Ramsauer, Carl Wilhelm 

Geburtsdatum/-ort: 06.02.1879; (heute: Oldenburg-)Osternburg
Sterbedatum/-ort: 24.12.1955; Berlin
Beruf/Funktion:
  • Physiker
Kurzbiografie: 1897 Ostern Abitur am Gymnasium in Oldenburg
1895–1902 Studium d. Mathematik u. Physik an den Univ. München, SS 1897 u. WS 1897/98, Tübingen, SS 1898, Berlin, WS 1898/99-SS 1900, u. Kiel, SS 1901-SS 1902
1902 XII 20 Promotion „summa cum laude“ an d. Univ. Kiel: „Über Ricochetschuss“
1902 V–1906 IV Wissenschaftler am Torpedo-Laboratorium in Kiel
1906 X–1907 IX Einjährig-Freiwilliger beim Feld-Artillerie-Regiment Nr. 6 zu Breslau
1907 X–1909 III Wiss. Assistent am Physikalischen Institut d. Univ. Heidelberg
1909 IV–1921 III Wiss. Mitarbeiter des Radiologischen Instituts
1909 VII Habilitation im Fach Physik: „Experimentelle u. theoretische Grundlagen des elastischen u. mechanischen Stoßes“; Probevortrag: „Physikalische Beweise d. radioaktiven Umwandlungen“ 14.7.1909; öffentliche Probevorlesung „Das Wesen d. α-Strahlen“ 30.10.1909
1914 VIII–1918 XII Kriegsdienst: zunächst Unteroffizier, dann Leutnant d. Landeswehr beim Feld-Artillerie-Regiment 30 an d. Westfront, später Fliegerschutz in Lille; EK II. u. I. Kl, Oldenburger Kreuz II. u. I. Kl.
1915 XII ao. Professor
1921 IV–1928 III o. Professor d. Experimentalphysik u. Direktor des Physikalischen Instituts an d. TH Danzig
1928 IV–1945 IV Direktor des Forschungsinstituts d. Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, Berlin
1946–1952 o. Professor d. Experimentalphysik an d. TU Berlin
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Korr. Mitglied d. Dt. Akademie für Luftfahrtforschung (1942); Dr. rer. nat. h. c. d. TH Karlsruhe (1950); Ehrenmitglied des Verbands Dt. Physikalischer Gesellschaften, heute: Dt. Physikalische Gesellschaft (1951); Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens d. Bundesrepublik Deutschland (1954)
Verheiratet: I. 1919 Meta, geb. Braun (1893–1946/8)
II. 1949 Charlotte, geb. Fischer (geboren 1908)
Eltern: Vater: Carl Wilhelm (1818–1883), Pastor
Mutter: Auguste Charlotte Henriette, geb. Frerichs (1837–1901)
Geschwister: 5; Friedrich Wilhelm August (geboren 1867), Carl Ludwig August (1869–1873), Gustav Wilhelm (geboren 1871), Clara Wilhelmine Marie (1873–1925) u. Bertha Johanna Elisabeth (1976–1928), außerdem 4 Halbbrüder aus d. ersten Ehe des Vaters, Johannes Daniel (1851–1884), Gottfried Arnold (1859–1883), Carl Friedrich Otto (geboren 1860), Pastor, Daniel Theodor (geboren 1861), Pastor, u. noch zwei früh gestorbene.
Kinder: 3; 2 Söhne, 1 Tochter
GND-ID: GND/116327790

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 383-388

Ramsauer wurde als zwölftes und letztes Kind einer Pfarrersfamilie geboren. Sein Vater starb, als Ramsauer vier Jahre alt war. Früh auf sich selbst angewiesen entwickelte er einen zähen Willen, aber auch eine gute Menschenkenntnis. Um seine Ausbildung kümmerte sich der Bruder des Vaters, Oberschulrat G. Ramsauer. Dank dessen Unterstützung konnte Ramsauer seinen Wunsch erfüllen, Mathematik und Physik zu studieren, obwohl dies damals als aussichtlos galt. Nach sieben Semestern in München, Tübingen und Berlin ergriff Ramsauer die Möglichkeit, vertretungsweise eine Stelle am Mariengymnasium in Jever, Oldenburg, zu übernehmen. Ein dreiviertel Jahr lang erteilte er den ganzen Mathematik- und Physikunterricht, was auch ihm selbst sehr lehrreich war; Sein Interesse verschob sich dabei in Richtung Physik.
