Lehmann, Otto 

Geburtsdatum/-ort: 13.01.1855;  Konstanz
Sterbedatum/-ort: 17.06.1922;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Physiker
Kurzbiografie: 1862-1864 Volksschule in Freiburg i. B.
1864-1870 Gymnasium Offenburg
1870-1872 Gymnasium Rastatt bis Abitur
1872 23. Okt. Immatrikulation an der Universität Straßburg
1876 8. Mär. Oberlehrerexamen
1876 8. Aug. Promotion summa cum laude in bei P. Groth: Über physikalische Isomerie
1876 16. Sep. Lehramtspraktikant am Gymnasium in Freiburg
1877 1. Apr. Lehrer, später Oberlehrer an der Mittelschule Mülhausen, Elsass
1883 1. Okt. etatmäßiger Dozent an der Technischen Hochschule Aachen
1885 21. Jul. außerordentlicher Professor
1888 1. Okt. außerordentlicher Professor der Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Dresden
1889 1. Apr. ordentlicher Professor der Physik an der Technischen Hochschule Karlsruhe
1892 Apr. Hofrat, 1900 Sep. Geheimer Hofrat
1900-1901 Rektor der Technischen Hochschule Karlsruhe
1909 Jun. außerordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften Heidelberg
1912 Dez. Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Frankreich
1919 1. Okt. Pensionierung „wegen leidender Gesundheit“
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1899 (Pfullendorf) Amalie Maria Olga, geb. Ambros (1872-1956)
Eltern: Vater: Franz Xaver (1823-1889), Gymnasiallehrer
Mutter: Magdalena, geb. Gagg (1830-1903)
Geschwister: keine
Kinder: 2:
Elisabeth Lena Amalie, verheiratete Gerwig (1900-1940)
Karl Otto August (1903-1976)
GND-ID: GND/116875275

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 180-182

Lehmann wurde als einziges Kind eines Lehrers der Mathematik und Naturwissenschaften am Konstanzer Lyzeum geboren. 1859 zog die Familie nach Freiburg – dort besuchte Lehmann die Volksschule – und 1864 weiter nach Offenburg. Sein Vater, „ein begeisterter Freund der Natur“, so Lehmann, publizierte mehrere wissenschaftliche und pädagogische Abhandlungen, beschäftigte sich insbesondere mit mikrobiologischen Gegenständen und erweckte in seinem Sohn das Interesse an der Naturwissenschaft. Lehmann war noch Gymnasiast, als er ein gutes Mikroskop bekam und seine eigenen Beobachtungen zu machen begann. Seine Gymnasialbildung schloss er als „Primus“ ab.
1872 begann Lehmann an der neu gegründeten Universität Straßburg mit dem Studium der Naturwissenschaften. Sein erster Lehrer war A. Kundt, dessen Experimentalkunst und Methode, Vorlesungsdemonstrationen vorzubereiten, zum lebenslangen Vorbild für Lehmann wurden. Unter Kundts Leitung führte Lehmann seine erste wissenschaftliche Arbeit über Akustik durch. Bald wurde er aber – dank des „vortrefflichen Unterrichts“ von P. Groth über physikalische Kristallographie und dank des Praktikums von H. Rosenbusch über die mikroskopische Untersuchung der Gesteine – vom faszinierenden Thema der Kristallisationserscheinungen ergriffen. Für sein Mikroskop erfand Lehmann besondere Vorrichtungen, die sowohl Erhitzung wie auch Abkühlung der Präparate, also die Beobachtung ihrer Umwandlungen ermöglichten. Mit diesem „Kristallisations-Mikroskop“ führte er seine erste selbständige Forschung durch, woraus er dann auch seine Dissertation machte. Da sein Vater ihm das Oberlehrerexamen abverlangte, musste Lehmann vor der Promotion viele andere Fächer studieren, vor allem Mathematik. Sein Doktorvater Groth schrieb über Lehmann: „bei seiner wahrhaft stupenden Begabung ist er hierin so weit gekommen, dass unsere Mathematiker wünschen, ihn als solchen bald sich habilitieren zu lassen“. Lehmann blieb aber bei der Naturwissenschaft. Von seinen Kristallisationsmikroskopen trennte er sich nie mehr; über Jahrzehnte verbesserte er deren Konstruktion, wobei er 26 verschiedene Typen anfertigte, bis sie schließlich durch Firmen wie Carl Zeiss produziert wurden.
