Liebmann, Heinrich Karl Otto 

Geburtsdatum/-ort: 22.10.1874; Straßburg
Sterbedatum/-ort: 12.06.1939; München-Solln
Beruf/Funktion:
  • Mathematiker, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1892–1897 Studium in Leipzig, Jena, Göttingen
1895 Dr. phil. Jena: „Die einzweideutigen projektiven Punktverwandtschaften d. Ebene“
1899 Habilitation in Leipzig: „Über die Verbiegung d. geschlossenen Flächen positiver Krümmung“
1905–1910 ao. Professor in Leipzig
1909 Mitglied d. Sächsischen Akad. d. Wissenschaften
1910–1920 VI. Professor an d. TH München
1917–1938 Mitglied d. Bayer. Akad. d. Wissenschaften
1920 VII–1935 IX. o. Professor an d. Univ. Heidelberg
1921–1935 Mitglied d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften
1926 Rektor d. Univ. Heidelberg
1935 X. 1 von amtlichen Pflichten an d. Univ. Heidelberg entbunden
1936 Umzug nach München-Solln
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1. 1913 (München) Natalie, geb. Kraus (1890–1924),
2. 1926 (Heidelberg) Helene Klara Hanna, geb. Ehlers (1896–1984)
Eltern: Vater: Otto (1840–1912), Prof. für Philosophie Jena s. NDB 14 (1985) 506
Mutter: Julie Christine, geb. Neumann (1842–1920)
Kinder: 4; 2 Söhne, 2 Töchter, darunter Karl-Otto (* 1933), Psychiater
GND-ID: GND/116997338

Biografie: Gabriele Dörflinger (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 258-259

Nach dem Schulbesuch in Straßburg und Jena studierte Liebmann ab Herbst 1892 Mathematik in Leipzig, Jena und Göttingen. 1895 promovierte er bei Carl Johannes Thomae (1840–1921) in Jena und legte dort 1896 die Lehramtsprüfung ab. Nach seiner Assistententätigkeit in Göttingen und Leipzig habilitierte er sich 1899 in Leipzig und wurde dort 1905 ao. Professor. Von 1910 bis 1920 lehrte er zunächst als ao., ab 1915 als o. Professor in München. Dann nahm er den Ruf nach Heidelberg an. 1923/24 und 1928/29 war er Mitglied des Engeren Senats und Dekan der Naturwissenschaftlich-Mathematischen Fakultät; 1926 wurde Liebmann in Heidelberg zum Rektor gewählt; in seiner Antrittsrede sprach er über „Anregungen und Ziele in der Mathematik“.
Liebmanns wissenschaftliches Werk umfasst mehr als 100 Titel. Sein Arbeitsschwerpunkt war die nichteuklidische und die synthetische Geometrie. In beiden Gebieten verfasste er wichtige Grundlagenwerke. 1899 bewies er in seiner Habilitationsschrift als erster, dass eine randlose, kompakte konvexe Fläche (Eifläche) nicht verbogen werden kann. Eine Verbiegung ist eine stetige Änderung der Fläche, bei der die Bogenlängen der auf der Fläche gezogenen Kurven unverändert bleiben und die Fläche nirgends eingeknickt wird. In diesen Kontext gehört der 1899 von Liebmann bewiesene „Satz von Liebmann“: „Die einzige geschlossene Fläche mit konstanter Gaußscher Krümmung ist die Kugeloberfläche“. Allein dem Thema „Verbiegung“ wurden bis 1929 weitere sieben Schriften gewidmet.
Liebmann verfügte über ausgezeichnete Russischkenntnisse. So übersetzte er 1902 Nikolai I. Lobacevskijs „Pangeometrie“ und 1912 Andrej A. Markovs „Wahrscheinlichkeitsrechnung“, wodurch er diese Werke im deutschen Sprachraum allgemein zugänglich machte.
Liebmanns Großvater mütterlicherseits, Karl-Friedrich Neumann, war als Jude geboren und konvertierte 1818. Deshalb galt Liebmann 1933 nach NS-Auffassung als „Nicht-Arier“. Da er aber vor August 1918 verbeamtet worden war, konnte er zunächst als Altbeamter im Staatsdienst verbleiben und wurde 1934 anlässlich seines 60. Geburtstages von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sogar noch mit der Festschrift „Mathematische Abhandlungen: Heinrich Liebmann zum 60. Geburtstag am 22. Oktober 1934 gewidmet von Freunden und Schülern“ geehrt. Dann begann, von der Fachschaft ausgehend und von der Universität toleriert, eine Hetzkampagne gegen „jüdische“ Dozenten, die in einem Vorlesungsboykott im Sommer 1935 gipfelte.
Liebmann war zu diesem Zeitpunkt bereits an Tuberkulose erkrankt. Seine erste Frau und eine seiner Töchter aus erster Ehe waren an dieser Krankheit gestorben. Deshalb legte Liebmann ein ärztliches Attest vor und bat um seine Pensionierung, die ihm gewährt wurde. Im Gegensatz zu anderen „nicht-arischen“ Dozenten wurde Liebmann Ende 1935 aber nicht aus der Dozentenliste gestrichen sondern im Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität bis zu seinem Tod als inaktiver o. Professor geführt.
Nach der Übersiedlung nach München war Liebmann wieder ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wurde aber – trotz des Widerstands von Oskar Perron (1880–1975) und anderen – im November 1938 aus der Akademie geworfen. Mehr noch als unter den politischen Verhältnissen litt Liebmann aber in den letzten Lebensjahren an seiner Krankheit, der er im 65. Lebensjahr erlag.
Quellen: UA Heidelberg A–219/PA; GLA Abt. 235, Fasz. 2211.
Werke: Werkverzeichnisse in: Mathematische Abhandlungen Heinrich Liebmann zum 60. Geburtstag gewidmet, 1934 u. Max Pinl, Kollegen in einer dunklen Zeit, III. Teil: Heidelberg, Heinrich Liebmann, in: Jahresber. d. Dt. Mathematiker-Vereinigung 73, 1971/72, 162–167. – (Auswahl): Die einzweideutigen projektiven Punktverwandtschaften d. Ebene, Diss. phil. Jena 1895 (52 S.); Über die Verbiegung d. geschlossenen Flächen positiver Krümmung, Habil. Leipzig 1899 (32 S.); Lehrbuch d. Differentialgleichungen, 1901; Nichteuklidische Geometrie, 1908, 31923; Synthetische Geometrie, 1934.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg UAH 2199 u. UAH 3923; Math. Inst. d. Univ. Heidelberg, Ölportrait von Adelheid Furtwängler, 1932; Fotos bei Bauer, 1997, [31] u. Jung, 1999, 7 u. 92.

Literatur: Mathematische Abhandlungen Heinrich Liebmann zum 60. Geburtstag gewidmet, 1934; Geist u. Gestalt 2, 1959, 36; Max Pinl, Kollegen in einer dunklen Zeit, III. Teil: Heidelberg, Heinrich Liebmann, in: Jahresber. d. Dt. Mathematiker-Vereinigung 73, 1971/72, 162–167; NDB 14, 1985, 508; Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon, 2., 1803–1932, 1986, 164; Dorothee Mußgnug, Die vertriebenen Heidelberger Dozenten, 1988, 70; Friedrich L. Bauer u. a., Schicksale jüdischer Mathematiker in München, in: Sitzungsberr. d. Bayer. Akademie d. Wissenschaften: Math.-Naturwiss. Klasse, 1997, 14 f.; Florian Jung, Das Mathematische Institut d. Univ. Heidelberg im Dritten Reich, 1999, 7 f., 21 f. u. 33–40.
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