Hieber, Walter Otto 

Geburtsdatum/-ort: 18.12.1895;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 29.11.1976; München
Beruf/Funktion:
  • Chemiker
Kurzbiografie: 1902-1905 Elementarschule in Stuttgart
1905-1915 Humanistisches Karlsgymnasium Stuttgart
1915-1918 Studium an der Universität Tübingen
1919 23 Jan. Dr. phil. „summa cum laude: „Über Komplex-Verbindungen des dreiwertigen Eisens mit unterphosphoriger Säure“
1919 1. Feb. Vollassistent am chemischen Institut der Universität Würzburg
1924 2. Jul. Habilitation: „Zum Problem des Ringschlusses bei Anlagerungsverbindungen (Vielgliedrige Molekülverbindungen der Zinnhalogenide)“, Probevorlesung: „Das Periodische System der Elemente“
1925 Mär. Vollassistent und Abteilungsleiter am chemischen Laboratorium der Universität Jena
1926 Apr. Vollassistent am chemischen Institut
1926 20. Mai außerordentlicher Professor an der Universität Heidelberg, Antrittsvorlesung: „Neuere Anschauungen über den Bau der Moleküle“
1932 Abteilungsleiter an der Technischen Hochschule Stuttgart
1933 außerordentlicher Professor und stellvertretender Vorstand am Laboratorium der anorganischen Chemie
1935 1. Apr. ordentlicher Professor und Vorstand des Laboratoriums der anorganischen Chemie der Technischen Hochschule München
1964 31. Mär. Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1944) und der Akademie Leopoldina, Halle (1956); Dr. rer. nat. h. c. der Universität Heidelberg (1959), Universität Tübingen und der Universität Würzburg (1969)
Verheiratet: Unverheiratet
Eltern: Vater: Johann (1862-1951), Dr., Theologe, Gymnasialprofessor, Politiker, später Kultusminister und Staatspräsident in Württemberg
Mutter: Mathilde Auguste, geb. Schmid (1871-1946)
Geschwister: 5:
Martin (1891-1917)
Ernst (1892-1915)
Gertrud, verheiratete Gerock
Hedwig
Margarete, verheiratete Fritz
Kinder: keine
GND-ID: GND/116796782

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 146-148

Hieber stammte aus einer angesehenen Familie von starkem Pflichtgefühl und festgefügten patriotischen und sozialen Einstellungen. Als der I.Weltkrieg ausbrach, war er als Gymnasiast zusammen mit seinen Brüdern als Freiwilliger sofort in den Heeresdienst eingetreten, musste aber wegen Krankheit Ende September 1914 wieder entlassen werden. Seitdem war Hieber für den Militärdienst untauglich. Hieber Seine beiden Brüder fielen im Krieg. Nach dem humanistischen Abitur im Jahre 1915 widmete sich Hieber auf eigenen Wunsch dem Studium der Naturwissenschaften an der Universität Tübingen, wo sein Vater und seine Brüder Geisteswissenschaften studiert hatten. Nach zwei Semestern ging er von der Mathematik und Physik zur Chemie über. Sein „unvergesslicher Lehrer“, R. Weinland, „lehrte die Liebe zur Wissenschaft um ihrer selbst willen ... ihm verdanke ich eine solide Ausbildung, die unter dem Grundsatz stand, dass der Chemiker vor allem den neuen Stoff zu suchen hat“ (Hieber). Der Schüler begriff diese Lektionen. Weinland führte Hieber in die Chemie der Komplexverbindungen ein; in diesen Bereich gehörten die Dissertation Hiebers und fast alle seine späteren Forschungen.
Der promovierte Chemiker ging als Unterrichtsassistent an die Universität Würzburg und las auch über Spezialgebiete der anorganischen Chemie: Chemie der Metalle und Nichtmetalle und über Komplexverbindungen. Gleichzeitig bereitete er seine Habilitation vor.
Im Februar 1922 erlitt Hieber einen schweren Unfall. Infolge einer Explosion im chemischen Labor verlor er seine rechte Hand. Zäher Wille und Zielstrebigkeit ermöglichten ihm, dennoch weiter experimentell zu arbeiten und sich erfolgreich zu habilitieren. Im Empfehlungsschreiben der Fakultät stand, dass von Hieber „hohe wissenschaftliche Leistungen und eine anregende und ersprießliche Lehrtätigkeit zu erwarten sind“.
