Heun, Karl Wilhelm Ludwig Max 

Geburtsdatum/-ort: 03.04.1859; Wiesbaden
Sterbedatum/-ort: 10.01.1929;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Mathematiker und theoretischer Mechaniker
Kurzbiografie: 1869-1878 Realgymnasium, Wiesbaden
1878-1881 Studium der Mathematik und Philosophie an den Universitäten Halle und Göttingen
1881 30. Apr. Promotion an der Universität Göttingen: „Die Kugelfunktionen und Laméschen Funktionen als Determinanten“ bei Ernst Schering
1882 Lehramtsprüfung an der Universität Marburg für den höheren Schuldienst in Preußen
1886 Habilitation an der Universität München: „Über lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung, deren Lösungen durch den Kettenbruchalgorithmus verknüpft sind“
1886-1889 Privatdozent an der Universität München
1890-1902 Oberlehrer an der 1. Realschule in Berlin
1902-1922 ordentlicher Professor für Theoretische Mechanik an der Technischen Hochschule Karlsruhe
1912 Geheimer Hofrat
1921 Dr. h. c. der Technischen Hochschule Berlin
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1883 (Einbeck) Henriette Jatho, geb. Bock
Eltern: Vater: Peter, Regierungskanzlist
Kinder: 2:
Howard (1884-1903)
Charlotte (1891-1948)
GND-ID: GND/116782730

Biografie: Michael von Renteln (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 123-124