Ostern 1901 begann Ramsauer in Kiel Physik zu studieren. Am Kolloquium von Philipp Lenard „lernte ich […] zum ersten Mal lebendige Physik kennen“, erinnerte sich Ramsauer im Alter (1949, S. 102). Ramsauers rege Teilnahme am Kolloquium, jedes Semester hielt er einen Vortrag, veranlasste Lenard, Ramsauer vorzuschlagen, eine Doktorarbeit bei ihm zu schreiben. Ramsauer, so er selbst, „war aber durch Lenards kleinliche Doktorandenführung, besonders durch den völligen Mangel an selbstständiger Arbeitsmöglichkeit abgeschreckt“ (ebd.). Er lehnte ab. Bemerkenswert ist, dass Ramsauer dabei die guten Beziehungen mit Lenard bewahren konnte. Er wandte sich stattdessen an den theoretischen Physiker, Leonhard Weber (1848–1919), der eher Experimentalphysiker war. Weber war bereit, dass Ramsauer ein selbstgewähltes Thema bei ihm als Dissertation bearbeitete und stellte ihn einen Raum zur Verfügung. Ramsauer wählte die wenig untersuchte physikalische Erscheinung, dass eine schnell bewegte Kugel von der Wasseroberfläche abprallt. Er konstruierte ein Gerät für seine Experimente und konnte nach einem Jahr mit der Dissertation „Über Ricochetschuss“ erfolgreich promovieren.
Durch Webers Vermittlung erhielt Ramsauer noch als Doktorand die Stelle eines physikalischen Assistenten am Kaiserlichen Torpedo-Laboratorium in Kiel, damals Zentralstelle für alle Probleme der Unterwassersprengtechnik; Ostern 1904 wurde er zum Ersten Assistenten befördert. Er „litt aber darunter, dass die übertriebene Geheimhaltung jede Veröffentlichungsmöglichkeit ausschloss“ (1949, S. 105). Ostern 1906 verließ Ramsauer diese Stelle, „welche meiner Neigung zu den wissenschaftlichen Studien auf die Dauer nicht entsprach“ (UA Heidelberg, PA 2125, Lebenslauf von 1909).
Ab Oktober 1906 absolvierte er den Einjährig-Freiwilligen Militärdienst in Breslau und konnte dabei an der dortigen Universität an dem physikalischen Kolloquium teilnehmen. Nach der Vereinbarung mit Lenard, der ab 1907 in Heidelberg lehrte, kam Ramsauer anschließend zu ihm ans Physikalische Institut. Als Hauptaufgabe des ersten Jahres hatte Ramsauer den Aufbau der Experimentalvorlesung, die Lenard modernisieren wollte. Nach Lenards Vorgaben hat Ramsauer Demonstrationsversuche vorzubereiten; für jedes Kolleg brauchte er dazu zehn bis zwölf Stunden, danach führte Lenard die letzte Prüfung durch. Das war für ihn „wie ein Privatissimum der Vorlesungstechnik“ bei dem großen Experimentator Lenard und als „Vorlesungsjahr in physikalischer Beziehung wohl das schönste meines Lebens“ (1949, S. 106f.).
Im Frühjahr 1909 wurde in Heidelberg das „Radiologische Institut“ gestiftet und mit dem Physikalischen Institut verbunden. Beide standen unter Lenards Leitung. Dort wurde Ramsauer nun als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingesetzt und mit Aufgaben von medizinischer Bedeutung betraut. Seine Habilitationsschrift war damals fast fertig. Sein Thema – Stöße von festen Körpern –, das ganz außerhalb von Lenards Forschungsgebiet lag, hatte er völlig unabhängig gewählt und bearbeitet. Lenard blieb aber wohlwollend und schrieb in seinem Gutachten: „Die Arbeit ist ein Künstlerstück seiner Experimentier- und Messkunst und von theoretischer Interpretation“ (UA Heidelberg, H-V-4/7, Nr. 87).
Als Privatdozent begann Ramsauer im Wintersemester 1909/ 1910 mit zwei Vorlesungen: zweistündig „Mathematische und historische Erläuterungen zur Experimentalphysik“ und eine Stunde pro Woche „Geschichte der Physik“, ein Thema, an dem er bis zum Lebensende aktives Interesse hatte. Später fügte Ramsauer mehrere Vorlesungen zur Thematik des Instituts hinzu: „Dispersion und Metalloptik“, „Ausgewählte Kapitel der Elektronentheorie“ sowie „Strahlung und Lichtquantenhypothese“. Im Sommersemester 1914 erhielt Ramsauer einen Lehrauftrag zur Experimentalvorlesung über Radiologie. Gleichzeitig arbeitete er intensiv als Experimentator und publizierte eine Reihe von Artikeln aus der medizinischen und physikalischen Radiologie, teilweise zusammen mit Lenard. Die bedeutendste Tat damals aber war die Erfindung einer neuen, sehr effektiven magnetischen Methode, die statistische Verteilung freier Elektronen nach ihren Geschwindigkeiten zu messen. Er hatte den entsprechenden Artikel noch vor Kriegsausbruch zum Druck abgeschickt, die Korrektur sollte Lenard lesen, weil Ramsauer ab 1.August 1914 einberufen war.
