Schlatter, Georg Friedrich 

Geburtsdatum/-ort: 16.12.1799;  Weinheim
Sterbedatum/-ort: 03.11.1875;  Weinheim
Beruf/Funktion:
  • Pfarrer, radikalliberaler Parteigänger der Revolution 1848/49
Kurzbiografie: 1805–1818 Elementarschule, Obere Knabenschule, neue Lateinschule u. Pädagogium des Reformpädagogen Albert Ludwig Grimm in Weinheim, dann Gymnasium Heidelberg bis Abitur
1818 Studium d. ev. Theologie in Heidelberg, Beitritt zur Allg. Deutschen Burschenschaft, Aushilfsprediger
1820 theol. Examen, als Pfarrkandidat rezipiert, 1822 Vikar in Dallau, Kirchenbez. Mosbach
1827 Pfarrer in Linkenheim, 1832 in Heddesheim
1844 strafversetzt nach Mühlbach bei Eppingen
1848 Wahl in die II. Kammer: radikal-liberal, ungültig
1849 Alterspräsident d. Verfassunggebenden Versammlung zur Zeit d. Provisorischen Revolutionsregierung; nach Ende d. Revolution verhaftet
1850 aus dem Kirchendienst entlassen u. wegen Hochverrats zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt, Einzelhaft in Bruchsal, nach fünf Jahren bei allgemeiner Amnestie entlassen
ab 1856 freier Publizist, verwitwet in Mannheim
1858 sechswöchige Festungshaft in Rastatt, wegen seiner „Kerkerblüthen“ u. seiner revolutionären Gesinnung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: I. 1822 (Dallau) Johanna Luise Frieda, geb. Joseph (gestorben 1826), Tochter des Ortspfarrers;
II. 1827 (Graben) Eva Margaretha, geb. Ludwig (1807–1854)
Eltern: Vater: Johann Georg (1742–1813), Blaufärbermeister
Mutter: Anna Magdalena, geb. Christmann (geboren 1825)
Geschwister: 3 ältere Geschwister, 2 Jungen früh verstorben, Margaretha, unverheiratet, lebte 1826–1854 im Haushalt ihres Bruders
Kinder: 17, 5 früh verstorben; einige ausgewandert
GND-ID: GND/117282014

Biografie: Gerhard Schwinge (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 549-550

Vom Vater zum selben Handwerksberuf bestimmt konnte Schlatter sich nach dessen Tod mit Unterstützung der Mutter wunschgemäß auf das Theologiestudium vorbereiten. Als einer, der in seiner Jugendzeit die Befreiungskriege und das Erstarken des Nationalbewusstseins, aber auch den Beginn der Restauration erlebte, hat er in Heidelberg als Theologiestudent durch seinen Beitritt zur Burschenschaft früh sein politisch liberales Engagement gezeigt. Gleichzeitig galt er schon mit 20 Jahren in den Gemeinden der Umgebung als beliebter Aushilfsprediger. Dennoch dauerte es viele Jahre, bis er Pfarrer einer eigenen Gemeinde wurde. Als Vikar hatte er eine der Töchter des Ortspfarrers geehelicht, die jedoch nach vier Jahren im Kindbett starb. Darauf heiratete er als Pfarrer von Linkenheim ein 20-jähriges Mädchen, welche ihm während 27 Ehejahren die meisten seiner zahlreichen Kinder gebar, bis auch sie mehr als 20 Jahre vor ihm verstarb. Schlatters theologisch-kirchlicher Liberalismus zeigte sich, als er 1831/32 in Linkenheim in der Hardt nördlich von Karlsruhe während des sogenannten Katechismusstreits öffentlich Position gegen seine pietistisch-konservativen Nachbarpfarrer Aloys Henhöfer in Spöck und Staffort, Georg Adam Dietz in Friedrichstal und Christoph Käß in Graben bezog, bevor er 1832 nach Heddesheim an die Bergstraße wechselte. Samt Familie musste Schlatter lebenslang in prekären finanziellen Verhältnissen leben; denn auch die neue Gemeinde verbesserte sein Einkommen als Pfarrer nicht. Mehrfach bewarb sich Schlatter vergeblich um eine einträglichere Pfarrstelle.
