Einstein, Siegfried Joseph 

Geburtsdatum/-ort: 30.11.1919;  Laupheim
Sterbedatum/-ort: 25.04.1983;  Mannheim
Beruf/Funktion:
  • Schriftsteller und Journalist, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1925 Israelitische Volksschule Laupheim
1930 Lateingymnasium Laupheim
1933 Boykottmaßnahmen gegen das elterliche Kaufhaus
1934 Opfer antisemitischer Ausschreitungen u. Emigration nach St. Gallen
1938 Verhaftung von Einsteins Vater u. Verschleppung ins KZ Dachau „Arisierung“ des Kaufhauses
1940 Handels- u. Sprachdiplom. Flucht d. Eltern in die Schweiz. Internierung Einsteins u. Einsatz im Straßenbau u. bei Meliorationen
1945 Entlassung aus dem Arbeitslager; literar. u. journalist. Tätigkeit
1950–1952 Leiter des Pflugverlags in Thal
1953 Journalist u. Publizist in Lampertheim, Hessen
1962 Teilnahme am Internat. Weltfriedenskongress in Moskau
1968 Dozent für Literatur an d. Abendakademie Mannheim. Zahlreiche Vorträge u. Lesungen
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr.
Auszeichnungen: Ehrungen: Stipendium des Bertelsmann-Verlags (1955); Thomas-Mann-Förderpreis d. Dt. Thomas-Mann-Gesellschaft (1956); Tucholsky-Preis d. Stadt Kiel (1964)
Verheiratet: 1967 (Mannheim) Ilona Margarete Anni, geb. Sand (geboren 1928), gesch. 1975
Eltern: Vater: Max (1878–1944), Warenhausbesitzer
Mutter: Fanny, geb. Marx (1892–1964)
Geschwister: 2; Klara (1913–1933) u. Rudolf (1921–2006)
Kinder: 2; Daniel (geboren 1946) u. Claire-Caroline (geboren 1971)
GND-ID: GND/116425881

Biografie: Manfred Bosch (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 87-89

Einstein wurde als Sohn einer seit dem 18. Jahrhundert in Laupheim ansässigen jüdisch-assimilierten Familie in wohlsituierte Verhältnisse hineingeboren. Der Vater war Kaufmann und Besitzer eines Warenhauses; 1932 bestätigte ihm Laupheims Bürgermeister anlässlich des 100. Firmenjubiläums dankbar, dass er „auf dem Gebiet stiller Wohltätigkeit außerordentlich viel getan“ habe. Dem Sohn erschien er rückblickend als „deutscher Mensch von ganzem Herzen“, als „Patriot im hellsten Sinn des Wortes“, und auch Einstein wuchs nach eigenen Angaben als „deutscher Junge jüdischen Glaubens“ auf. Seine frühen literarischen Versuche, auf die der Vater stolz war, unterstreichen das kulturell aufgeschlossene Milieu des Elternhauses. 1934 jedoch machte der 15-Jährige von Schüler- wie von Lehrerseite Bekanntschaft mit dem aufgestachelten Antisemitismus. Nachdem er auf dem Schulhof durch Steinwürfe verletzt worden war, nahm ihn der Vater von der Schule und schickte ihn 1934 in das Institut auf dem Rosenberg in St. Gallen, wo er später auch Abendvorlesungen an der Handelshochschule besuchte. Dort lernte er fließend Französisch und Spanisch, in Englisch legte er die Oxfordprüfung ab. Sein Interesse galt jedoch weniger der Wirtschaft als der Germanistik und Romanistik.