Zunächst war er Artillerieoffizier an der Westfront, dann beschäftigte er sich in Lille und Berlin auf eigene Initiative mit der technischen Ausbildung der Artillerieoffiziere im Flakschießen. Über Schießlehre der Flak wurden 1916 und 1917 zwei Arbeiten von ihm herausgegeben, des Themas wegen geheim. Inzwischen kümmerte sich Lenard, damals Dekan, um eine akademische Beförderung Ramsauers. Im Oktober 1915 stellte er der Fakultät einen Antrag über dessen Ernennung zum außerordentlichen Professor. Der Antrag wurde angenommen; Ende des Jahres war das Verfahren abgeschlossen.
Hoch dekoriert kehrte Ramsauer Anfang 1919 nach Heidelberg zurück und begann sofort wieder mit Forschung und Lehre. Im „Kriegssemester“ 1919 las er statt Lenard über Experimentalphysik und im Sommersemester 1919 begann sein Kurs über Radiologie. Gegenstand seiner Forschung war die Penetration freier Elektronen durch Gase und Ramsauer führte dazu den Begriff „Wirkungsquerschnitt“ ein: je größer der Wirkungsquerschnitt eines Gasmoleküls, desto wahrscheinlicher wird es von einem Elektron getroffen, und desto weniger Elektronen können das Gas durchdringen. In akribischen, mehrmals überprüften Experimenten, die auf seiner vor dem Krieg geschaffenen magnetischen Methode basierten, maß Ramsauer den Wirkungsquerschnitt langsamer Elektronen in Argon. Er fand heraus, dass Argon für niedrigenergetische Elektronen fast vollständig durchlässig ist: Die Kurve Wirkungsquerschnitt gegen Elektronenenergie zeigte ein deutliches Minimum, was damals durch keine Theorie erklärt werden konnte. Die ersten Ergebnisse, vom August 1920, trug Ramsauer der Physikalischen Sektion der 86. Naturforscherversammlung in Nauheim im September 1920 vor und stieß auf Kritik. Ausführlicher publizierte er dazu Anfang 1921 in den „Annalen der Physik“. Später folgten zwei Ergänzungen.
Ramsauers zweiter Vortrag über die unerwartete Erscheinung vor dem Physikertag in Jena im September 1921, wo er auch die vorjährige Kritik zurückwies, wirkte als Anregung: Die bald „Ramsauer-Effekt“ genannte Erscheinung schien theoretisch unmöglich; manche Physiker hofften, dass experimentelle Fehler vorlagen. 1922 bis 1924, auch noch später, bestätigte sich jedoch dieses Phänomen in Deutschland wie im Ausland. Der Effekt wurde erst aufgrund der Theorie von Louis de Broglie (1882–1987) über die Wellennatur der Materie verständlich, Das war die erste Bestätigung der Wellennatur der Elektronen. So konnte sich die neue Theorie festigen.
Zu Ostern 1921 wurde Ramsauer zum ordentlichen Professor für Experimentalphysik und Direktor an das Physikalische Institut der TH Danzig berufen. Ramsauer gestaltete sein Institut zu einer universitären Forschungs- und Lehreinrichtung aus, wie er es in Heidelberg gelernt hatte. Ergänzend zu den wissenschaftlichen Praktika führte er Handfertigkeitspraktika ein, wobei künftige Physiker lernten, sich gelegentlich ohne Werkstatt selbst zu helfen. Auch für Bewerber zum höheren Lehramt fand außer dem üblichen Anfängerpraktikum ein besonderes Demonstrationspraktikum statt. Negative Erfahrungen mit der autoritären Leitung des Instituts durch Lenard veranlassten ihn, seinen Mitarbeitern möglichst viel Selbstständigkeit und Vertrauen einzuräumen. Die Hauptrichtung seiner Forschungen aber blieb die Vertiefung des in Heidelberg entdeckten „Ramsauer-Effekts“ mit anderen Gasen und im erweiterten Energiebereich. Er hütete sich indes vor zu enger Spezialisierung, indem er auch ganz andere Fragestellungen bearbeitete, z. B. das Verhalten schnell bewegter Kugeln im Wasser. Insgesamt gelang es ihm, das Ansehen der Physik innerhalb der Hochschule und auch beim Senat der Freien Stadt Danzig dergestalt zu heben, dass er anlässlich eines Rufs nach Halle (1924) eine wesentliche Erweiterung des Instituts, besonders den Bau eines großen physikalischen Hörsaals durchsetzen konnte.