Nach der Promotion und einem Jahr als Lehramtspraktikant bekam Lehmann eine Lehrerstelle in Mülhausen. Unter unbefriedigenden äußeren Verhältnissen richtete er dort mit seinen Schülern eine eigene Werkstatt ein und stellte die nötigsten Apparate selbst her. Diese Erfahrung hat ihn zur Abfassung seiner „Physikalischen Technik“ veranlasst. Während der sechs Jahre als Mittelschullehrer konnte Lehmann eine Reihe von Arbeiten vorwiegend über die Mikroskopie der Kristalle erfolgreich durchführen. In diese Zeit fällt seine Erfindung der „Krystallanalyse“, d. h. der „chemischen Analyse durch Beobachtung der Krystallbildung mit Hülfe des Mikroskops“. Daraus resultierender Erfolg ermöglichte ihm, mit 28 Jahren eine akademische Laufbahn als etatmäßiger Dozent der Physik an der Technischen Hochschule Aachen zu beginnen. Hier wurde er nicht nur mit Lehrtätigkeit, sondern auch mit der Bearbeitung verschiedener technologischer und elektrotechnischer Fragen betraut, fand aber auch Zeit für seine beliebten „mikrokristallographischen Untersuchungen“. Lehmann war ein außerordentlich geschickter Experimentator von enormer Arbeitsfähigkeit; dabei hatte er eine besondere Begabung, mit geringem Aufwand an Zeit und Substanzen reiches Beobachtungsmaterial zu erhalten. Seine Ergebnisse stellte er in eine Reihe von Publikationen und in einer umfangreichen zweibändigen „Molekularphysik“ dar. Das letzte Werk fasste nahezu alles damalige Wissen über „Physik der Materie“ zusammen, aber in qualitativ-beschreibender Weise. Diese Einstellung blieb auch für die weiteren Forschungen Lehmanns typisch. Seine guten mathematischen Kenntnisse kann man in seinen Lehrbüchern über Physik freilich nur erraten.
Als anerkannter Experte in Mikroskopie und Kristallforschung bekam Lehmann im März 1888 einen Brief aus Prag vom Botaniker Fr. Reinitzer, der seltene Erscheinungen (Doppelbrechung) beim Schmelzen von Cholesterylacetat, einem organischen Stoff, beschrieb und bat, den beigelegten Stoff zu untersuchen. Lehmann war damals außerordentlicher Professor der Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Dresden, blieb dort aber nur im Wintersemester 1888/89 und wechselte dann an die Technische Hochschule Karlsruhe. Erst dort konnte er sich mit dem Problem gründlicher beschäftigen. Im August 1889 begriff er, dass es sich um einen Zustand handelte, bei welchem der Stoff flüssig ist, aber die optischen Eigenschaften (Anisotropie) der festen Kristalle besitzt. Lehmann prägte für diesen Zustand den Begriff „flüssige Kristalle“. Später konnte Lehmann zwei Typen flüssiger Kristalle unterscheiden – „tropfbar-flüssige“ (heute die sogenannte „nematische Phase“) und „schleimig-flüssige“ (heute „smektische Phase“). Diese Typen entsprechen eindimensionaler bzw. zweidimensionaler Ordnung der Moleküle.
Die ersten Jahre in Karlsruhe konnte Lehmann diesem neu entdeckten Gebiet nur wenig Zeit widmen. Er musste zuerst sein eher ärmliches Institut modernisieren und eine eigene Werkstatt einrichten, um hier die nötigen Vorlesungsapparate herzustellen. Als Dozent brachte Lehmann viel Neues in seine Vorlesungen, besonders bei der Demonstrationstechnik, aber auch in der Literatur schlug sich sein Schaffen nieder. Seine beliebten mikroskopischen Beobachtungen konnte Lehmann, wegen „fast unaufhörlicher Erschütterungen durch den Verkehr“, nur „in den Stunden nach Mitternacht“ durchführen. Erst 1910 richtete er auf eigene Kosten ein „Ferienlaboratorium“ im stillen Dörfchen Hundsbach (Amt Bühl) ein. Dort arbeitete Lehmann auch nach seiner Pensionierung.
Lehmanns wissenschaftliche Tätigkeit, die sich in etwa 230 Publikationen widerspiegelt, schließt zwei ganz verschiedene Gebiete ein: einerseits die Mikroskopie und ihre Anwendungen in der Lehre von den Kristallen, besonders die Erforschung der flüssigen Kristalle, andererseits die elektrischen Entladungen in Gasen. Wurden seine Forschungen auf diesem Gebiet, obwohl sie reiches Beobachtungsmaterial boten, durch eher quantitative Untersuchungen anderer Forscher durchaus übertroffen, seine Arbeiten in der Mikroskopie und Kristallehre beeinflussten die Physik und Chemie und blieben bedeutend. Ein wichtiges Verdienst ist die breite Einführung der mikroskopischen Methoden in die Chemie, Physik und Kristallographie. Lehmanns Lebenswerk, die Erforschung flüssiger Kristalle, der damaligen Naturwissenschaft noch durchaus fremd, brach sich nur mit großen Schwierigkeiten Bahn. Die Entdeckung „der neuen Welt der flüssigen Kristalle“ zeigte, so Lehmann, dass „eine bedeutende Lücke in unserer Kenntnis der Molekularerscheinungen aufgedeckt“ war. Beharrlich und ehrgeizig kämpfte Lehmann für die Anerkennung seiner Ergebnisse, wobei er wiederholte Demonstrationsvorträge darüber hielt und zahlreiche Artikel und Bücher, teilweise sehr polemische, publizierte. Dank Lehmanns unermüdlichen Einsatzes kam seine Entdeckung allmählich zu weltweiter Würdigung. So wurde Lehmann 1912 zum korrespondierenden Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften gewählt und 1913 zum Nobelpreis nominiert. Dieser Vorschlag wurde mehrmals wiederholt, zum letzten Mal im Jahre seines plötzlichen und unerwarteten Todes. Als Mensch war Lehmann nicht einfach: Kritik ertrug er nicht und hatte eine starke Neigung zu belehren. Ausschlaggebend aber blieb sein leidenschaftliches Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis, was dem Begründer der Lehre über flüssige Kristalle einen dauernden Platz in der Geschichte der Naturwissenschaft eingebracht hat.