Aus solchen Berufswünschen wurde Einstein Anfang 1941 unliebsam herausgerissen: nach Entzug seiner Papiere als sogenannter staatenloser Ausländer wurde er interniert und in mehreren Arbeitslagern, Nuova Locarno, Vouvry, Davesco, Visp, Gampel, Bad Schauenburg und Zürich-Seebach, über das Kriegsende hinaus bei einem Tageslohn von 75 Rappen zu Straßenbau- und Meliorationsarbeiten herangezogen. Im Spätsommer 1941 erkrankte Einstein an Paratyphus C, unter dem er für den Rest seines Lebens litt. In dieser Zeit kam er in Kontakt zu antifaschistischen Kreisen und begann während der Kriegsjahre vermehrt Gedichte, Erzählungen und Kritiken zu schreiben. Nach seiner Freilassung im Sommer 1945 begann Einsteins literarisch produktivste Zeit. Sein zunächst erfolgreicher Versuch, im kulturellen Leben Fuß zu fassen, führte zu einer Reihe rasch aufeinander folgender Bücher. Gleich sein erster Gedichtband, „Melodien in Dur und Moll“ (1946), der zwei Auflagen erreichte, ließ die Kritik aufhorchen. Zwar war Einstein, dessen formstrenge Verse durchaus an die Vorbilder Trakl und Rilke mahnten, noch auf der Suche nach dem eigenen Ton, doch bewies er in seinen oft traumverloren-kindheitsverhafteten, dem Gedenken an Eltern und Geschwister gewidmeten Gedichten die Befähigung zu großer Innigkeit, die ihm auch Thomas Mann in einem Brief bestätigte. Der Prosa wandte sich Einstein in der Novelle „Sirda“ (1948), der Liebeserzählung „Thomas und Angelina“ (1949) und dem „Schilfbuch“ (1949) zu – kleinen Büchern, in denen er sich in impressionistisch anmutender Weise in der subtilen Ausdeutung jugendlicher Stimmungen und menschlicher Charaktere übte. Neben seinem vierten Prosabuch „Legenden“ (1951) legte Einstein mit dem umfangreichen Band „Das Wolkenschiff“ (1950) den bisherigen Ertrag seiner lyrischen Arbeit vor. Hier ist der Zeitbezug ausgeprägter, werden Erfahrungen von Leid, Verfolgung und Verlust der Nächsten benannt, so dass Volker Demuth von Einstein als einem „Chronist[en] eines beschädigten Lebens“ sprach. Der Band enthält auch bereits das seinem Sohn zugedachte „Schlaflied für Daniel“, Einsteins bekanntestes und später vielfach wieder veröffentlichtes Gedicht, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, u.a. von Lew Ginsburg (1921–1980) ins Russische, und vorausgreifend die beiden großen künftigen Themen Einsteins anspricht: das Verdrängen dessen, was war, und die daraus entstehende Pflicht zur Mahnung an das Geschehene. Begleitet wurde das Erscheinen dieser Bücher durch eine ausgreifende Mitarbeit in Presseorganen, darunter beim „St. Galler Tagblatt“, beim „Tagesanzeiger“ und beim Berner „Bund“. Für sie verfasste Einstein neben Essays vor allem Kunst-, Film-, Theater- und Buchkritiken. Diese Tätigkeit und Zuwendungen aus den USA sicherten seine Existenz indes nur notdürftig. Auch die zwischen 1950 und 1952 innegehabte Leitung des Pflug-Verlags, in dem auch zwei seiner eigenen Bücher erschienen waren, bot ihm keine wirklichen Perspektiven, sodass Einstein, der in der Schweiz noch immer als Emigrant galt, sich 1953 zur Rückkehr nach Deutschland entschloss. In Heidelberg, wohin er gerne gezogen wäre, fand Einstein keine Wohnung, sodass er sich nördlich von Mannheim im hessischen Lampertheim niederließ. Die dort verbrachten sechs Jahre wurden für ihn zu einer qualvollen Wiederbegegnung mit der Vergangenheit und ließen ihn die „Leier mit der Schleuder vertauschen“. Die überwiegend literarische Arbeit wich nun ganz dem Tagesjournalismus und einer Publizistik, die sich aus antifaschistischem Geist der Kritik einer Gesellschaft verschrieb, die möglichst rasch zur Normalität zurückzukehren suchte. Unfähig und auch nicht gewillt zu vergessen kämpfte Einstein, der im Holocaust acht Angehörige verloren hatte, einen leidenschaftlichen Kampf gegen restaurative Tendenzen und