Ende 1927 erhielt Ramsauer das Angebot, ein Forschungsinstitut für die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, AEG, in Berlin zu leiten. Nach einigem Schwanken wagte er den Schritt, ein Institut großen Stils aufzubauen und nahm seine besten Mitarbeiter mit, Ernst Brüche (1900–1985) und Rudolf Kollath (1900–1978). Von Anfang an erstrebte Ramsauer eine rein wissenschaftliche Forschungsstätte mit dem Schwerpunkt Physik. „Der Erfolg wird gerade dann am größten sein, wenn der wissenschaftliche Erkenntnistrieb durch keine anderen Rücksichten gestört wird“ (Einführung, 1928–1929, S. 5). Demgemäß publizierte er 1929 den Artikel „Sollen die technisch-physikalischen Forschungslaboratorien der Industrie rein wissenschaftliche Forschung betreiben?“ und beantwortete die Frage uneingeschränkt mit Ja. Er war überzeugt, dass es sich bei seinem Institut „nicht lediglich um die unmittelbar verwertbaren wissenschaftlichen Ergebnisse handelte, sondern besonders auch um Hebung des ganzen Personalniveaus und um die Heranziehung eines hochstehenden Nachwuchses“ (1949, S. 126). In diesem Sinn baute Ramsauer sein Institut auf, das am 1. April 1928 mit 30 wissenschaftlichen Mitarbeitern eröffnet wurde; in zehn Jahren war diese Zahl annähernd vervierfacht. Von ursprünglich acht Laboratorien entsprach vor allem das für „Allgemeine Physik“ unter Leitung von E. Brüche den Bestrebungen Ramsauers. Während der nächsten Jahre wurden dort Grundlagen der Elektronenoptik geschaffen und das elektrostatische Elektronenmikroskop erfunden. In Berlin hatte er keine Zeit mehr, selbst zu experimentieren, Die Experimentalarbeit erfüllte Rudolf Kollath, er setzte jedoch Untersuchungen über Wirkungsquerschnitte verschiedener Gase gegenüber Elektronen und Ionen fort. Bemerkenswert, um die Mitte der 1930er-Jahre galten Ramsauers Daten weltweit als die zuverlässigsten unter vielen konkurrierender Experimentatoren (Gyfong, 1995, S. 298). Sein Credo als Leiter fasste er zusammen im Bekenntnis, „dass er seinen Mitarbeitern die genügende Freiheit und Anerkennung lässt“ (Der Physiker, 1940, S. 18) und verzichtete bewusst auf persönliche Erfolge zu Gunsten des ganzen Laboratoriums.
Entsprechend wirkte Ramsauer auch, als er 1931 Honorarprofessor für Physik an der TH Berlin wurde. Zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ließ er in seinem Institut laufend Diplom- und Doktorarbeiten durchführen. Allein von 1931 bis 1937 wurden im Institut 21 Dissertationen gefertigt; spätere Daten fehlen. In die Berliner Zeit fällt auch die vielseitige Tätigkeit Ramsauers als Herausgeber: Ab 1932 war er Schriftleiter der „Zeitschrift für technische Physik“ und gab bei demselben Verlag auch die von ihm angeregte Reihe „Die Physik in regelmäßigen Berichten“ heraus. Bei der AEG gründete er und gab das „Jahrbuch des Forschungsinstituts“ heraus. Auch einige Sammelbände, von denen „Das freie Elektron“ (1940) besonders wichtig ist, stammen von ihm.
Im März 1935 kündigte Deutschland den Versailler Vertrag, Hitler deklarierte die „Wiedererlangung der Wehrfreiheit“, womit auch für AEG eine Zeit für Forschungen begann, die hauptsächlich auf Ziele der Rüstung orientiert waren. Die Rüstungsthematik, die Ramsauer für notwendig ansah, war ihm seit seinen Jahren im Torpedo- Laboratorium bekannt. Ramsauer verfolgte keine pazifistischen Träume, sondern sah eine patriotische Pflicht in seiner Arbeit für das Militär, die er von der NS-Ideologie entschieden trennte. Drum hatte er sich „von der Partei möglichst ferngehalten“ (1947, Zur Geschichte…, S. 112). Dies zeigte sich schon vor der NS-„Machtübernahme“: 1931 wurde Lenard in Heidelberg emeritiert. Die Berufungskommission benannte Ramsauer aufgrund von Empfehlungen leitender Physiker Deutschlands als möglichen Nachfolger (UA Heidelberg, H-V-4/29, Nr. 46 u. 77; B-7818/1). Ramsauer jedoch vermied Verhandlungen mit dieser Universität, „da ich nur die Wahl gehabt hätte zwischen einem unheilbaren Krach mit ihm [Lenard] einschließlich NSDAP und der Teilnahme an dem beschämenden ‚Aufbruch der deutschen Physik‘“ (1949, S. 118).