Quellen: Auskünfte von: StadtA Konstanz, StadtA Freiburg, StadtA Offenburg, UA Dresden u. ATH Aachen; GLA Karlsruhe 76/4760, 76/4761, 76/4762, 235/2228, 466/11534; UA Karlsruhe, Biogr. Sammlung u. Auskünfte; A d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1.11 – Lehmann; Informationen des Urenkel Kai Jacobs, Backnang u. von Prof. P. M. Knoll, Ettlingen.
Werke: Werkverzeichnisse bei Poggendorf, vgl. Lehmann– Auswahl: (mit A. Kundt), Longitudinale Schwingungen u. Klangfiguren in cylindrischen Flüssigkeitssäulen, in: Annalen d. Physik u. Chemie, 153, 1874, 1-12; Über physikalische Isomerie (Diss. Straßburg), 1877; Physikalische Technik, speziell Anleitung zur Selbstanfertigung physikalischer Apparate, 1885; Molecularphysik, mit besonderer Berücksichtigung mikroskopischer Untersuchung u. Anleitung zu solchen, Bd. I-II, 1888-89; Über fliessende Kristalle, in: Zs. für physikal. Chem. 4, 1889, 462-472; Über tropfbarflüssige Kristalle, in: Ann. d. Phys. u. Chem. 40, 1890, 401-423; Dr. J. Frick‘s Physikalische Technik ..., 6. umgearb. u. verm. Aufl. von O. Lehmann, Bde. 1-2, 1890, 1895 (7. vollkommen umgearb. u. stark verm. Aufl. von O. Lehmann 1904, 1907, 1909); Electricität u. Licht, Einführung in die messende Electricitätslehre u. Photometrie, 1895; Die elektrische Lichterscheinungen oder Entladungen, 1898; Physik u. Politik, Festrede, 1901; Flüssige Kristalle sowie Plastizität von Kristallen im allgemeinen, molekulare Umlagerungen u. Aggregatzustandsänderungen, 1904; Leitfaden d. Physik zum Gebrauch bei Experimentalvorlesungen, 1907; Das Kristallisationsmikroskop u. die damit gemachten Entdeckungen, insbesondere die d. flüssigen Kristalle, 1910; Die neue Welt d. flüssigen Kristalle u. deren Bedeutung für Physik, Chemie, Technik u. Biologie, 1911; Geschichte d. Physikal. Instituts d. TH Karlsruhe, 1911; Die Lehre von den flüssigen Kristallen u. ihre Beziehung zu den Problemen d. Biologie, in: Ergebnisse d. Physiologie von L. Asher und K. Spiro, Bd. 16, 1917, 255-509; Flüssige Kristalle u. ihr scheinbares Leben. Forschungsergebnisse dargestellt in einem Kinofilm, 1921.
Nachweis: Bildnachweise: in: Zs. für techn. Physik 4, 1923, 1; Relief (Prof. Theilmann) in d. Univ. Karlsruhe.

Literatur: Franz Xaver Lehmann, in: BB, IV, 1891, 248-251; Poggendorfs Biogr.-literar. Handwörterb. Bd. III, 1898, 792; ebd. Bd. IV, 1904, 859-860; ebd. Bd. V, 1926, 724-726; ebd. Bd. VI, 1938, 1490 (mit Verzeichnis der Werke); Fr. Reinitzer, Zur Geschichte d. flüssigen Kristalle, in: Ann. d. Phys. u. Chem. 27, 1908, 213-224; A. Schleiermacher, R. Schachemeier, O. Lehmann, in: Physik. Zs. 24, 1923, 289-291 (mit Bild); R. Brauns, Flüssige Kristalle u. Lebewesen, 1931 (mit Bild); K. Lehmann Weiner, O. Lehmann, 1855-1922, In: Geschichte d. Mikroskopie, Leben u. Werke großer Forscher Bd. III, 1966, 261-271 (mit Bild); J. G. Burke, Lehmann, in: Dictionary of Scientific Biography VIII, 148 f., 1973; P. M. Knoll, O. Lehmann, d. Entdecker d. flüssigen Kristalle, in: Fridericiana, Zs. d. U. Karlsruhe, 1981, H. 29, S. 43-61 (mit Bildern); P. M. Knoll, H. Kelker, O. Lehmann Erforscher d. flüssigen Kristalle. Eine Biographie mit Briefen an O. Lehmann(mit Bild), 1988. (UB Karlsruhe 89 A 803).
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