Antikommunismus, Remilitarisierung und Antisemitismus, dessen erneutes Opfer er mehrfach wurde. Zunächst durch die NS-Rassenpolitik, dann erneut durch den wieder aufkeimenden Antisemitismus aufs tiefste verletzt, wurde Einstein zu einem Unbequemen, der sich nicht nur seiner eigenen Rechte wehren musste, sondern sich auch zum Teil gerichtlich mit Einzelpersonen, Behörden und Vertretern der alten Eliten anlegte. Dass er sich dabei auch scharfer Polemik bediente, dass seine Arbeiten gelegentlich das Pamphletistische streiften, schuf ihm weitere Feinde und provozierte neue Diffamierung. Trotz gesundheitlicher Probleme mit der Folge verminderter Erwerbsfähigkeit arbeitete Einstein – ab 1959 von Mannheim aus – an rund zwei Dutzend Zeitungen und Zeitschriften mit, unter ihnen „Die andere Zeitung“, die Münchner „Neue Zeitung“ und der „Simplicissimus“. Er schrieb feuilletonistische und politische Beiträge, Essays, Kritiken und Leitartikel, hinzu kamen Beiträge für Radiosender. Seit Mitte der 1950er-Jahre trat Einstein auch als Redner auf; seine „Heine-Gedächtnisrede“ etwa hielt er in Frankfurt, Stuttgart, Freiburg, Karlsruhe, Mannheim und Heidelberg. Heine galt auch ein später Essay für Kindlers „Die Großen der Weltgeschichte“ (1976).
1961 erschien Einsteins bekanntestes Buch „Eichmann. Chefbuchhalter des Todes“. Mit dieser Veröffentlichung, die er seinem Vater widmete und in der er vieler Opfer gedachte, machte er sich zum leidenschaftlichen Ankläger des Nationalsozialismus und seines Rassenwahns. Weit mehr als bloße Beschreibung einer NS-Verbrecherkarriere bleibt Einstein darin nicht bei der Darstellung der „Endlösung“ stehen, sondern bezieht auch die ungenügende Strafverfolgung nach 1945 mit ein, ohne Namen schuldig zu bleiben. Um wissenschaftlich zu sein, ist der Autor viel zu sehr Betroffener; er leistet sich, ohne unsachlich zu werden, die große Abrechnungsgeste des heiligen Zorns und verurteilt die davongekommenen Schuldigen wenigstens moralisch. Das Buch wurde auch in der Sowjetunion aufgelegt, die Einstein 1962 als westdeutscher Repräsentant des Moskauer Internationalen Weltfriedenskongresses besuchte. Dort traf er mit Konstantin Fedin (1892–1977), Ilja Ehrenburg (1891–1967) und Lew Kopelew (1912–1997) zusammen. Der Einmarsch der Sowjettruppen in Prag 1968 desillusionierte Einstein, wie er auch mit alten Freunden brach, als Israel zum Angriffspunkt der Linken wurde. Selbst Opfer des Rassenwahns, bekannte sich Einstein – im Bewusstsein der Shoa wie auch im Sinn der eigenen Familie – als Jude.
Nach wie vor freischaffend, rückte Einstein – ohne je aufzuhören, der streitbare Publizist zu sein – in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten die Literatur wieder mehr in den Vordergrund. 1980 ging der lang gehegte Wunsch eines Spanienbesuchs in Erfüllung. Einstein liebte die moderne spanische Poesie, Rafael Alberti (1902–1999), Juan Ramon Jimenez (1881–1958), und widmete dem von ihn verehrten Federico Garcia Lorca (1898–1936) eine Huldigung in spanischer Sprache. Lange zuvor schon hatte sich Einstein einer Reihe deutschsprachiger Autoren zugewandt, darunter Georg Büchner (1813–1837), Heinrich Heine (1797–1856), Erich Mühsam (1878–1934), Egon Erwin Kisch (1885–1948), Ernst Toller (1893–1939), Else Lasker-Schüler (1869–1945), Carl Einstein (1885–1940) und Kurt Tucholsky (1890–1935) – allesamt einer Traditionslinie angehörend, der er sich selber zurechnete: Wahlverwandte, Unbequeme und Aufrührer, Angefeindete und Ungelittene. Ihnen widmete er teils Essays – gesammelt in dem postum erschienenen Band „Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen?“ –, teils suchte er sie, seit 1968 Dozent an der Mannheimer Abendakademie, einem breiteren Publikum nahe zu bringen. Der Kurt-Tucholsky-Preis der Stadt Kiel 1964 dürfte ihm eine besondere Genugtuung gewesen sein.