Auch wegen des Umstandes, dass Ramsauer kein Staatsbeamter war, wählte man ihn im September 1940 zum Vorsitzenden der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, DPG. Ramsauer sah seine Pflicht in der Unterstützung der Physiker-Zunft. Tatsächlich blieb die DPG die einzige, die die Aufnahme in die 1937 gegründete Dachorganisation, dem NS-„Bund Deutscher Technik“, vermeiden konnte. Als Leistung des Vorsitzenden Ramsauer ist 1944 die Gründung der Zeitschrift „Physikalische Blätter“ zu nennen. Durch die Betonung der Rolle der Physik für kriegswichtige Arbeiten wurde vielen Physikern der Frontdienst erspart. Auch wenn die Meinungen über die Tätigkeit Ramsauers an der Spitze der DPG geteilt sind, war er selbst – wie viele seiner Zeitgenossen – überzeugt, dass es ihm gelungen sei, Selbstständigkeit zu bewahren, und dass „die Gesellschaft sich nicht den wissenschaftsfeindlichen Tendenzen der Partei servil gefügt hat, sondern für die ihr anvertrauten Ideale mutig eingetreten ist“ (1947, Zur Geschichte…, 110). Moderne Wissenschaftshistoriker halten dagegen, dass der Preis dafür eine tatsächliche Unterstützung des NS-Regimes durch aktive Teilnahme an der Rüstungsindustrie und Erfüllung der vom Militär gestellten Aufgaben war (vgl. H. Maier, 2002, u. D. Hoffmann, 2007); dagegen betonte aber schon ein Zeitgenosse: „Wie schwer es zu jener Zeit jeder hatte, der sich in exponierter Stellung […] befand.“ (Zenneck, 1949, S. 477).
Nach dem Zusammenbruch wurde das Berliner Forschungsinstitut der AEG, das sich im russischen Sektor befand, weitestgehend demontiert, die Arbeit dort wurde unmöglich. Ramsauer nahm einen Ruf an die im englischen Sektor neugegründete TU Berlin, Nachfolgerin der Berliner TH, als ordentlicher Professor der Experimentalphysik an. Zunächst hatte er die Schwierigkeiten der Nachkriegszeit zu überwinden. Sein erstes großes Kolleg musste er fast ohne Demonstrationen im ungeheizten Institut mit Pelzmütze halten. Allmählich jedoch gelang der Wiederaufbau, die nötigsten Instrumente wurden beschafft – Ramsauer wurde erst mit 73 Jahren emeritiert! Unterdessen war er auch freier Mitarbeiter der AEG gewesen und fertigte intensive literarische Arbeit, besonders zur Verbreitung physikalischer Kenntnisse und Fragen des physikalischen Unterrichts. Er betreute auch bis an sein Lebensende die „Physikalischen Blätter“ und bereitete ein dreibändiges Werk „Grundversuche der Physik in historischer Darstellung“ vor, wovon er aber nur den ersten Band publizieren konnte.
Von Ramsauer stammen über 100 Publikationen. Seine wichtigsten Forschungsarbeiten galten drei Gebieten: hydrodynamische und mechanische Arbeiten, lichtelektrische Arbeiten und „Arbeiten über die Wechselbeziehungen zwischen Korpuskeln und Materie“, wie er selbst formulierte (1952, Über meine …, S. 66). Darüber hinaus seien seine Werke zur Geschichte der Physik angeführt, auch sehr inhaltsreiche Aufsätze über Philipp Lenard, die 1949 größtenteils in Ramsauers Erinnerungen (in „Physik-Technik-Pädagogik“) eingingen, die auch eine Sammlung verschiedener Artikel und Vorträge einschließen. Erwähnt wenigstens seien noch die Aufsätze und Vorträge über die Organisation der physikalischen Forschung, über physikalische Literatur und über die Ausbildung jüngerer Generationen. Die bedeutendste seiner Leistungen aber ist zweifellos der „Ramsauer-Effekt“, wozu seine wichtigsten Arbeiten in der Reihe „Ostwalds Klassiker der exakten Naturwissenschaften“ wiederveröffentlicht sind.