In den Jahren des Vormärz wirkte Schlatter weiterhin in Politik und Kirche als liberaler Oppositioneller. Nachdem er die Wiederwahl von Karl Theodor Welcker und Friedrich Hecker in die II. Kammer der badischen Landstände unterstützte hatte, verlor er sein Amt als Schulvisitator und wurde 1844 von Heddesheim in die Pfarrei Mühlbach bei Eppingen strafversetzt. In der Diskussion um die „Pietisterei“ und das Konventikelwesen, die nach den 1830er-Jahren neu aufgeflammt waren, und nach der Generalsynode von 1843 nahm er trotz seiner Strafversetzung 1845 mit Blick auf die Diözesansynoden von 1846 dezidiert mit einer Flugschrift Stellung: Für ihn waren „Pietismus, Mysticismus und Orthodoxismus“ Entartungen und Gefahren.
Während der Revolution 1848/49 trat Schlatter wieder für die radikaldemokratische Opposition ein. In Eppingen war er Mitbegründer des Volksvereins. Seine Wahl in die II. Kammer wurde annulliert, weil er das vorgeschriebene persönliche Vermögen nicht nachweisen konnte. Er war Wahlmann zur Deputiertenwahl für die Frankfurter Nationalversammlung. Nach der Mairevolution 1849 wurde er in die Verfassunggebende Versammlung unter Lorenz Brentano gewählt und eröffnete als Alterspräsident deren erste Sitzung. Obwohl er Gewaltanwendung während der Revolution abgelehnt hatte, wurde er im Juli nach deren Niederschlagung verhaftet und aus dem Pfarramt entlassen, trotz einer Bittschrift des Gemeinderats und des Kirchengemeinderats Mühlbach. Nach monatelanger Untersuchungshaft wurde er am 4. Januar 1850 wegen Hochverrats zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein Gnadengesuch lehnte er ab. Nach fünf Jahren strenger Isolierungshaft im Zuchthaus Bruchsal wurde er im Oktober 1855 im Rahmen einer allgemeinen Amnestie in eine mittellose Existenz entlassen. Von nun musste Schlatter versuchen, als freier Publizist seinen Lebensunterhalt zu sichern, als Witwer und mit einer immer kleiner werdenden Familie. Als er 1856 mit der Hoffnung auf Verkaufserlöse über seine überstandenen Gefängnisjahre unter dem Titel „Kerkerblüthen“ humoristische Gedichte hatte drucken lassen, wurden alle Exemplare sofort konfisziert und Schlatter erneut zu sechs Wochen Festungshaft in Rastatt verurteilt. Ungebrochen in seiner Gesinnung veröffentlichte er im Selbstverlag in Mannheim Schriften zu seinen Hafterfahrungen und zur politischen und kirchlichen Situation der Zeit an der Wende von der positiven Ära mit dem sogenannten Agendenstreit und den Bekenntnisdebatten in der Landeskirche zur liberalen Neuen Ära um 1860, in der er gleichwohl politisch-gesellschaftlich nicht mehr integriert war. Fast zwanzig Jahre lebte er vereinsamt und überschattet von finanziellen Sorgen in Mannheim, bis er bei einem seiner Söhne in Weinheim verstarb.
Quellen: GLA Karlsruhe Personalakte 76/6830 (1843–1844) u. 76/6831 (1820–1873).
