Günther, Paul Ernst Gustav 

Geburtsdatum/-ort: 06.12.1892; Berlin
Sterbedatum/-ort: 24.11.1969;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Physikochemiker
Kurzbiografie: 1902-1911 Besuch des Köllnischen Gymnasiums zu Berlin
1911-1917 Studium der Chemie an den Universitäten Göttingen (Sommersemester 1911), Leipzig (Wintersemester 1911/12) und Berlin; dort am 3. und 8.8.1914 Promotionsprüfung (Notexamen) und am 12.1.1917 Promotion bei W. Nernst: „Untersuchungen über die spezifische Wärme bei tiefen Temperaturen“
1915 Jan.-1919 Feb. Militärdienst am Militärversuchsamt, Berlin
1919 Mär.-1930 Mär. planmäßiger Assistent am Physikalisch-Chemischen Institut der Universität Berlin; 15.1.1926 Habilitation: „Über die innere Reibung der Gase bei tiefen Temperaturen“; Probevortrag (22.12.1925): „Über die Stabilität der Atomkerne“; Antrittsvorlesung (15.1.1926): „Über das natürliche Vorkommen der chemischen Elemente“
1928 Jan.-1939 Jul. Gleichzeitig Dozent für Physikalische Chemie an der Landwirtschaftlichen Hochschule, Berlin (ab 1935 der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität)
1930 Mai-1936 Sep. nicht beamteter außerordentlicher Prof. für Physikalische Chemie an der Universität Berlin
1936 Okt.-1939 Jan. Stellvertretender Leiter des Instituts für Physikalische Chemie
1939 Feb.-1945 Apr. ordentlicher Professor und Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts
1946 Jun.-1961 Mär. ordentlicher Professor für Physikalische Chemie und Direktor des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie an der Technischen Hochschule Karlsruhe Antrittsvorlesung (10.8.1946): „Chemische Wirkungen der Röntgenstrahlen“
1947 Jun.-1949 Okt. Erster Vorsitzender der Deutschen Bunsengesellschaft für Physikalische Chemie
1948/1949 Rektor der Technischen Hochschule Karlsruhe
1960 Okt.-1962 Sep. Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1962 7. Nov. Abschiedsvorlesung in Karlsruhe: „Generationen in der Chemie“
1963-1969 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Chemie der Treib- und Explosivstoffe (jetzt Institut für Chemische Technologie), Pfinztal bei Karlsruhe
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1950 Charlotte Auguste, geb. Obermayer (1920-1970)
Eltern: Vater: Franz Wilhelm Ernst (1863-nach 1936), Fabrikbesitzer, Hofgoldschmied, später Kaufmann in Charlottenburg
Mutter: Helene Marie Elsa, geb. Rading (1870-nach 1936)
Geschwister: keine
Kinder: keine
GND-ID: GND/116913762

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 113-116

Günther entstammte einer bürgerlichen Familie. Das Reifezeugnis des humanistischen Gymnasiums in der Berliner Stadtmitte bestätigte ihm „gute“ Leistungen und „vorbildliches“ Betragen und Fleiß. Dabei zeige er eine besondere Neigung zu Geschichte und Ethik mit „sehr guter“ Leistung.
Dass Günther sich nach der Schulzeit dem Chemiestudium zuwandte, wurde wahrscheinlich durch seinen Vater bestimmt, der einen „brauchbaren“ Beruf für ihn wollte. Zuerst konzentrierte sich Günther auf die chemische Analyse. Nach dem Verbandexamen im Januar 1913 machte er ein besonderes analytisches Praktikum während dreier Monate an der Universität Heidelberg. Anschließend gewann ihn Walter Nernst (1864-1941) für die physikalische Chemie. Nun entschied sich Günther mit des Vaters Zustimmung für eine akademische Laufbahn, gestützt durch sein großes Interesse für das Unterrichten.
Anfang August 1914 bestand Günther magna cum laude seine mündlichen Notprüfungen in Physik, Chemie und Philosophie. Seine Doktorarbeit war schon beendet als Günther zum Militär eingezogen wurde; er diente zunächst bei einem Artillerie-Regiment, Anfang 1915 kam er ans Militärversuchsamt in Berlin, wo er neben den laufenden Aufgaben auch allgemeine Untersuchungen durchführen und eine gute Ausbildung in Sprengstoffchemie bei Hermann Kast (1864-1927) erhalten konnte. Nach der Militärzeit hielt Günther mit dieser Anstalt (ab 1920: „Chemisch-Technische Reichsanstalt“) enge Kontakte: Von diesem Arbeitsgebiet wollte er sich bis zum Lebensende nicht trennen.
