Retzbach, Anton 

Geburtsdatum/-ort: 13.06.1867;  Berolzheim
Sterbedatum/-ort: 23.02.1945;  Freiburg i. Br., beigesetzt auf dem Hauptfriedhof
Beruf/Funktion:
  • Geistlicher, Nationalökonom, Mitglied des Landtags – Zentrum
Kurzbiografie: 1882-1888 Gymnasium Tauberbischofsheim
1888-1891 Studium der Theologie in Freiburg
1892 5. Jul. Priesterweihe
1892-1895 Vikar Mannheim (Obere Stadtpfarrei)
1895-1898 Studium der Nationalökonomie in Freiburg und Berlin; Promotion (Staatswissenschaft) in Freiburg: Die Schulze-Delitzschen Vorschußvereine
1899-1900 Benefiziat Konstanz
1900 Dompräbendeverweser Freiburg
1901-1930 Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine
1903-1911 Diözesanpräses der katholischen Gesellenvereine
1903 Dompräbendar und Domkustos in Freiburg
1916 Promotion (Theologie) in Freiburg: Der Boykott. Eine sozialethische Untersuchung
1919 Geistlicher Rat ad honorem
1925-1933 Mitglied des Landtags – Zentrum
1928 Päpstlicher Geheimkämmerer
1932 Päpstlicher Hausprälat
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Eltern: Vater: Johann (1828-1900), Maurermeister
Mutter: Elisabeth, geb. Spies (1828-1906)
Geschwister: 6: 2 Brüder, 4 Schwestern
GND-ID: GND/116450193

Biografie: Winfrid Halder (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 235-237