Werke: Verteidigung des neuen Katechismus d. vereinigten Kirche Badens gegen die Angriffe einiger Geistlichen, nebst Beurteilung d. theol. Glaubensmeinungen derselben, 1831 (91 S. zum Katechismusstreit); Zwanzig Predigten, als Zeugnisse kirchl. Rechtgläubigkeit gegen pietist. Verketzerungen, d. Öffentlichkeit übergeben, 1832, VIII (220 S.); Pietismus, Mysticismus u. Orthodoxismus in ihrer Verwandtschaft u. ihrem Unterschiede. Eine Synodalarbeit. 1845 (24 S.); Die Verfassung d. ev.-protestantischen Kirche in Baden, wie sie ist u. wie sein soll, 1848, XI (151 S.); Kerkerblüthen, humoristische Gedichte, 1856 (weil nach Erscheinen konfisziert u. nicht mehr nachweisbar); Das System d. Einzelhaft. in bes. Beziehung auf die neue Strafanstalt in Bruchsal. Stimme eines Gefangenen über Zuchthäuser, 1856, 2. Aufl. 1856, IX (232 S.); Zuchthausstudien. Die Frucht einer sechsjährigen Einzelhaft, 6 Hefte, 1857 1860; (anonym:) Der Cultus-Streit in d. ev. Kirche Badens. Eine Appellation von dem „belehrenden“ an den „besser zu belehrenden“ ev. Oberkirchenrat in Karlsruhe, 1859 (51 S. zum Agendenstreit); Die Schwarzen Revolutionäre, ein Seitenstück zu den Rothen, 1860 (16 S.); Der oberste Grundsatz des Protestantismus gegenüber d. beanspruchten Autorität d. kirchlichen Bekenntnisschriften. Ein Wort an die Geistlichen u. Laien d. kränkelnden prot. Kirche, 1860 (34 S.); Der deutsche National-Verein gegenüber d. Idee einer Dreiteilung Deutschlands, 1861 (42 S.).
Nachweis: Bildnachweise: Fotographie von 1848 im Pfarramt Mühlbach (Abdruck bei Mohr, 1996, 142, u. Fischer, 2010, 34.

Literatur: Hermann Rückleben, Theologischer Rationalismus u. kirchlicher Protest in Baden 1843 49, in: Pietismus u. Neuzeit. Ein Jahrbuch […] 5, 1979, 66 83; Karl Dettling, Georg Friedrich Schlatter aus Weinheim, 1799 1875. Ein Leben für Freiheit u. Menschenwürde, in: Mühlbacher Jb. 1980, 89 141; Hans Pfisterer, Das Ringen um eine neue Verfassung für die Vereinigte Ev. Landeskirche in Baden 1848/49. Ein Kapitel über Kirche u. Politik in den Revolutionsjahren, in: ZGO 134, 1986, 279 297; Gerhard Schwinge, Ev. Pfarrer u. die Revolution von 1848/49, in: Die ev. Kirchen u. die Revolution 1848. Referate des 1. Gesamtdt. Treffens d. territorialkirchengeschichtl. Vereinigungen, 1993. (Zs. für bayer. Kirchengeschichte, 62. Jg = Studien zur dt. Landeskirchengeschichte, Bd. 1), 36–46; .Gerhard Kaller, Georg Friedrich Schlatter, in: Biograph-Bibliograph. Kirchenlexikon IX, 1995, Sp. 236-238; Alexander Mohr, Georg Friedrich Schlatter (1799–1875), Pfarrer u. Radikalliberaler d. Revolution 1848/49, in: Protestantismus u. Politik. Zum polit. Handeln ev. Männer u. Frauen für Baden zwischen 1819 u. 1933. Eine Ausstellung d. Bad. Landesbibliothek […] 1996, 141– 150; Heinrich Raab, Revolutionäre in Baden 1848/49, 1998, 817f.; Rainer Gutjahr, Georg Friedrich Schlatter, Pfarrer, Schriftsteller, in: Der Rhein-Neckar-Raum u. die Revolution von 1848/49. Revolutionäre u. ihre Gegenspieler, 1998, 268 272; Konrad Fischer, Prophet u. Märtyrer des aufrechten Gangs. Pfarrer Georg Friedrich Schlatter aus Weinheim. Vortrag anläßl. seines 200. Geburtstags in d. Stadtkirche Weinheim, 16. Dez. 1999, www.konradfischer.de, pdf-Datei, 34 S.; ders., Georg Friedrich Schlatter (1799–1875), Prophet u. Märtyrer des aufrechten Gangs, in: J. Ehmann (Hg.), Lebensbilder aus d. ev.. Kirche in Baden im 19. u. 20. Jh., Bd. II: Kirchenpolit. Richtungen, 2010, 34-55; Gerhard Schwinge, „Flegeljahre“ d. bad. ev. Kirche? Spätrationalistische u. spätpietistische Pfarrer über den Zustand d. Kirche. Auseinandersetzungen in Zeitungen u. Streitschriften d. Jahre 1843 bis 1850. 2013 (96 S. mit 25 Abb.).
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