Hoepke, Hermann 

Geburtsdatum/-ort: 13.05.1889; Eberswalde/Mark
Sterbedatum/-ort: 22.12.1993;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Anatom, Verfolgter des NS-Systems
Kurzbiografie: 1900-1909 Gymnasium Cottbus und Berlin, Abitur
1909-1914 Medizinstudium in Freiburg i. Br., Kiel, Marburg, München, Greifswald, 1914 Medizinisches Staatsexamen
1914-1918 Truppenarzt in einem Feldartillerieregiment an der Westfront
1918 Dr. med. (Greifswald), Dissertation: „Hydrocephalie, Meningozele und Aplasie des Gehirnmantels“
1919-1921 Assistent am Anatomischen Institut der Universität Breslau
1921 Assistent (Erster Prosektor) am Anatomischen Institut der Universität Heidelberg
1923 Privatdozent, 1927 außerordentlicher Professor
1939 Entzug der Lehrbefugnis, bis 1945 praktischer Arzt („dienstverpflichtet“) in Heidelberg
1945 ordentlicher Professor der Anatomie und Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Heidelberg, 1946 auf Befehl der Militärregierung entlassen, 1947 (Oktober) Rückkehr ins Amt
1947-1957 Inhaber des Lehrstuhls für Anatomie, 1957 Emeritus, bis 1961 Vertretung des Lehrstuhls
1951-1968 Mitglied des Heidelberger Stadtrats (parteilos, Hospitant der CDU-Fraktion)
1959 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
1969 Erster Träger der Bürgermedaille der Stadt Heidelberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1922 Breslau, Gertrud, geb. Proske
Eltern: Dr. Paul, Justizrat
Antoinette, geb. Landois
Kinder: 2
GND-ID: GND/116931639

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 159-162

Daß der Medizinstudent Hoepke sein Studium an fünf Universitäten absolvierte, spricht für seine wissenschaftliche Wißbegierde, eine Eigenschaft, die ihn bis zum Ende seines über hundertjährigen Lebens leitete und wichtigste Voraussetzung für das Entstehen eines in seiner Geschlossenheit beeindruckenden Lebenswerks war. Aber dem gerade noch vor Ausbruch des I. Weltkriegs abgelegten Staatsexamen folgte eine andere Art von beruflicher Bewährung, als sie sich der junge Arzt vorgestellt hatte: als Truppenarzt an der Westfront erlebte er, vielfach ausgezeichnet, alle „Großkampftage“, wie es in seiner Kriegsstammrolle heißt, mit, 1914 und 1915 in Flandern, 1916 an der Somme und Aisne, 1917 zwischen Maas und Mosel und wieder in Flandern, und schließlich 1918 bei St. Quentin, bei Soissons und Reims einschließlich der Abwehrschlachten zwischen Marne und Vesle und in der Champagne, zwischen den Argonnen und der Maas. „Da ich als Truppenarzt immer nur an der Front und nie in einem Lazarett tätig war, habe ich ärztlich nichts gelernt“ (Hoepke).
Nach dem schmerzlich empfundenen Zusammenbruch des Kaiserreichs ging Hoepke sofort an den beruflichen Aufbau, promovierte und fand in der Person des Geheimen Medizinrats Erich Kallius in Breslau einen Mentor, der 1921 einen Ruf nach Heidelberg erhielt und Hoepke anbot, ihn dorthin zu begleiten. Dieser sagte mit Freuden zu – „ich war schnell von der Anatomie begeistert“ –, nachdem er schon 1909 auf der Reise nach Freiburg erstmals Heidelberg als „herrliche Stadt in herrlichem Land“ kennengelernt hatte: „Da muß es sich an der Universität schön leben und lehren lassen.“