Retzbachs Lebenszeit fiel in die Phase der Industrialisierung Deutschlands und damit in einen Zeitraum größter sozialer Umschichtungen und Probleme, die unter dem Schlagwort der „Sozialen Frage“ zusammengefasst wurden. Auch für die Seelsorge, besonders die soziale Tätigkeit der katholischen Kirche ergaben sich damals Anforderungen ungeahnten Ausmaßes; zum ersten Mal zeigten sich deutliche Erosionserscheinungen an der „Volkskirche“, zunächst besonders bei den sozial deklassierten Arbeitermassen. Retzbach gehörte zu denen, die es sich zur Lebensaufgabe machten, die damals entwickelte moderne katholische Soziallehre weiterzudenken, besonders aber sie in die Praxis umzusetzen. Für die Erzdiözese Freiburg spielte er hierbei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine herausragende Rolle.
Von der Kindheit und Jugend Retzbachs ist kaum mehr bekannt, als dass er mit seinen Geschwistern in dürftigen Verhältnissen aufwuchs. Nach dem in Tauberbischofsheim erworbenen Abitur verließ er seine Heimat zum Theologiestudium in Freiburg. Kurz nach dessen Abschluss wurde er 1892 zum Priester geweiht und in seine erste Seelsorgestelle in Mannheim eingewiesen. In der damals mächtig expandierenden Industriemetropole wurde der junge Geistliche in einem für ihn neuen Erfahrungsbereich eingesetzt: Leitung und Pastoration in einem katholischen Arbeiterverein. Damit waren die Weichen für Retzbachs Lebensarbeit im Bereich der katholischen Berufsvereine, insbesondere der Katholischen Arbeiterbewegung, gestellt.
Seine Vorgesetzten ermöglichten Retzbach eine systematische Weiterbildung hinsichtlich der sozialen und ökonomischen Probleme seiner Zeit. Er gehörte zu den Ersten einer neuen Generation von Geistlichen, die später als der „Typus des sozialen Kaplans“ bezeichnet wurden. Eine Schlüsselrolle im kirchlichen Lösungsansatz für die sozialen Probleme der Gegenwart spielten die nach dem Vorbild von Kolpings Gesellenvereinen damals in großer Zahl gegründeten katholischen Berufsvereine. Um seine Arbeit in diesem Bereich noch qualifizierter fortsetzen zu können, wurde Retzbach 1895 zum Studium der Nationalökonomie beurlaubt. Er absolvierte dieses für einen katholischen Geistlichen zu dieser Zeit ziemlich ungewöhnliche Zweitstudium an der Universität Freiburg, wo er auch Max Weber hörte, und für kurze Zeit in Berlin. Mit dem in Freiburg erst kurz zuvor eingeführten Doktorgrad der Staatswissenschaften versehen, kehrte er 1898 in die Seelsorgepraxis und kirchliche Sozialarbeit zurück.
Nach kurzfristigen Übergangsverwendungen wurde Retzbach 1901 zum Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine des Erzbistums Freiburg ernannt und übernahm zudem priesterliche Funktionen am Freiburger Münster. Retzbach stand nun ohne Unterbrechung jahrzehntelang in Dienst der katholischen Berufsvereinsbewegung; zeitweise leitete er auch die Diözesanverbände der katholischen Gesellen-, Arbeiterinnen- und Jugendvereine. Daneben setzte er sich auch für den Aufbau der Christlichen Gewerkschaften ein. Persönlich beteiligt war er zudem an frühen Projekten des sozialen Wohnungsbaus in Freiburg.
Retzbach war stets bestrebt, seine Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Sozialen Frage anderen zugänglich und nutzbar zu machen. Er verfasste zahlreiche einschlägige Publikationen und wirkte zwischen 1906 und 1912 als Herausgeber der in Essen erscheinenden „Sozialen Revue“. 1906 erschien Retzbachs Hauptwerk: der „Leitfaden für die Soziale Praxis“, für ungezählte Geistliche und Laien bald eine unentbehrliche Einführung in Theorie und Praxis der kirchlichen Sozialarbeit. Mehrfach aktualisiert erfuhr das Buch bis 1922 insgesamt sieben Auflagen.
Der I. Weltkrieg und der fundamentale politische Umbruch im Anschluss daran brachte auch für die Katholische Arbeiterbewegung in Baden die Notwendigkeit einer Neuorientierung und Reorganisation mit sich. Der Diözesanpräses bezog bemerkenswert früh, im Frühjahr 1919, Stellung zugunsten der neuen parlamentarischen Demokratie. Bereits zuvor hatte er im badischen Zentrum mitgearbeitet; zwischen 1925 und 1933 brachte er seine sozialpolitischen Kenntnisse in der Zentrumsfraktion in Karlsruhe ein. Beim Neuaufbau des katholischen Vereinswesens in den 1920er Jahren zeigte Retzbach einmal mehr seinen realistischen Blick, denn er übersah keineswegs dessen konzeptionelle Mängel und potentielle Gefahren und sprach sie offen an.
Im Jahre 1930 gab Retzbach nach fast drei Jahrzehnten die Diözesanleitung der Katholischen Arbeiterbewegung ab, fuhr jedoch in seinen Bemühungen um die praktische Umsetzung der katholischen Soziallehre fort. So veröffentlichte er 1932 eine Arbeit über die Bedeutung der damals neuen Sozialenzyklika Quadragesimo anno. Sein letzter Lebensabschnitt wurde überschattet vom Überlebenskampf der Kirche gegen das kirchenfeindliche NS-Regime, dessen Vernichtungswillen auch die katholischen Berufsvereine traf. Retzbach musste mit ansehen, wie ein Gutteil seines Lebenswerks zerstört wurde, als 1938 der Diözesanverband der Katholischen Arbeiterbewegung nach einer Vielzahl von offenen und versteckten Repressalien verboten wurde. Gleichwohl blieb sein Arbeitswille ungebrochen; gegen Ende seines Lebens fasste er seine kirchenrechtlichen Kenntnisse und Erfahrungen bei der Mitarbeit im Erzbischöflichen Offizialat handbuchartig zusammen. Mitten in der Arbeit an der dritten Auflage seines Kirchenrechts-Buches ist Retzbach gestorben. Der damalige Freiburger Erzbischof Conrad Gröber gab Retzbach persönlich das letzte Geleit und würdigte ihn als einen der wichtigsten Praktiker kirchlicher Sozialarbeit in der oberrheinischen Kirchenprovinz.
Quellen: EAF, Personalakten A. Retzbach, Akten kath. Arbeiter- (B 2-55-13) u. Gesellenvereine (B 2-55-82).
Werke: (Auswahl) Die Schulze-Delitzschen Vorschussvereine, (Staatswiss. Diss. Freiburgs), 1898; Handwerker u. Kreditgenossenschaften, 1899; Leitfaden für die Soziale Praxis, 1.-7. Aufl., 1906-1922; Der Boykott. Eine sozialethische Untersuchung, (Diss. theol. Freiburg) 1916; Die Verbindlichkeit formloser letztwilliger Verfügungen nach dem alten u. dem neuen Kirchenrecht, 1917; Die kath. Arbeitervereine u. die Frage des Neubaues Deutschlands, 1919; Das moderne kath. Vereinswesen. Seine Licht- u. Schattenseiten, 1925; Franz Joseph Ritter von Buß, (o. J.); Die Erneuerung des gesellschaftl. Lebens nach d. Enzyklika Quadragesimo anno, 1932; Das Recht d. kath. Kirche nach dem Codex Juris Canonici, 1935.
Nachweis: Bildnachweise: Reichshandb., Bd. 2, 1931, 1514 (vgl. Lit.).

Literatur: Reichshandb. d. dt. Gesellschaft, Bd. 2, 1931, 1514 (mit Bild); H. A. L. Degener (Hg.), Degeners Wer ist’s?, X. Ausgabe, 1935, 1290; [Franz] V[etter], Dr. A. Retzbach (Necrologium Friburgense), in: FDA 70, 1950, 248-251; Winfrid Halder, A. Retzbach, ein bedeutender Praktiker d. kath. Soziallehre, in: FDA 114, 1994, 191-227.
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