Dass Günther seinen Militärdienst in Berlin leistete, ermöglichte ihm Anfang 1917 an der Universität endlich zu promovieren. Nach dem Militärdienst erhielt Günther die ihm schon bei der Promotion versprochene Assistentenstelle bei seinem Lehrer Nernst. Am Physikalisch-Chemischen Institut begann er durch Nernst angeregt außerhalb seiner dienstlichen Pflichten Messungen bei tiefen Temperaturen durchzuführen und damit ein neues Gebiet der Röntgenspektroskopie selbständig zu bearbeiten. Es gelang ihm dabei, neue Apparaturen und Methoden für die qualitative und später die quantitative chemische Analyse durch Röntgenstrahlen zu entwickeln.
Anfang 1919 trat Günther der SPD bei, verließ sie aber, enttäuscht durch die Politik, 1925 wieder. Diese vorübergehende Mitgliedschaft brachte Günther viel Ärger: Zuerst folgte ein „Zerwürfnis“ mit seinen konservativ gesonnenen Eltern, die ihm jegliche Unterstützung entzogen. Später im „Dritten Reich“ wurde er lange nicht befördert. Wegen knapper finanzieller Verhältnisse arbeitete Günther viel literarisch, 1920 bis 1925 als Referent des „Chemischen Zentralblatts“ und 1922 bis 1927 als Redaktionsassistent bei der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“.
Mitte 1925 stellte Günther sein Gesuch zur Habilitation, wobei er als Habilitationsschrift seine durch Nernst angeregte Arbeit über die Viskosität von Gasen bei tiefen Temperaturen vorstellte. Wie seine Dissertation enthielt auch diese Arbeit weder theoretisch noch methodisch etwas Neues, auch wenn die Messungen sehr schwierig waren. Dank seiner originellen Forschungen über die Röntgenspektroskopie und seines „ausgezeichneten Vortrags“ entschieden die Gutachter, Max Bodenstein (1871-1942) und Walter Nernst, dennoch, dass Günther die Venia legendi verdiene. Als Privatdozent und ab 1930 als nicht beamteter außerordentlicher Professor führte Günther regelmäßig Röntgenpraktika für Chemiker durch und beteiligte sich in der Leitung physikalisch-chemischer Arbeiten im Laboratorium; außerdem hatte er 1927 bis 1936 den Lehrauftrag für „Technologie der Explosivstoffe“ am Institut für Technische Chemie der Universität inne.
Da Bodenstein weitreichende Forschungen über Abläufe chemischer Reaktionen durchführte, gelangte Günther natürlicherweise von der analytischen Röntgenspektroskopie und -kristallographie zur Fragestellung nach der chemischen Wirksamkeit von Röntgenstrahlen. Dabei kam er zu wichtigen Ergebnissen, insbesondere über das chemische Verhalten der bei Bestrahlung entstandenen Ionen im Gaszustand. Ein Nebenergebnis dieser Untersuchungen waren Beobachtungen über die Vereinbarkeit röntgenographischer Methoden bei den Expertisen von Kunstgegenständen. Sie wurden anfangs angefeindet aus Furcht vor Spätschäden für die bestrahlten Kunstwerke, in Zusammenarbeit mit Kunstwissenschaftlern der Berliner Museen konnte Günther diese Befürchtung aber widerlegen.
Als Bodenstein 1936 in den Ruhestand ging, übernahm Günther für fast drei Jahre kommissarisch seine Stellen. Obwohl er seinen Abscheu vor dem Regime verbarg und seine Loyalität erklärte, waren die zahlreichen Gutachten der Parteiinstanzen recht zurückhaltend, so dass Günther erst nach langer Wartezeit ordentlicher Professor und Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts wurde.
Bald darauf brach der Krieg aus, und Günthers Erfahrungen über Sprengstoffe wurden sofort angefordert. Im Februar 1940 war ihm die Stelle eines „Kriegsverwaltungsrats beim Oberkommando des Heeres“ verliehen worden, wodurch er zur Wehrmacht gehörte. In dieser Eigenschaft wurde Günther im April 1942 an sein Institut zurückkommandiert, um kriegswichtige Aufgaben im Zusammenhang mit Explosivstoffen wahrzunehmen. Dies schuf ihm Freiheiten, die er auch zugunsten bedrohter Menschen nutzte. So unterstützte Günther z. B. mehrere Juden finanziell, in einigen Fällen konnte er sie sogar mit falschen Dokumenten versorgen. Zusammen mit dem Pharmakologieprofessor Wolfgang Heubner (1877-1957) konnte er den 1943 zum Tode verurteilten Robert Havemann (1910-1982) vor der Vollstreckung des Urteils retten, indem er erklärte, Havemann sei der Einzige, der einen bestimmten kriegswichtigen Forschungsauftrag fertigstellen könne.