Aber neben den erfüllten Stunden des schönen Lebens und Lehrens waren Hoepke in der „Städte ländlich schönster“ auch niederdrückende und dunkle Stunden beschieden. Zunächst ließ sich seine Laufbahn hoffnungsvoll an. Schon zwei Jahre nach der Ankunft in Heidelberg habilitierte er sich an der Medizinischen Fakultät und wurde vier Jahre später, 38jährig, Professor. Zu dieser Zeit hatte er bereits eine umfangreiche Lehrtätigkeit aufgenommen und eine beachtliche Zahl von Aufsätzen in medizinischen Fachzeitschriften publiziert; die in diesen Arbeiten sichtbar gewordene Gabe der genauen Naturbeobachtung und ihre Themenvielfalt machten Hoepke in der Fachwelt bekannt. So schien sich für den jungen Gelehrten eine aussichtsreiche akademische Laufbahn eröffnet zu haben, als das Jahr 1933 alle Hoffnungen zunichte machte. „Die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus hat die Universität Heidelberg mit der Wucht eines Erdbebens erschüttert“ (Eike Wolgast). Über ein Viertel des Lehrkörpers wurde aus rassischen und politischen Gründen entlassen oder pensioniert, unter ihnen Hoepke, der „jüdisch versippt“ war; seine Ehefrau war „Mischling ersten Grades“. Nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums war Hoepke damit untragbar geworden; aber dem Dekan der Medizinischen Fakultät, dem Gynäkologen Hans Runge, gelang es mit Unterstützung der Dozentenschaft, zunächst eine Vertragsverlängerung für Hoepke bis 1938 zu erreichen. Runges Versuch, Hoepke zum Professor „neuer Ordnung“, d. h. zum Beamten, ernennen zu lassen, lehnte das Reichserziehungsministerium ab. Immerhin gelang es dem Dekan und seinen Kollegen, Hoepke trotz der sich immer höher auftürmenden Schwierigkeiten fast sieben Jahre, bis 1940, im Amt zu halten. Diese Einstellung hebt sich vorteilhaft von der „schuldvollen Passivität“ (Karl Jaspers) vieler Heidelberger Dozenten ab, die die Vertreibung ihrer von der Gesetzgebung des „Dritten Reiches“ betroffenen Kollegen wegsehend oder schulterzuckend geschehen ließen.
Auch in dieser scheinbar hoffnungslosen Situation – Hoepke stand praktisch auf der Straße – bewahrte er Tatkraft und Besonnenheit. Er eröffnete eine Praxis als Allgemeinarzt, wurde in dieser Funktion „dienstverpflichtet“ – mittlerweile war der II. Weltkrieg ausgebrochen – und wurde in den folgenden Jahren zur stadtbekannten Persönlichkeit: „Fünf Jahre lang bin ich Tag für Tag durch die Gassen der Altstadt gegangen und treppauf treppab in fast allen ihren Häusern gewesen“. Auf diese Weise lernte er die „Kleinstadt mit Geist“ (Hoepke) und ihre Menschen kennen und lieben, die Stadt, mit deren Schicksalen sich Hoepke in der Folge ganz und gar identifizierte. 1947 erschien ein erstes Buch als Ertrag der intensiven Bekanntschaft mit der Altstadtszene: „Heidelberg – Neuer Blick in alte Gassen“.
Das Kriegsende brachte die Rückkehr an die Universität. Am 1. November 1945 wurde Hoepke zum Ordentlichen Professor der Anatomie ernannt. Die große und gutgehende Praxis, die sich der bei seinen Patienten beliebte Arzt im Laufe des Krieges aufgebaut hatte, kam jedoch einem der mit missionarischem Eifer ausgestatteten Vertreter der Besatzungsmacht, einem gewissen Penham, verdächtig vor. Er verhörte Hoepke – der später von einer „übelsten Vernehmung“ sprach –, arbeitete mit fingierten Anrufen und unwahren Unterstellungen, veranlaßte eine Haussuchung und ließ Hoepkes Konto sperren. So setzte die Militärregierung den von den Nationalsozialisten Geschaßten zum zweiten Mal ab. Nichtsdestoweniger setzte der Universitätsrektor Karl Heinrich Bauer durch, daß Hoepke seine Lehrveranstaltung im Wintersemester 1945/46 beenden durfte, und erwirkte auch die Genehmigung für die Abhaltung der Vorlesungen im Sommersemester 1946. Im Juli 1946 entschied die Spruchkammer, daß Hoepke vom „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ nicht betroffen sei. Im Oktober 1946 wurde er nochmals förmlich ernannt und ins Beamtenverhältnis berufen.