Bald nach der Habilitation wechselte Hieber an die Universität Jena. Er las dort über „Analytische Chemie“ und über den „Bau der anorganischen Molekülverbindungen“. Die Umstände waren aber nicht günstig und so gelang es K. Freudenberg, der begabte Mitarbeiter für sein Institut in Heidelberg suchte, Hieber zu gewinnen und als Leiter der anorganischen Abteilung einzusetzen. Die Erwartung Freudenbergs, so er selbst, „hat Hieber in vollem Maße erfüllt“. Er las fast alle anorganischen Spezialvorlesungen: Geochemie, Periodisches System, Fragen der chemischen Analyse, Chemie der Komplexverbindungen u. a. „Ich verdanke ihm viele organisatorische und didaktische Neuerungen“, berichtete Freudenberg.
Noch wichtiger war Hiebers Forschungsarbeit. Die Jahre in Heidelberg waren für seinen wissenschaftlichen Weg entscheidend, hier begann er, sein Lebenswerk zu schaffen: die Chemie der Metallkarbonyle. Das Arbeitsgebiet hatte sein Interesse bereits früher geweckt, besonders als R. Weinland 1922 in Würzburg ihm zum Demonstrationsversuch der Herstellung von Nickelkarbonyl angeregt hatte. Insbesondere dank der Kontakte mit der BASF, damals IG Farbenindustrie AG, Werk Ludwigshafen, die Hieber mit größeren Mengen von Eisenpentakarbonyl versorgte, eröffneten sich ihm dazu in Heidelberg die Möglichkeiten. 1931 gelang Hieber eine große Entdeckung: das Eisenkarbonylhydrid, eine gasförmige, sehr reaktionsfähige Substanz. Gleichzeitig war dies die Entdeckung einer neuen Klasse von Verbindungen.
1932 bekam Hieber eine Stelle an der Technischen Hochschule seiner Heimatstadt Stuttgart, wo er seine Lehr- und Forschungstätigkeit fortsetzte. Insbesondere synthetisierte er hier das zweite Karbonylhydrid. Der Versuch, ihn als Nachfolger des im Dezember 1933 verstorbenen Chemieprofessors E. Wilke-Dörfurt zum ordentlichen Professor zu befördern, scheiterte aber am Widerstand des NS-Kultusministers: „Den Sohn des Demokraten Hieber dulde ich nicht als Hochschullehrer in Stuttgart“. 1935 folgte Hieber dem Ruf nach München, wo er dann bis zum Lebensende blieb.
Hier entfaltete er seine Forschungstätigkeit mit über 90 bei ihm promovierten Mitarbeitern, insbesondere unter Anwendung der Hochdruckapparatur für Metallkarbonylsynthesen. Hieber musste die Zerstörung des Instituts im II. Weltkrieg und ungerechtfertigte persönliche Beeinträchtigungen durchstehen, ging aber seinen Weg unbeirrt weiter. Er war nie Mitglied der NSDAP, zeigte konsequent antinationalsozialistische Haltung, sollte aber, als Forschungsbeauftragter in dem „Vierjahresplan Institut für die Chemie der Schwermetalle“ entlassen werden und eine schwere Prozedur der „Entnazifizierung“ durchstehen. Wie etwa auch im Falle Freudenberg waren die Amerikaner lange davon ausgegangen, dass ein Direktor eines Vierjahresplan-Instituts unbedingt Nationalsozialist sein müsse. Erst im Mai 1947 wurde er ins Amt wieder eingesetzt.
Nach dem Krieg gewann er dann die weltweite Anerkennung als „Vater der Chemie der Metallkarbonyle“. Hieber war ein vortrefflicher Lehrer, der mehr als 100 Doktoren heranbildete. Nach seiner Emeritierung (1964) betätigte sich Hieber mit einem kleinen Mitarbeiterkreis forschend bis Ende 1970. Noch 1974 nahm er an einem ihm gewidmeten internationalen Symposium über Metallkarbonylchemie in Ettal lebhaft und aktiv teil.
