Freudenberg, Karl Johann 

Geburtsdatum/-ort: 29.01.1886;  Weinheim
Sterbedatum/-ort: 03.04.1983;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Chemiker
Kurzbiografie: 1893-1904 Grundschule, 1896-1902 Realgymnasium, beides in Weinheim, 1902-1904 Goethe-Gymnasium zu Frankfurt a. M.
1904 IV-1905 VIII Universität Bonn: Chemie und Botanik
1905 X.01.-1906 IX.30. Militärdienst (5. Schwadron der gelben Ulanen in Ludwigsburg)
1906 X-1907 VIII Universität Bonn
1907 X-1910 IV Studium der organischen Chemie, Universität Berlin
1910 VI.15. Promotion zum Dr. phil., magna cum laude; Dissertation „Über Depside – Esteranhydride der Phenolcarbonsäuren“
1910 VII-1914 III unbezahlter Assistent am Chemischen Institut der Universität Berlin
1914 IV.01. Assistent an der Universität Kiel, VII.16. Privatdozent ebd., Probevortrag „Entwicklung der Gerbstoffchemie“
1914 VIII-1917 XII Kriegsteilnehmer; Eisernes Kreuz II. und I. Klasse
1918 I-X Lehrer und Leiter der Unteroffizierskurse an der Heergasschule, Berlin
1920 XII.12. Privatdozent für Chemie an der Universität München; Probevorlesung „Über Depside und Gerbstoffe“
1921 X-1922 IX planmäßiger außerordentlicher Professor an der Universität Freiburg
1922 01.10.-1926 31.03. ordentlicher Professor und Direktor des ehemaligen Instituts an der TH Karlsruhe
1926 April-1956 Seot. Dasselbe an der Universität Heidelberg
1929/30 und 1945/46 Dekan der Naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät
1931 Febr.-Juni Gastprofessor an der Universität Wisconsin, U.S.A.
1949/50, 1950/51 Rektor bzw. Prorektor der Universität Heidelberg
1951 28.1.-1956 Nov. Stadtrat in Heidelberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Auszeichnungen: Dr. techn. h. c. TH Graz, 1954
Dr. phil. h. c. Universität Basel, 1955
Dr. rer. nat. h. c. TH Darmstadt, 1955
Dr. rer. nat. h. c. Humboldt-Universität Berlin, 1960
Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie Stockholm, 1951
Ehrenmitglied der Chemischen Gesellschaft von Japan, 1958
Ehrenmitglied der Chemical Society, London, 1959
Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern, 1966
Verheiratet: 1909 Bonn, Doris Nieden (1887-1967)
Eltern: Hermann Ernst (1856-1923), Fabrikant in Weinheim
Helene, geb. Siegert (1855-1939)
Geschwister: Hermann Ernst (1881-1920)
Auguste (Gustel) Elisabeth, verh. Hartwig (1884-1946)
Hans Werner Paul (1888-1966)
Helene (Leni) Johanna, verh. von Mechow (1889-1917)
Otto Helmut (1890-1940)
Richard Wilhelm Eduard (1892-1975)
Adolf Emil (1894-1977)
Sophie Dorothea (1896-1963)
Elsbeth Mathilde Maria, verh. Weiß (1900-1986)
Kinder: Susanne, verw. Merton, verh. Kraft (1911-1985)
Hermann Adolf (1913-1940)
Regine Doris, verh. Jensen (geb. 1914)
Herta, verh. Plieninger (geb. 1916)
Klaus (1918-1941)
GND-ID: GND/116773758

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 87-90

Freudenberg stammte aus einer bürgerlichen Familie mit lebhaftem Unternehmergeist und sozialem Verantwortungsgefühl. Die Unterstützung des Vaters machte es möglich, daß Freudenber eine gute Ausbildung und danach gute Studienbedingungen bekam und auch durch die ersten Stationen seiner akademischen Laufbahn ohne bedeutende finanzielle Probleme gehen konnte, was ihm überdies eine ziemlich frühe Ehe erlaubte, die sehr glücklich war. Als sein langes Leben fast vollendet war, konnte Freudenberg sagen: „Ich bin seit mehr als 70 Jahren aus dem engeren Verband des Elternhauses entlassen und habe alle die Jahrzehnte und bis heute eine Geborgenheit empfunden, die weit über den materiellen Rückhalt hinausging, dessen ich teilhaftig sein durfte“.