Es folgten erfüllte Jahre „schönen Lebens und Lehrens“ in der geliebten Stadt. In dieser Zeit erschienen auch seine medizinischen Standardwerke (Werke). In seiner Lehre beschränkte er sich von vornherein nicht auf die engen Grenzen des anatomischen Fachbereichs – Bewegungsapparat, Gehirn, Haut waren seine Spezialgebiete –, sondern überschritt diese Grenzen in Richtung auf eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen der Humanmedizin. Besonders interessierten ihn die Abwehrfähigkeit des Organismus, „die Bejahung und Bestärkung der körpereigenen Abwehrkräfte“ (Johannes Schlemmer) im Kampf gegen den Krebs. Man könne die Zelltherapie nicht dauernd damit abtun, sie sei eine Zauberei oder unspezifische Reiztherapie, sagte er. Hoepkes Gedanken hätten „einen großen heuristischen Wert“ (Wilhelm Doerr). Die Betreuung der Studenten sah Hoepke als eine seiner wichtigsten Amtspflichten an. Legendär wurden seine außerhalb des Fachbereichs liegenden Examensfragen, mit denen er die Prüfungsatmosphäre auflockerte. So fragte er etwa, wen die Standbilder auf der Alten Brücke darstellten und wieviele Bogen die Brücke habe. Gelegentlich pfiff er auch musikalische Motive und erkundigte sich nach der Provenienz. Eine seiner Examinandinnen berichtete, „wir haben alle bestanden“, auch wenn solche Fragen nicht korrekt beantwortet werden konnten. Seine Vorlesungen setzte der Emeritus bis ins 98. Lebensjahr fort.
Schon 1951 war er in den Heidelberger Stadtrat gewählt worden, wo er sich vor allem für die Bewahrung des vertrauten Stadtbildes einsetzte. In seinen Grundforderungen, daß sich jeder Neu- oder Umbau in Maßen, Form und Farbe nach seiner Umgebung richten müsse, daß kein Neubau den Blick vom Schloß oder vom Philosophenweg stören dürfe und daß alle Häuser der Altstadt ein Satteldach haben müßten, setzte er sich leider nicht immer durch. „Es ist keine Schande, in der Altstadt nicht in Beton zu bauen.“ 1971 erschien sein Buch „Altheidelberg, das unvergleichliche Bild einer mittelalterlichen Stadt“. 18 Jahre lang vertrat Hoepke die Hochschulen Baden-Württembergs im Rundfunkrat des Süddeutschen Rundfunks. Ihm ist zu verdanken, daß dieser Sender als erster die Werbung für Zigaretten abschaffte.
Sucht man nach einer die Vielseitigkeit, die Spannweite der Interessen, die fachliche Kompetenz und die umfassende Bildung Hoepkes umgreifenden Bezeichnung, bietet sich am ehesten „Universalgelehrter“ an. Er hätte auch Zoologe oder Geologe werden können, berichtet er in seiner Selbstbiographie. Viele Titel seiner Aufsätze weisen dies aus. Die – unumgängliche – Spezialisierung bedeute unvermeidlich eine Verengung des Blicks, und der Universitätslehrer sollte den ganzen Menschen nie aus den Augen verlieren. Universal war nicht nur sein wissenschaftliches Engagement. Das ästhetische Empfinden für die bildenden Künste, für die Musik und für die Sprache gehörten ebenso untrennbar zu seiner facettenreichen Persönlichkeit wie seine Funktion im öffentlichen Leben, seine eingehende Beschäftigung mit Fragen der Stadtgeschichte, der Architektur und des Denkmalschutzes. Er war über 80 Jahre alt, als er, dem klassischen Bildungsideal zutiefst verbunden, eine Neuübersetzung der Odyssee und der Ilias in Angriff nahm und abschloß. Daß dies mehr als ein Zeitvertreib war, bestätigten Fachleute, die Neuübertragung sei ein couragiertes und gelungenes Unternehmen.
Menschlichkeit und Lauterkeit waren die Grundzüge seines Wesens. Hoepke ist 104 Jahre alt geworden, fast bis zuletzt in vollem Besitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte.
Quellen: Personalakte Hermann Hoepke im UA Heidelberg; Mitteilungen von Dr. med. Beate Nabein, geb. Henn, Heidelberg, in deren Besitz: Selbstbiographie Hermann Hoepke (1969, 14 S.)