Als der Zusammenbruch nahte, verlagerte Günther sein Institut Ende März 1945 nach Gillersheim bei Göttingen, indem er unter Umgehung von Bestimmungen den Umzug begründete und organisierte. Am 10. April geriet Günther dort in amerikanische Gefangenschaft, wo er sich als „able and reliable“ (fähig und zuverlässig) erwies und „instructor“ in einem amerikanischen Erziehungsprogramm für Deutsche wurde. Im Dezember 1945 wurde Günther aus einem Lager in Frankfurt am Main entlassen.
Hier erreichte ihn der Ruf nach Karlsruhe. Da die Bedingungen in Berlin nicht klar waren, sagte er zu. Im Juni 1946 begann die Karlsruher Periode seines Lebens. Das völlig zerstörte Karlsruher Institut wurde unter Günthers Leitung von 1948 bis 1950 wiederaufgebaut. Der Unterricht begann aber sofort in vorhandenen Räumen verschiedener Gebäude, Günther konnte seine Apparaturen und Geräte aus Göttingen kommen lassen und nochmals ein neues Gebiet, die sogenannte Sonochemie (chemische Wirkungen des Ultraschalls), erschließen.
Dass der Berliner in Karlsruhe schnell heimisch wurde, zeigt die Tatsache, dass die Kollegen ihn im Frühjahr 1947 zum Dekan der neuen Fakultät für Natur- und Geisteswissenschaften und im Januar 1948 zum Rektor wählten. Seine Rektoratsrede: „Exakte Naturwissenschaft und Humanität“ bearbeitete das Thema, das sein Denken bestimmte. Günthers Rektorat verlief hervorragend, so dass ihm ein weiteres Rektoratsjahr angetragen wurde. Dies lehnte Günther jedoch ab, weil er sich seinem Institut und vor allem dem Unterricht widmen wollte. Diesem Anliegen blieb er treu, als glänzender Vortragender war er der ganzen deutschen Fachwelt bekannt.
In die Karlsruher Zeit fielen auch die großen organisatorischen Leistungen Günthers außerhalb der Hochschule. Politisch unbelastet konnte Günther Gehör bei den Besatzungsbehörden finden. So trug er entscheidend zur Neugründung der Deutschen Bunsen-Gesellschaft für physikalische Chemie im Jahre 1947 bei und wurde ihr erster Nachkriegsvorsitzender. Er erreichte auch die Erlaubnis der Besatzungsmächte für die Wiederauflage der Zeitschrift der Bunsen-Gesellschaft. Seit 1948 begann die „Zeitschrift für Elektrochemie“ (später „Berichte der Bunsen-Gesellschaft“) unter Günthers Leitung wieder zu erscheinen und gewann unter Günther als Herausgeber und Redaktor bis 1961 neues internationales Ansehen.
Seine organisatorische Arbeit sollte Günther erst nach seiner Emeritierung abgeben, da er nicht mehr über die notwendigen technischen Hilfsmittel verfügte. Untätig blieb Günther aber nicht lange: Bald wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fraunhofer-Instituts für Chemie der Treib- und Explosivstoffe, wo er auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen als Berater fungierte und auch Vorlesungen und Vorträge hielt.
Günther heiratete erst im 59. Lebensjahr eine ehemalige Berliner Schülerin, die ihm nach Karlsruhe gefolgt und dort provisorisch 1947 bis 1951 am Physikalisch-Chemischen Institut als Assistentin gearbeitet hatte. Er galt als hochkultiviert, tolerant und zuvorkommend, hatte viele Freunde und genoss manche Geselligkeit.
Von den ca. 90 Publikationen des äußerst vielseitigen Wissenschaftlers behandelt fast ein Viertel die Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaft. Seine überkommene Neigung zu den Geisteswissenschaften fand ihren Ausdruck besonders in den späten Jahren, als Günther offen für den Humanismus im technischen Zeitalter auftreten konnte. In die Geschichte der deutschen Chemie ging er als vielseitiger Forscher, glänzender Dozent und Vortragender sowie als hervorragender Organisator ein; weil er immer wieder die humanitäre Seite der Naturwissenschaft betonte, wurde er später als gerne auch als deren „Schöngeist“ bezeichnet.