Die Schulzeit gab Freudenberg eine gute humanistische Bildung; sein weites kulturelles Interesse bewahrte er bis ans Lebensende. Die Naturwissenschaften begann er dagegen erst in der Universität Bonn zu erlernen und zu studieren. Chemie wählte er als Hauptfach. Freudenbergs erster Lehrer war Hans Meerwein, der in ihm ein Interesse für die organische Chemie weckte. Da Freudenberg Bonn nicht für eine gute Schule hielt, wechselte er nach Berlin, wo, dank einer Empfehlung, der berühmte Emil Fischer ihn als Doktorand annahm. Bei diesem überaus anspruchsvollen Lehrer lernte Freudenberg „Geduld, Beharrlichkeit und Ehrfurcht vor der unerbittlichen Natur“. Von Fischer bekam Freudenberg den ersten Anstoß zur selbständigen Erforschung der „Naturstoffe“; Freudenbergs Dissertation wurde zum Keime einer Reihe von Arbeiten über Tannin und seine Konstitution, die er als unbezahlter Assistent Fischers erfolgreich durchführte. Als Freudenberg aber erfaßte, daß er unter Fischers Einfluß kein eigenständig denkender Forscher werden könne, suchte er, mit Einverständnis Fischers, eine andere Universität und fand diese in Kiel. Sein Privatdozentenprobevortrag fiel auf den 14. Juli 1914. Bald wurde Freudenberg als Reserveoffizier in Nordfrankreich eingesetzt, wo er bis Ende 1917 blieb. Danach wurde Freudenberg dank E. Fischers Bemühungen nach Berlin zum Gasdienst abkommandiert. Nach Kriegsende kehrte er zu seinen unterbrochenen Forschungen zurück, die er in seinem ersten, seinem Vater zugeeigneten Buch „Die Chemie der natürlichen Gerbstoffe“ 1920 zusammenfaßte. Bereits in Kiel ging Freudenberg von Tannin zur Cellulose über und begann ihre Struktur zu entziffern. Die Umstände in Kiel waren nicht günstig, so bemühte sich Freudenberg, eine bessere Stelle zu finden, und zwar an der Universität München, wo der damals bedeutendste deutsche Organiker R. Willstätter arbeitete. Nach der Umhabilitation (als Habilitationsschrift wurde das obengenannte Buch vorgestellt) bekam Freudenberg die venia legendi und danach einen Professorentitel. „Das Jahr in München ist das produktivste meines Lebens gewesen und wirkte über Jahrzehnte auf meine Arbeiten nach“ bezeugte Freudenberg im Alter. Er fand eine passende Arbeitsmethode für das Entziffern der Struktur der Cellulose und das Polymerisationsprinzip dieses Stoffes. 1928 konnte Freudenberg die Struktur der Cellulose – eine aus Glukoseeinheiten aufgebaute hochmolekulare Kette – als bewiesen publizieren. Weltanerkannt wurde sie erst etwa drei Jahrzehnte später – so kompliziert und strittig war das Problem.
Schon im Sommer 1921 bekam Freudenberg einen Ruf nach Freiburg auf die Stelle eines etatmäßigen a.o. Professors im chemischen Institut H. Wielands. Auch in Freiburg blieb Freudenberg nur ein Jahr, das aber sehr lehrreich, besonders vom Standpunkt der Organisation der Arbeit und des Lebens eines chemischen Instituts, war. In Freiburg begann Freudenberg die Struktur eines anderen hochmolekularen Stoffes, des Holzes, nämlich Lignin, zu erforschen. Etwa dreißig Jahre akribischen, oft undankbaren Arbeitens brauchte es, um 1952 den richtigen Weg zu finden, auf dem, nach weiteren 12 Jahren die Lösung erreicht wurde. „Ich habe nicht aus Ehrgeiz gehandelt, sondern aus dem unbezwingbaren Drang, zu suchen und zu finden“, erklärte Freudenberg im Jahre 1981.