Werke: Bücher: Histologische Technik der Haut, 1930; Das Muskelspiel des Menschen, 1936, 4. Aufl. 1958; Leitfaden der Histologie des Menschen, 1950; Zentrales und vegetatives Nervensystem, 1959; Handbuchartikel: Die Haut, in: von Moellendorff, Handbuch Mikroskopische Anatomie, 1927; Technik der Haut, in: Jadassohn, Handbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten, 1930; Aufsätze in Fachzeitschriften: Über eine Varietät des Aortenbogens, 1921; Über Veränderungen des Pigment- und Luftgehalts im Haar, 1921; Über Veränderungen des Pigment- und Luftgehalts im Ringelhaar, 1921; Eine antike Beckenlinie am Torso des Jünglings von Subiaco, 1922; Epithelfasern und Basalmembran, 1924; Das Biddersche Organ von Bufo vulgaris, 1923; Über Begriff und Einteilung des Hermaphroditismus, 1924; Die Epithelfasern der Haut und ihre Verbindung mit dem Corium, 1924; Zur Frage des Hermaphroditismus, 1925; Der Aufbau des Epithels im spitzen Condylom, 1925; Der epidermale Teil des Ausführungsganges der ekkrinen Schweißdrüsen, 1926; Zur Physiologie und Pathologie der Tonsilla palatina, 1931; Die Milz von Igel und Fledermaus im und nach dem Winterschlaf, 1931; Über die Funktion gesunder und kranker Gaumenmandeln, 1932; Die Milz winterschlafender Tiere, 1932; Zur Funktion der Gaumenmandeln, 1934; Erich Kallius (Nachruf), 1935; Neue Beobachtungen an Mastzellen (mit Westenhöffer), 1935; Die Wirkung basischer und saurer Ernährung auf das Lymphgewebe des Igels (mit Grundies), 1935; Lymphgewebe und Ernährung, 1935; Die Beeinflussung der Gaumenmandeln durch basische und saure Ernährung (mit Grüning), 1935; Der Flug der Pterosaurier (mit Kramer), 1936; Die alten Dünen bei Zinnowitz, 1936; Das Verhalten des Igelthymus bei saurer und basischer Ernährung (mit Peter), 1936; Das Lymphgewebe der weißen Maus bei saurer und basischer Ernährung (mit Hampting und Desaga), 1936; Die Umformung des Schultergürtels durch die Aufrichtung des Menschen, 1937; Die Bedeutung der Lymphozyten, 1938; Über die Bildung von Hasenscharten (mit Maurer), 1938; Die Stellung des Lymphgewebes im Säure-Basen-Haushalt des Körpers, 1938; August Vierling (Nachruf), 1938; Die Wirkung basischer und saurer Ernährung auf das Lymphgewebe der weißen Ratte (mit Spanier), 1939; Über die Bedeutung der Winterschlafdrüse des Igels (mit Nikolaus), 1939; Oeledal, Ein neues Einbettungsmittel (Rezension), 1939; Die Bedeutung der Lymphozyten, 1939; Das Thymusproblem, 1941. Briefwechsel zwischen Jakob Henle und Karl Pfeufer 1843-1870, in Auszügen vorgelegt von Hermann Hoepke, 1970; Geleitwort von Hermann Hoepke zu: Friedrich Dittmar, Gesundheit und Lebenskraft durch Zelltherapie. Wirklichkeit oder Illusion?, 1974
Nachweis: Bildnachweise: in: Joh. Schlemmer, Hermann Hoepke 100 Jahre (Literatur)

Literatur: „Heidelberg – Kleinstadt mit Geist“ – Rede von Altstadtrat Prof. Hoepke anläßlich der Verleihung der Bürgermedaille, in: RNZ vom 24.12.1969 (ohne Verfasser); Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386-1986, 1986; Dorothee Mussgnug, Die vertriebenen Heidelberger Dozenten, Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933, 1988; Hugo Ott, Universitäten und Hochschulen; Otto Borst, Die Wissenschaften, in: Otto Borst (Hg.), Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, 1988; Johannes Schlemmer, Hermann Hoepke – 100 Jahre; Georg Ackermann, Hommage für Hermann Hoepke, in: Ärzteblatt von Baden-Württemberg, 5/1989; Dieter Haas, „Heidelberg und Berlin prägten mein Leben“, Empfang für den 100jährigen Professor Dr. Hermann Hoepke im großen Rathaussaal, in: RNZ vom 16.05.1989; Dieter Haas, Arzt und Anatom mit großem Herz – Professor Hermann Hoepke im Alter von 104 Jahren verstorben – Träger der Bürgermedaille – Auch als Stadtrat bekannt, in: RNZ vom 30.12.1993; Lotte Bolze, Wenn der Professor ein Liedchen pfeift ..., in: RNZ vom 11.01.1994; LB 10, 6528; LbBW 8/50248
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