie sich u. a. auch an seiner Auffassung von der „deutschen Politik“ Friedrich Wilhelms IV. oder von der Bismarckschen Bündnispolitik gegenüber England entzündeten, hat er der Geschichtsforschung seiner Zeit wirkungsvolle Impulse gegeben. Rachfahl darf daher, obgleich sein wissenschaftliches Opus heute weitgehend vergessen ist, den führenden Historikern der „Ranke-Renaissance“ an die Seite gestellt werden.
Werke: Schriftenverzeichnis: Die Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen, hg. v. Sigfrid Steinberg, Bd. 2, Leipzig 1926, 219-222.
(Auswahl) Deutsche Geschichte vom wirtschaftlichen Standpunkt, in: Preuß. Jb. 83 (1895), 48-96; Über die Theorie einer „kollektivistischen“ Geschichtswissenschaft, in: Jb. für Nationalökonomie und Statistik 68 (1897), 659-689; Margaretha von Parma, München 1898; Deutschland, König Friedrich Wilhelm IV. und die Berliner Märzrevolution, Halle 1901; Zur Beurteilung König Friedrich Wilhelms IV. und der Berliner Märzrevolution, in: Hist. Vjschr. N.F. 5 (1902), 196-229; Österreich und Preußen im März 1848, in: ebda. 6 (1903), 357-386, 503-530 und 7 (1904), 192-240; Windthorst und der Kulturkampf, in: Preuß. Jb. 135 (1909), 213-253, 460-490; Kalvinismus und Kapitalismus, in: Intern. Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3 (1909), 1217 ff.; Das Judentum und die Genesis des modernen Kapitalismus, in: Preuß. Jb. 147 (1912), 13-86; Kaiser und Reich 1888-1913, Berlin 1913; Deutschland und die Balkanfrage im Wandel der Jahrhunderte, in: Weltwirtschaftliches Archiv 5 (1915), 23-62, 244-291; Belgien und Europa in der Geschichte, in: ebda. 9 (1917), 141-178; Die deutsche Politik König Friedrich Wilhelms IV. im Winter 1848/49, München 1919; Kann Kaiser Wilhelm ausgeliefert werden? Berlin 1919; Der Fall Valentin. Die amtlichen Urkunden, München 1920; Bismarck und Wir, Freiburg 1920; Don Carlos, Freiburg 1921; Max Lenz und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: HZ 123 (1921), 189-220; Das deutsche Recht auf Oberschlesien, Frankfurt/M. 1921; Bismarcks englische Bündnispolitik, Freiburg 1922; Deutschland und die Weltpolitik 1871-1914, Bd. 1: Die Bismarck'sche Ära, Stuttgart 1923; Die deutsche Außenpolitik in der Wilhelminischen Ära, Berlin 1924.
Nachweis: Bildnachweise: Steinberg, 198; A. O. Meyer, vor I; Fotoalbum A II im GLAK.

Literatur: Autobiographie, in: Steinberg, 199-218; Hermann Burte (Strübe), in: Der Markgräfler (Lörrach) v. 12.4.1925; P. E. Hahn, in: Freiburger „Figaro“, Nr. 15 v. 18. 4. 1925; Heinrich Finke, in: (Freiburger) Akademische Mitt. 4 (1925), 9 f. (= Nr. 2 v. 30.4.1925); Erich Brandenburg, in: Hist. Vjschr. N.F. 22 (1925), 566-568; E. H.(eymann), in: ZSRG Germ. Abt. 45 (1925), 564 f.; Hermann Oncken, in: Archiv für Politik und Geschichte 4 (1925), 579-585; Georg von Below, in: Schlesische Lebensbilder II (1926), 371-380; ders., in: ZGO 78 (1926), 463-465; Arnold Oskar Meyer, in: Zs. der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 55 (1926), I-XVIII; Friedrich Seifert, Der Streit um Karl Lamprechts Geschichtsphilosophie, Augsburg 1925; Clemens Bauer, Die Geschichtswissenschaft in Freiburg vom letzten Jahrzehnt des 19. Jhs. bis zum ersten Viertel des 20. Jhs., in: ders. u. a., Beiträge zur Geschichte der Freiburger Philosophischen Fakultät, Freiburg 1957, 201 f.; Karl Jordan, Geschichte der Philosophischen Fakultät Kiel, Bd. 2, Neumünster 1969, 74 f.; Hans Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975; Karl Heinz Metz, Grundformen historiographischen Denkens, München 1979; Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, München 1980.
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