Quellen: A d. Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg, Bestand Familienregister Osternburg, Nr. 2; UA Heidelberg PA 2125, Personalakte Ramsauer, Rep. 27/1020, Akademische Quästur Ramsauer, H-V-4/7, Nr. 87 u. H-V-4/8, Nr. 13, Habilitation R., H-V-4/8, Nr. 2-5, 2-7, 13, Lehrtätigkeit R., H-V-4/14, Nr. 6, Ernennung Ramsauer zum ao. Prof., RA 6466, Akte des Physikalisch-radiologischen Instituts 1908–1928, H-V-4/29, Nr. 46 u. 77, Besetzung des Lehrstuhls für Physik nach Lenard, B-7818/1, Lehrstuhl de. Physik; A des Technoseums, Mannheim DoA 777, Nachlass Ernst Brüche, Nr. 5, 129, 130, 176, 221, 225, 233, 261, 268, 272, 295, 308, 322, Briefe Ramsauers, Nr. 22a u. 329, Texte Ramsauers über Philipp Lenard, Nr. 22b, Materialien zu Bd. II d. „Grundversuche d. Physik in historischer Darstellung“; Auskünfte aus dem StadtA Oldenburg vom 3.11.2015 u. dem A d. Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg vom 9.11.2015.
Werke: Über den Ricochetschuss, Diss. phil. Kiel, 1903; Experimentelle u. theoretische Grundlagen des elastischen u. mechanischen Stoßes [Habilitationsschrift], in: Annalen d. Physik 30, 1909, 417-494; (mit P. Lenard) Über die Wirkungen sehr kurzwelligen ultravioletten Lichtes auf Gase u. über eine sehr reiche Quelle dieses Lichtes I-V, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, Math.-naturwiss. Kl., Abt. A, 1910, 28. Abh., 1-20, 31. Abh., 1-36, 32. Abh., 1-31, 1911, 18. Abh., 1-27, 24. Abh., 1-54; Über einen neuen Kreuznacher Aktivator für Injektionszwecke, in. Münchener med. Wochenschr. 57, 1910, 912f.; (mit A. Caan) Über Radiumausscheidung im Urin, ebd., 1445-1448; Über Kreuznacher Aktivatorkonstruktionen, ebd., 1499-1501; (mit A. Caan) Über das Verhalten d. Organe nach Radiumeinspritzungen am Ort d. Wahl, ebd. 58, 1911, 1757-1759; Das neue physikalisch-radiologische Institut d. Universität Heidelberg, in: Elektrotechnische Zs. 34, 1913, 1364-1367; (mit H. Holthusen) Über die Aufnahme d. Radium- Emanation durch das Blut, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, Math.-naturwiss. Kl., Abt. B, 1913, 2. Abh., 1-35; Über die Analyse radioaktiver Substanzen durch Sublimation, ebd., Abt. A, 1914, 3. Abh., 1-21; Über eine direkte magnetische Methode zur Bestimmung d. lichtelektrischen Geschwindigkeitsverteilung, ebd., 19. Abh., 1-23, auch in: Annalen d. Physik 45, 1914, 961-1002; Über die lichtelektrische Geschwindigkeitsverteilung u. ihre Abhängigkeit von d. Wellenlänge, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, Math.-naturwiss. Kl., Abt. A, 1914, 20. Abh., 1-21; Über den Wirkungsquerschnitt d. Gasmoleküle gegenüber langsamen Elektronen, in: Physikalische Zs. 21, 1920, 576-578; Über den Wirkungsquerschnitt d. Edelgase gegenüber langsamen Elektronen, ebd., 22, 1921, 613-615; Über den Wirkungsquerschnitt d. Gasmoleküle gegenüber langsamen Elektronen, in: Annalen d. Physik 64, 1921, 513-540, 66, 1921, 546-558, 72, 1923, 345-352; Die lichtelektrische Wirkung unterteilter Lichtquanten, ebd. 64, 1921, 750-758; Über den Wirkungsquerschnitt d. Edelgasmoleküle gegenüber langsamen Elektronen, in: Jahrb. d. Radioaktivität u. Elektronik 19, 1923, 345-354; Über den unmittelbaren Nachweis d. elektrischen Erdladung, in: Annalen d. Physik 75, 1924, 449-458; Über den Wirkungsquerschnitt d. Kohlensäuremoleküle gegenüber langsamen Elektronen, ebd. 83, 1927, 1129-1185; Die Bewegungserscheinungen des Wassers beim Durchgang schnell bewegter Kugeln, ebd. 84, 1927, 697-720; Der Einfluss freier Oberflächen u. fester Wände auf schnell bewegte Kugeln im Wasser, ebd. 721-745; Der Wirkungsquerschnitt von Gasmolekülen gegenüber Alkaliionen von 1–30 Volt Geschwindigkeit, in: Physikalische Zs. 28, 1927, 858-864; (mit Otto Beck) Der Wirkungsquerschnitt von Gasmolekülen gegenüber Alkaliionen von 1–30 Volt Geschwindigkeit, in: Annalen