Quellen: LA Berlin A Rep. 020-09, Nr. 29, Nr. 75, Jg. 1906-1913, Köllnisches Gymnasium; UA Göttingen Matrikeleintrag Günther; UA Leipzig Quästurkartei von Günther; UA Berlin Matrikeleintrag Günther, Promotionsakten d. Philos. Fak., Nr. 576, Habilitationen d. Philos. Fak., Nr. 1241, UK G 252, Personalakten Günther; GLA Karlsruhe 235/30568, 235/30570 (Physik.-Chem. Inst. d. TH Karlsruhe); UA Karlsruhe 21001/52 (Lehrstuhl für Physik. Chemie), 27002/2 (Korrespondenz), 21011/141-I (Personalakte), 21011/141-II (Dekanatsführung), 22003/34 (Personalia), 28002/153 (Biogr. Sammlung); UA Heidelberg HAW 192; Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie, Auskunft vom 6. 6. 2006.
Werke: Untersuchungen über die spezifische Wärme bei tiefen Temperaturen, in: Ann. d. Physik 51, 1916, 828-846; ebd. 63, 1920, 476-480; (mit H. Kast), Versuche mit Stickstofftetroxyd-Sprengstoffen, in: Zs. für das gesamte Schieß- u. Sprengstoffwesen 14, 1919, 81-84, 103-105; Laboratoriumsbuch für die Sprengstoffindustrie, 1923; (mit I. Stransky), Ein Röntgenspektrograph für chemisch-analytische Zwecke, in: Zs. für physik. Chemie 106, 1923, 433-441; Tabellen zur Röntgenspektralanalyse, 1924; Die quantitative Röntgenspektralanalyse, in: Die Naturwissenschaften 14, 1926, 1118-1124; (mit J. Porger u. P. Rosband), Kristallstruktur u. Schlagempfindlichkeit von Rubidiumazid u. Bariumazid, in: Zs. für physik. Chemie B 6, 1929-30, 459-480; Wilhelm Ostwald, in: Angew. Chemie 45, 1932, 489-496; Chemische Wirkungen von Röntgenstrahlen, ebd. 46, 1933, 627-631; (mit H. Tittel), Die Bildung von Silber in d. photographischen Schicht unter dem Einfluss von Röntgenstrahlen, in: Zs. für Elektrochemie 39, 1933, 646-655; Zu Walter Nernsts 75. Geburtstag, in: Zs. für Elektrochemie 45, 1939, 433-435; Antrittsrede, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Jahreshefte 1943/ 55, 129-131; (mit W. Zeil, U. Grisar u. E. Heim), Versuche über die Sonoluminiszenz wässriger Lösungen, in: Zs. für Elektrochemie 61, 1957, 188-201; Schiller in einer Zeit d. Technik, Karlsruher Akademische Reden, N. F. Nr. 6, 1958, 1-22; Die Chemikergeneration zwischen Humanismus u. Technik, in: Angew. Chemie 75, 1963, 5-9; Die dt. Naturwissenschaftler des 19. Jh.s u. Goethe, in: E. Oldemeyer (Hg.), Die Philosophie u. die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag, 1967, 52-69; Systematik d. Chemie, in: S. J. Schmidt (Hg.), Wissenschaftstheorie Bd. 2, 1970, 29-38.
Nachweis: Bildnachweise: Die TH Fridericiana Karlsruhe, FS 1950, 103; Fridericiana, Zs. d. Univ. Karlsruhe H. 16, 1975, 39; W. Jaenicke, 100 Jahre Bunsen-Gesellschaft, 1994, 254 (vgl. Lit.).

Literatur: Poggendorffs Biogr.-literarisches Handwörterb. VI, T. 2, 1937, 970 f., VIIa, T. 2, 1958, 310 f., VIII, T. 2, 2002, 1435 f. (mit Bibliographie); Anon. P. Günther, Nachrr. aus Chemie u. Technik 5, 1957, 348 (mit Bild); [R.]Lepsius, P. Günther zum 70. Geburtstag, in: Chemiker Ztg. 86, 1962, 863 (mit Bild); J. Eggert, W. Jost, W. Witte, Prof. Dr. P. Günther zum 75. Geburtstag, in: Berr. d. Dt. Bunsenges. für Physik. Chemie 71, 1967, 933 (mit Bild); K. Schäfer, P. Günther, in: Jb. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. Für 1970, 55-57.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)