Aus Freiburg wurde Freudenberg, dank Initiative des bekannten badischen Hochschulreferenten Dr. V. Schwoerer, zum Ordinarius an der TH Karlsruhe berufen. Hier vertrat er eine damals vieldiskutierte Linie, daß die chemischen Ingenieure eine gute allgemeine und weite chemische Bildung besitzen sollen. Das Jahr 1923 mit seiner Inflation konnte Freudenberg sehr erfindungsreich bestehen; nun hatte er ein modernes Institut. Nur ungern nahm er eine Berufung an das erschreckend veraltete Chemische Institut der Universität Heidelberg an. In Heidelberg konnte Freudenberg einen erstaunlich großen Umfang organisatorischer Arbeiten, d. h. die räumliche und die personelle Umgestaltung, durchführen. Mühsam erreichte er für sein Institut neue Gebäude und Räume mit notwendigen Einrichtungen – z. B. Elektrizitäts- statt Gasbeleuchtung. Gleichzeitig gewann er frische Kräfte (insbesondere K. Ziegler und W. Hieber) und trennte sich von jenen, die nicht paßten. Dabei waren Rücksichtnahme und Gerechtigkeit gegenüber anderen die allgemeine Grundhaltung Freudenbergs. So erreichte er das Ziel „eine Equipe selbständig arbeitender Dozenten zu versammeln, deren jeder die anderen anregte und den Doktoranden vielseitige Arbeitsgebiete erschloß“.
Eigene Arbeiten Freudenbergs, teilweise mit dem Physikochemiker W. Kuhn, ergaben dann die Erklärung der Struktur nicht nur der Cellulose, sondern auch des anderen wichtigen Polysaccharids, der Stärke. Dabei wurden neue stereochemische Regelmäßigkeiten gefunden. Die ersten glücklichen Jahre in Heidelberg wurden durch das große Kollektivwerk „Stereochemie“ gekrönt, das Freudenberg 1933 herausgab und das für Jahrzehnte zum Standardwerk wurde.
Danach folgte die harte Zeit zähen Bestehens im Dritten Reich. Vergeblich versuchte Freudenberg gegen die Entlassung der Juden zu kämpfen, u. a. aufgrund der These, daß es „eine einheitliche arische oder deutsche Rasse nicht gibt; ... ebensowenig gibt es eine einheitliche jüdische Rasse“. (Schreiben Freudenbergs vom 15. April 1933). Auch seine Bemühungen, das normale Fakultätsleben vor Verfall zu retten, wurden „... untergraben durch Geheimhaltung von Absichten und Entschlüssen, welche die Lehrstuhlinhaber und die Gesamtheit der Fakultät angehen“, so Freudenberg an den Dekan (18.1.1943).
Eine wichtige Hilfe für Freudenberg kam, als 1938 das „Vierjahresplan-Forschungsinstitut“ für Holz und Polysaccharide bei ihm organisiert wurde, das dem Reichsamt für Wirtschaftsausbau untergeordnet war. Das erlaubte ihm, einige seiner Arbeiten fortzusetzen und mehreren Menschen, auch „Nichtariern“, unter diesem Dach zu helfen. „Alles war Lüge im Naziregime ... Wer im Amt stand, mußte durch kleine Konzessionen die Aktionsfreiheit im Großen erkaufen“, gab Freudenberg 1946 zu.
Nach dem Krieg gehörte Freudenberg als Mitglied, später als Vorsitzender des „Dreizehnerausschusses“ und als Dekan zu der engen Phalanx derer, die die Wiedergeburt der Universität verwirklichten. Das Jahr 1946 war für Freudenberg sehr kompliziert, weil er, wegen einer falschen Denunziation, er sei angeblich aktiver Helfer des Naziregimes gewesen, für einige Tage verhaftet wurde und das Verfahren vor der Spruchkammer und dem Gericht der amerikanischen Okkupationsbehörden durchstehen sollte. Es endete mit dem Verdikt „Not guilty“. Die darauffolgenden Jahre waren von großen organisatorischen Leistungen erfüllt: Schon 1950 legte Freudenberg Pläne vor für eine Ausweitung der Universität, daraus entstand der Institutsneubau auf dem Neuenheimer Feld. Als Freudenberg mit 70 Jahren emeritierte, konnte er sich ausschließlich seinen chemischen Arbeiten im Holzinstitut widmen; damals wurde die Struktur des Lignins geklärt (1964)! Erst 1969 verließ der alte Wissenschaftler die Leitung des Holzinstituts, blieb aber aktiv als Familienhistoriker: er gab die dreibändigen „Schriften der Familie Freudenberg in Weinheim“ heraus. Danach schrieb er noch seine inhaltsreichen „Lebenserinnerungen“, die er mit 95 Jahren beendete.