Nach dem Besuch des Realgymnasiums in Wiesbaden studierte Heun von Ostern 1878 bis zum Herbst 1881 Mathematik und Philosophie an den Universitäten Göttingen (bei Ernst Schering, Alfred Enneper und Hermann Amandus Schwarz) und Halle (bei Eduard Heine). 1881 promovierte er in Göttingen zum Dr. phil. 1881/82 unterrichtete Heun an der landwirtschaftlichen Winterschule in Wehlau/Ostpreußen und legte am 23. Dezember 1882 in Marburg die Staatsprüfung für den höheren Schuldienst in Preußen ab. Von 1883 bis 1885 war er an der Public School in Uppingham (Mittelengland) tätig. Dort wurde auch sein Sohn Howard (1884-1903) geboren. Wissenschaftlich arbeitete er in dieser Zeit auf dem Gebiet der Differentialgleichungen im Komplexen.
Nachdem er am Ende seines Englandaufenthaltes noch einige Studien in London dazu absolviert hatte, habilitierte er sich im Juli 1886 an der Universität München für das Fach Mathematik, war dann dort von 1886 bis 1890 Privatdozent und hielt Vorlesungen über Funktionentheorie, Differentialgleichungen und analytische Mechanik. In der Münchener Zeit entstand seine fundamentale Arbeit „Zur Theorie der Riemannschen Funktionen“. In diesem Artikel behandelt er eine weitreichende Verallgemeinerung der hypergeometrischen Differentialgleichung: die später nach ihm „Heunsche Differentialgleichung“ genannt wurde. Die Wichtigkeit dieser Arbeit – insbesondere für Anwendungen in der Physik – wurde erst in jüngster Zeit offenkundig. Das bezeugt auch eine internationale Tagung (Centennial Workshop on Heun’s Equation-Theory and Applications), die aus Anlass des hundertjährigen Geburtstags dieser Arbeit vom 3. bis 8. September 1989 vom Max-Planck-Institut für Metallforschung (Stuttgart) auf Schloss Ringberg (Rottach-Egern) veranstaltet wurde.
1889 sah sich Heun aus wirtschaftlichen Gründen genötigt, die Privatdozententätigkeit an der Universität aufzugeben und seinen alten Beruf als Schullehrer wieder aufzunehmen. Er verließ mit seiner Familie im Januar 1890 München und wurde Oberlehrer an der 1. Realschule in Berlin. Hier wurde auch seine Tochter Charlotte (1891-1948) geboren. In seiner Berliner Zeit lernte er Ingenieure kennen, die ihn als Mathematiker bei ihren maschinentechnischen Problemen zu Rate zogen. Zur Lösung dieser Probleme (Berechnungen von Massenwirkungen, Regulatoren und Steuerungen) betrieb er ein eingehendes Studium der Mechanik, beginnend mit den klassischen Werken von Euler, d’Alembert und Lagrange bis hin zu den Werken der technischen Mechanik von Poncelet und Radinger.
Die Fachwelt wurde auf Heun aufmerksam, als er 1896 auf der Tagung der Deutschen Mathematiker Vereinigung (DMV) in Frankfurt über seine Forschungen einen Vortrag hielt mit dem Titel „Über die mathematischen und mechanischen Prinzipien in Anwendung auf technische Probleme“.
Daraufhin erhielt er von der Deutschen Mathematiker Vereinigung den Auftrag, über dieses Gebiet einen umfassenden Bericht anzufertigen. In diesem Bericht und weiteren Schriften formuliert Heun eine scharfe Kritik an der Mechanik des 19. Jahrhunderts, die sich unter dem Einfluss von Hamilton und Jacobi in eine falsche, nämlich zu abstrakte Richtung entwickelt habe und kein adäquates Werkzeug für die großen technischen Probleme der Zeit liefere, z. B. bei schnelllaufenden Dampfmaschinen im Lokomotiv- und Schiffsbau. Heun weist darauf hin, dass auch für die dynamischen Probleme der Technik in den Lagrangeschen Gleichungen 2. Art eine mathematische Theorie in hoher Vollendung zur Verfügung stehe, die man nur benutzen müsse. Er selbst hat in diesem Sinne unermüdlich gewirkt.
Der Artikel über die kinetischen Probleme erregte großes Aufsehen und war entscheidend für Heuns Berufung auf den Lehrstuhl für theoretische Mechanik an der Technischen Hochschule Karlsruhe im Jahre 1902, nachdem ihm schon am 6. Dezember 1900 vom preußischen Unterrichtsministerium wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste der Titel Professor verliehen worden war.
Erwähnenswert ist, dass Heun als Nebenprodukt seiner Arbeiten zur Mechanik im Jahre 1900 einen wichtigen Beitrag zur numerischen Integration von Differentialgleichungen veröffentlichte, worin er das Verfahren von Runge (1895) weiterentwickelte. Dies ist heute teilweise unter dem Namen Runge-Kutta-Heun in die einschlägige Lehrbuchliteratur eingegangen.
In Karlsruhe entfaltete Heun über zwei Jahrzehnte hinweg eine reichhaltige Lehrtätigkeit. In dieser Zeit hatte er einige namhafte Schüler, von denen Georg Hamel (1877-1954) und Fritz Noether (1884-1941) am bedeutendsten sind. 1912 erhielt Heun den Titel Geheimer Hofrat und 1921 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Technischen Hochschule Berlin verliehen. Aus seinem erfolgreichen Wirken wurde er am 21. März 1921 durch einen Schlaganfall jäh herausgerissen. Heun blieb halbseitig gelähmt und musste sich in den Ruhestand versetzen lassen. Er wurde von seiner Frau aufopfernd gepflegt. Das gemeinsame Grab befand sich bis Mitte der 1990er Jahre auf dem Karlsruher Hauptfriedhof.
Quellen: GLA Karlsruhe 235/2094 (Personalakte), 466/8963 (Versorgungsakte), 448/2358 (Berufungsakte).
Werke: (Auswahl) Zur Theorie d. Riemann’schen Funktionen zweiter Ordnung mit vier Verzweigungspunkten, in: Math. Annalen 31, 1889, 161-179; Neue Methode zur approximativen Integration d. Differentialgleichungen mit einer unabhängigen Variablen, in: Zs. für Math. u. Physik 45, 1900, 23-28; Die kinetischen Probleme d. wissenschaftl. Technik, in: Jber. d. dt. Math. Vereinigung 9, 2. Abt., 1900, 1-123; Lehrbuch d. Mechanik, I. Teil: Kinematik, 1906.
Nachweis: Bildnachweise: Ölporträt im UA Karlsruhe (60x70 cm); M. v. Renteln, 1995 (vgl. Lit.).

Literatur: Fritz Noether, K. Heun, in: Zs. für angew. Math. u. Mechanik 9, 1929, 167-171, mit Schriftenverzeichnis; M. v. Renteln, K. Heun – His life and his scientific work, in: A. Ronveaux (ed.): Heun’s Differential Equations, 1995, XVII-XX; M. von Renteln, K. Heun, in: Die Mathematiker in der TH Karlsruhe (1825-1945), 2002 2. Aufl., 173-186.
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