Das wissenschaftliche Werk Hiebers ist beeindruckend konsequent und einheitlich. Von Anfang an bearbeitete er die Chemie der Komplexverbindungen, heute häufiger: „Koordinationschemie“. In diesem unermesslichen Bereich fand er ein seltenes Gebiet, in dem damals kaum geforscht wurde: die Chemie der Metallkarbonyle. Seine erste Mitteilung darüber erschien 1928, die letzte 1970, unter Nr. 163 – nummeriert wurden nur experimentelle Beiträge. Alle Untersuchungen sind theoretisch gut durchdacht und experimentell meisterhaft durchgeführt. Mit seinen zahlreichen Schülern konnte er Dutzende neuer Verbindungen synthetisieren. Außer den oben erwähnten Karbonylhydriden sind Spitzenerfolge auch die Synthesen des vorher unbekannten Rheniumkarbonyls und der Karbonylen von Edelmetallen (Rh, Ir, Ru, Os). Seine Arbeiten zeigten, dass Karbonylverbindungen keineswegs etwas Isoliertes darstellen, sondern in der Form vieler verschiedener substituierter Derivate als Übergang zu anderen Metallkomplexen – Metallnitrosyle, -isonitryle, -cyaniden u. a., auch gemischte Komplexe – aufgebaut werden können. Der eher scheue, die Öffentlichkeit meidende, sachliche und zurückhaltende Gelehrte Hieber schrieb insgesamt 284 Artikel, neue Kapitel der Koordinations- und auch der metallorganischen Chemie.
Quellen: UA Tübingen 258/7562, 136/41, 201/535, Auskunft; UA Würzburg ARS-Nr. 545, Personalakten Hieber, Auskunft; UA Heidelberg Personalakte 4205, Rep. 14-574, Verhandl. Naturwiss.-Math. Fak. 1932-1933, Nr. 61, 62, 63; GLA Karlsruhe 235/2096; A d. Bayer. Akad. d. Wiss. Personalakten Hieber; UA Stuttgart u. ATU München, Auskünfte.
Werke: Eine neue Methode zur Titration von Enolen in Keto-Enol-Gemischen. Anwendungen d. Komplexchemie auf Probleme d. organischen Chemie I, in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 54, 1921, 902-912; (mit F. Sonnenkalb), Reaktionen u. Derivate des Eisenscarbonyls, ebd. 61, 1928, 558-565; Zur Kenntnis des koordinativ gebundenen Kohlenoxyds: Bildung von Eisencarbonylwasserstoff, in: Naturwissenschaften 19, 1931, 360 f.; Neuere Arbeiten auf dem Gebiet d. Metallcarbonyle: Über Metallcarbonylwasserstoffe, in: Angew. Chemie 49, 1936, 463 f.; Die gegenwärtige Stand d. Chemie d. Metallcarbonyle, ebd. 55, 1942, 7-11, 24-28; Neuere Forschungsergebnisse auf dem Gebiet d. Metallcarbonyle, ebd. 64, 1952, 465-470; (mit W. Beck und G. Zeitler), Neuere Anschauungen über Reaktionsweisen d. Metallcarbonyle, insbesondere des Manganscarbonyl, ebd. 73, 1961, 364-368; Metal carbonyls, forty years of research, in: Advances in Organometallic Chemistry 8, 1970, 1-28; Nitrosyl-Komplexe von Metallen d. Eisengruppe mit Aminosäuren u. Aldoximen als Chelatbildnern, in. Zs. für anorg. u. allg. Chemie 381, 1971, 235-240.
Nachweis: Bildnachweise: Journal of Chem. Education 14, 1937, 580 u. 31, 1954, 141; Zs. f. anorg. u. allg. Chem. 282, Hieber 1, 1955; E. O. Fischer, 1975, Nr. 7, 6 (vgl. Lit.).

Literatur: W. Hieber, Nachrr. aus Chemie u. Technik 2, 1954, 104 (mit Bild); J. Behrens, The chemistry of metal carbonyls: The life work of W. Hieber, in: Journal of Organometallic Chemistry 94 Nr. 2, 1975, 139-159; E. O. Fischer, W. Hieber zum Achtzigsten, Mitteilungen d. TU München 7, 1975, 6 (mit Bild); E. O. Fischer, W. Hieber, in: Jahrb. d. Bayer. Akad. d. Wiss. 1977, 258-261 (mit Bild); Ed. Gerock, J. Hieber, Lebensbilder aus Schwaben u. Franken 13, 1977, 375-407.
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