Freudenbergs Erbe ist umfangreich: Knapp 570 Publikationen, 10 Patente und außerdem Tausende von unpublizierten Briefen und Schreiben spiegeln einen wichtigen Teil der Geschichte deutscher Wissenschaft wider. Klassisch wurden seine Forschungen über hochmolekulare Naturstoffe – Cellulose, Stärke, Lignin. Sein übriges chemisches Schaffen, wie Arbeiten in der Stereochemie lassen Freudenberg als Mitbegründer der organischen Stereochemie gelten. Schließlich die Entdeckung einer neuen Klasse von Stoffen, sogenannte Einschlußverbindungen, räumten ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte der Chemie ein.
Auch als Organisator der Wissenschaft war Freudenberg groß. Außer schon erwähnten Leistungen war er vielseitig tätig. So machte Freudenberg während 1953 bis 1974 in seiner Eigenschaft als Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften jährliche Vorschläge für die Nobelpreise in Physik und Chemie. Als geschäftsführender Sekretär der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sorgte er zielstrebig für die Bewahrung von schriftlichen und materiellen Denkmalen der Wissenschaft (z. B. fand er Reisebriefe Bunsens und gab sie heraus).
Endlich hat Freudenberg als Lehrer und Förderer der Jugend große Verdienste. Sein methodisches System, Anfängern die Grundsätze des Faches zu vermitteln (was in seiner „Organischen Chemie“ publiziert wurde), Prüfungen durchzuführen, selbständiges Arbeiten zu unterstützen, vor allem aber seine menschlichen Eigenschaften machen ihn zu einer leuchtenden Persönlichkeit in der Geschichte deutscher Hochschulen.
Quellen: UA Heidelberg (Rep. 14 – Nachlaß Freudenbergs; Personalakte 3801 bis 3805; Verhandlungen der Naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät, 1931/32-1934/5); UA Karlsruhe (O 1/50); Archiv der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1.11 – Freudenberg); Archiv der Firma Freudenberg, Weinheim (Auskünfte; Lebenserinnerungen Freudenbergs); UB Heidelberg (Hs 3680; 69 C 775; 70 B 316); Stadtarchiv Heidelberg (Auskünfte)
Werke: Über die Carbomethoxyderivate der Phenolcarbonsäuren und ihre Verwendung für Synthesen (mit E. Fischer), Ann. Chem., 1910, 372, 32-68; Zur Kenntnis der Cellulose, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 1921, 54, 767-772; Nachtrag zu der Mitteilung über Methylcellulose, Ann. Chem., 1928, 461, 130-131; Konfigurative Zusammenhänge optisch aktiver Verbindungen, in: Stereochemie. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse, Grundlagen und Probleme in Einzeldarstellungen. Hg. von Karl Freudenberg, 1933, 662-720; Tannin, Cellulose, Lignin, 1933; Organische Chemie, 1938 (13. Aufl. mit H. Plieninger, 1977); Theodor Curtius, 1857-1928, Chemische Berichte 1963, 96, Nr. 4, I-XXV; Von Emil Fischer zur molekularen Konstitution der Cellulose und Stärke, Ebd. 1967, 100, Nr. 12, CLXXII-CLXXXVIII; Constitution and Biosythesis of Lignin (mit A. C. Neish), 1968; Schriften der Familie Freudenberg in Weinheim, Bd. I-III, 1969-1976; Lebenserinnerungen (Manuskript), 1981
Nachweis: Bildnachweise: Journal of Chemical Education 1951, 28, 426; Nachrichten aus Chemie und Technik, 1956, 4, 34; Schriften der Familie Freudenberg in Weinheim, Bd. II und III; UA Heidelberg (Rep. 14, Nr. 014.14); Archiv der Firma Freudenberg (alle in Literatur)

Literatur: Karl Freudenberg zum 70. Geburtstag, Angewandte Chemie, 1956, 68, Nr. 3 (Bild); Karl Freudenberg zum 80. Geburtstag, Holzforschung, 1966, 20, H. 1 (Bild); Fr. Cramer, Leben und Werk von Karl Freudenberg, Heidelberger Jahrbuch, 1984, 28, 57-72 (Bild); T. S. Stevens, Karl Johann Freudenberg 1886-1883, Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society, 1984, XXX, 167-189 (Bild); R. Huisgen, Karl Freudenberg +, Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1984, 249-249 (Bild); G. Wilke, Karl Freudenberg, Semper Apertus: Sechshundert Jahre Universität Heidelberg, Festschrift, 1985, Bd. II, 351-358 (Bild); D. Mußgnug, Karl Freudenberg – Lebenserinnerungen, Ebd., 1988, 32, 151-187.
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