d. Physik 87, 1928, 1-30; Über den Wirkungsquerschnitt neutraler Gasmoleküle gegenüber langsamen Elektronen, in: Physikalische Zs. 29, 1928, 823-830; Einführung, in: Jahrb. des Forschungs-Instituts d. AEG 1, 1928-1929, 3-6; (mit R. Kollath) Über den Wirkungsquerschnitt d. Edelgasmoleküle gegenüber Elektronen unterhalb 1 Volt, Physikalische Zs. 30, 1929, 760-766; Sollen die technisch-physikalischen Forschungslaboratorien d. Industrie rein wissenschaftliche Forschung betreiben? in: Zs. für technische Physik 10, 1929, 223-226, auch in: Jahrb. des Forschungs- Instituts d. AEG 1, 1928–1929, 233-236; Das Forschungs- Institut d. AEG, ebd. 2, 1930, 7-13; Wirkungsquerschnitt u. Gasentladung, ebd., 227 f; (mit R. Kollath) Die Winkelverteilung bei d. Streuung langsamer Elektronen an Gasmolekülen, in: Physikalische Zs. 32, 1931, 867-870 (Kurze Mitteilung in: Naturwissenschaften 19, 1931, 688 f; Mitarbeit d. AEG an d. Nordlichtforschung, in: Jahrb. des Forschungs-Instituts d. AEG 3, 1931–1932, 125-128; (mit R. Kollath) Wirkung neutraler Gasmoleküle gegenüber langsamen Elektronen u. langsamen Protonen, ebd. 145-158; Ein Beispiel vollständiger Analogie zwischen elektrischer u. mechanischer Schwingung, in: Physikalische Zs. 34, 1933, 459-461; Über eine neue Methode zur Erzeugung höchster Drucke u. Temperaturen, ebd., 890-894; (mit R. Kollath) Streuung von langsamen Protonen an Gasmolekülen, in: Annalen d. Physik 16, 1933, 570-587, (mit R. Kollath) Die Beeinflussung langsamer Protonen durch neutrale Gasmoleküle (Gesamtwirkung, Streuung, Umladung), ebd. 17, 1933, 755-780; Zum Gedächtnis an K. W. Haußer, in: Zs. für technische Physik 15, 1934, 4-8; (mit R. Kollath) Wirkung neutraler Gasmoleküle gegenüber langsamen Elektronen u. langsamen Protonen (Fortsetzung u. Schluss), in: Jahrb. des Forschungs-Instituts d. AEG 4, 1933–1935, 55–74; Prüfen u. Messen als Voraussetzung technischen Fortschritts, in: Zs. des Vereines Dt. Ingenieure 80, 1936, 1429-1432; Zehn Jahre AEG-Forschungs-Institut, in: Jahrb. des Forschungs-Instituts d. AEG 5, 1936/1937,5-10; Der Physiker (Die akademische Berufe), 1938, 2. Aufl. 1939, 3. Aufl. 1940, 4. Aufl. 1941; Zur Entwicklung des Elektronen-Übermikroskops d. AEG, in: Jahrb. des Forschungs-Instituts d. AEG 7, 1940, 1: (Hg. u. Mitverfasser) Das freie Elektron in Physik u. Technik, 1940; (Hg.) Zehn Jahre Elektronenmikroskopie, 1940; unter dem Titel: Elektronenmikroskopie 2. u 3. Aufl. 1941 u. 1942; Die Schlüsselstellung d. Physik für Naturwissenschaft, Technik u. Rüstung, in: Naturwissenschaften 31, 1943, 285-288; Über Leistung u. Organisation d. angelsächsischen Physik, in: Jahrb. d. Dt. Akademie d. Luftfahrtforschung 1943/1944, 86-88; Hundert Jahre Physik, in: Dt. Allgemeine Ztg. vom 18.1.1945, auch in: Dieter Hoffmann, Mark Walker (Hgg.) Physiker zwischen Autonomie u. Anpassung, 2007, 632-635; Eingabe an Rust [1942], in: Physikalische Bll. 3, 1947, 43-46; Zur Geschichte d. Dt. Physikalischen Gesellschaft in d. Hitlerzeit, ebd. 110-114; Zur Reform des Physikunterrichtes an den höheren Schulen, ebd. 4, 1948, 225-228; Meinungs-Austausch zur Reform des Physik-Unterrichts an den höheren Schulen, ebd. 5, 1949, 278-283; Physik – Technik – Pädagogik: Erfahrungen u. Erinnerungen, 1949; Über meine wissenschaftliche Tätigkeit, in: Fridericiana, Mitteilungen für die Vereinigung ehemaliger Studenten d. TH Karlsruhe, Nr. 1-2, 1952, 65f.; Grundversuche d. Physik in historischer Darstellung. Bd. 1: Von den Fallgesetzen bis zu den elektrischen Wellen, 1953; Eugen Goldstein, ein extremer Experimentator, in: Physikalische Bll. 10, 1954, 543-548.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (ca. 1938), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 388, Zs. für technische Physik 20, 1939, 33. – UA Heidelberg: Pos I, 0419 u. 0420, o. D. (vgl. Literatur).