Auch wenn es um Einstein in den letzten Lebensjahren stiller wurde, arbeitete er doch beharrlich an seinem Werk. Gedichte entstanden bis zuletzt; nach einem Herzinfarkt im Jahre 1975 spiegelten sie zunehmend die drohenden Schatten von Krankheit und Tod. 1983 brach Einstein tot auf der Straße zusammen; seine letzte Ruhe fand er im Grab seiner Schwester auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim. Fragmente eines unvollendeten Romans („Jom Kippur“) finden sich in seinem letzten Buch „Meine Liebe ist erblindet“, das seine Witwe zusammen mit Freunden herausgab. Ihrem Einsatz ist es auch zu verdanken, dass man Einsteins Gedichte in der einen oder anderen Anthologie wiederfindet und dass Einsteins Persönlichkeit und sein Werk gelegentlich Gegenstand öffentlicher Erinnerung sind.
Quellen: StadtA Mannheim Zug. 16/1987, Nachlass Einstein, Siegfried.
Werke: Melodien in Dur u. Moll. Gedichte, 1946; F. M. Dostojewski, Die Frau eines Andern oder Der Mann unterm Bett (Übers.), 1947; Sirda, Novelle, 1948; Das Schilfbuch, Prosa, 1949; Thomas u. Angelina, Erzählung, 1949; Das Wolkenschiff, Gedichte, 1959; Legenden, Prosa, 1951; Eichmann, Chefbuchhalter des Todes, 1961; Roger Mauge, Die Geschichte vom Goldfisch, 1961 (Übers.); Meine Liebe ist erblindet, Gedichte, 1984; Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen? Essays, Gedichte u. Reden, 1987.
Nachweis: Bildnachweise: Bohème am Bodensee, 1997, 73.

Literatur: W. Kosch, Dt. Literatur-Lexikon, 3. Aufl. 1972, 69; Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller Bd. 1, 1974, 187f.; Dieter M. Gräf, Ein eigenwilliger u. unbequemer Literat, in: „Die Rheinpfalz“ vom 4.1.1982; Siegfried Gerth, Siegfried Einstein, Zum Gedenken an einen Unbekannten, in: Mannheimer Hefte 1983, 58f.; Marga Schwoerbel, Ein fast vergessener jüdischer Literat, in: „Staatsanzeiger für B-W“ vom 24.8.1984; Kiausch/Wiessner, „Meine Liebe ist erblindet“, in: Mannheimer Kommunale 28, 1984, 12; Richard Wernshauser, Siegfried Einstein. Meine Liebe ist erblindet, in: Neue Dt. Hefte 32, 1985, 134-136; Bettina Emmerich, In meine Heimat nur im Tod, in: Schwäbische Ztg. vom 10.5.1986; dies., Laupheim ehrt Siegfried Einstein, ebd. vom 26.4.1988; Walther Killy, Literaturlexikon Bd. 3, 1989, 215; Volker Demuth, Ewig anders sein zu müssen, in: Gesprochene Anthologie auf d. Meersburg H. 1, 1995, 18f.; Manfred Bosch, Bohème am Bodensee, 1997, 70-73; International Bibliographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945, 1999, 249; Deutsche Biogr. Enzyklopädie Bd. 3, 2. Aufl. 2006, 3; Udo Bayer, Auswanderung u. Emigration. Drei Laupheimer, in: Manfred Bosch u.a. (Hgg.), Schwabenspiegel Bd. 2.2, 2006, 889-899; Heidrun Kämper, Siegfried Einstein – Dichter, Emigrant, Zeitkritiker, in: Hermann Jung (Hg.), Spurensicherung. Mannheimer Emigrantenschicksale, 2007, 177-198; Rolf Emmerich, Familie Max Einstein, in: Die jüd. Gemeinde Laupheim u. ihre Zerstörung, 2008, 175-180.
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