Literatur: Poggendorffs Biogr.-literar. Handwörterb. V, 1926, 1020, VI, Teil 3, 1938, 2116, VIIa, Teil 3, 1959, 668f.; NDB 21, 2003, 134-136; DBE, 2.Aufl. 8, 2007, 170f. (mit Bildnachweis); Dictionary of Scientific Biography XV, 1978, 490f.; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932, 1986, 212f., 2. Aufl. 2016 (in Vorbereitung); Altpreußische Biographie 4, 1995, 1466f.; Lexikon d. Physik in sechs Bänden, Bd. 4, 2000, 409; Anonym, Carl Ramsauer 60 Jahre alt, in: Elektrotechnik u. Maschinenbau 57, 1939, 166; G. Eisenhut, Carl Ramsauer 60 Jahre alt, in: Zs. für technische Physik 20, 1939, 33-36 (mit Bildnachweis); Ramsauer, Carl in: Jahrb. d. Dt. Akademie für Luftfahrtforschung 1941/1942, 274; W. O. Schumann, Carl Ramsauer zum 70. Geburtstag, in: Zs. für angewandte Physik 1, 1949, 30f.; J. Zenneck, Carl Ramsauer 70 Jahre alt, in Optik 4, 1948/49, 474-478 (mit Bildnachweis); Ernst Brüche, Carl Ramsauer zum 70. Geburtstag, in Physikalische Blätter 5, 1949, 51-53 (mit Bildnachweis); H. Rukop, Carl Ramsauer zum 75. Geburtstage, in: Telefunken-Ztg. 27, 1954, 59 (mit Bildnachweis); Ernst Brüche, Carl Ramsauer 75 Jahre, in: Zs. für angewandte Physik 6, 1954, 95 (mit Bildnachweis); Anonym, Carl Ramsauer†, in: Zs. für Metallkunde 47, 1956, 53f.; Ernst Brücke, Abschied von Carl Ramsauer, in: Physikalische Blätter 12, 1956, 49-54; E. N. da C. Andrade, Prof. Carl Ramsauer †, in Nature 177, 1956, 1154; Erich Menzel, Das Physikalische Institut d. T.H.-Danzig, in: Otto Eiselin (Hg.), Vom geistigen Fortleben d. TH Danzig, 1961, 76-89 (mit Bildnachweis), dass. ohne Bilder in: Beiträge u. Dokumente zur Geschichte d. TH Danzig 1904–1945, 1979, 75-82; Ernst Brüche, Erinnerungen an Carl Ramsauer, in: Physikalische Bll. 32, 1976, 405-408; Karl-Ernst Boeters, In Memoriam Carl Ramsauer (1879–1955), ebd. 35, 1979, 664-666 (mit Bildnachweis); Max Päsler, Ramsauer, in: Wissenschaft u. Gesellschaft, Beitrr. zur Geschichte d. TU Berlin, 1979, Bd. II, 182f.; TH 1904–1984, 1984, 27-33 (mit Bildnachweis); Heinrich Gobrecht, Carl Ramsauer, in: Berlinische Lebensbilder, Bd. 1: Naturwissenschaftler, 1987, 263-275 (mit Bildnachweis); Gyeong Soon Im, The formation and development of the Ramsauer effect, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 25, Part 2, 1995, 269-300; Dieter Hoffmann, Carl Ramsauer, die Dt. Physikalische Gesellschaft u. die Selbstmobilisierung d. Physikerschaft im „Dritten Reich“, in: Helmut Maier (Hg.), Rüstungsforschung im Nationalsozialismus, 2002, 273-304 (mit Bildnachweis); Burghard Weiss, Forschung zwischen Industrie u. Militär: Carl Ramsauer u. die Rüstungsforschung am Forschungsinstitut d. AEG, in: Physik-Journal 4, 2005, H. 12, 53-57; Dieter Hoffmann, Mark Walker (Hgg.), Physiker zwischen Autonomie u. Anpassung, 2007.
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