Reiß, Anna 

Geburtsdatum/-ort: 02.09.1836;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 23.11.1915;  Mannheim
Beruf/Funktion:
  • Kammersängerin
Kurzbiografie: Ab 1859 Gesangsstudium in Paris, danach Konzertsängerin
1862 V. Reise nach Dresden u. Debüt als Amine in „Der Nachtwandler“ von Vincenzo Bellini
1863 V.–1864 Hoftheater in Dresden
1864–1867 Hoftheater in Schwerin
1867–1868 Stadttheater in Leipzig
1868–1869 Hoftheater in Weimar, 1868 drei Gastspiele in Mannheim, ab Mai 1868 Kammersängerin
1870 Rückkehr nach Mannheim, Hausdame ihres Vaters (bis 1881), dann des Bruders Carl, gleichzeitig während d. Südamerikaexkursion des Bruders Wilhelm bis 1876 dessen „Assistentin“
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Rote-Kreuz-Medaille (1905); Goldene Medaille für Kunst u. Wissenschaft u. Ehrenbürgerin d. Stadt Mannheim (1913)
Verheiratet: unverheiratet
Eltern: Vater: Gustav Friedrich (1802–1881), Großkaufmann, Oberbürgermeister von Mannheim 1849–1852
Mutter: Wilhelmine, geb. Reinhardt (1809–1868), Tochter des Johann Wilhelm Reinhardt u. Enkelin des gleichnamigen Mannheimer Oberbürgermeisters
Geschwister: 2; Wilhelm (vgl. S. 319) u. Carl (vgl. S. 314)
Kinder: keine
GND-ID: GND/117752916

Biografie: Fred Ludwig Sepaintner (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 313-314

Drei Jahre nach ihrer Freundin Julia Lanz (1843–1926) war Reiß die zweite – und seither letzte (!) – Frau, der die Ehrenbürgerwürde der größten bad. Stadt zuerkannt wurde. Schon 12 Jahre zuvor war ihr Bruder Carl dergestalt ausgezeichnet worden. In ihren Testamenten von 1911 und 1913 hatten die Geschwister Reiß ihre Heimatstadt als Universalerbin eines wahrhaft beachtlichen Vermögens von mehr etwa 4,5 Mio. Goldmark eingesetzt und ihr auch die Familienvilla in E 7, 20 vermacht. Daraufhin revanchierte sich die Stadt bei der damals 77-jährigen Grande Dame der Mannheimer Gesellschaft und ernannte sie zur Ehrenbürgerin, indem sie ihr kulturelles Engagement würdigte, hielt im Ehrenbürgerbrief aber auch ausdrücklich fest, dass Reiß „mit treuer Anhänglichkeit an ihre Vaterstadt seit Jahrzehnten“ wirke. Damit war auf ihr soziales Engagement abgehoben.
Die Vita von Reiß hat sich bis auf die 1860er Jahre im Wesentlichen in Mannheim zugetragen. Aber gerade das „Ausnahmejahrzehnt“ war kennzeichnend für die damals kaum 20-jährige, sehr „selbstbewusste“ – so der Vater – junge Dame. Sie hatte es vermocht, sich ganz gegen Stand und Sitte und das großbürgerliche Elternhaus durchzusetzen und nicht nur ein Gesangsstudium in Paris absolviert, sondern nach anfänglichen Auftritten als Konzertsängerin Engagements an mehreren namhaften Theatern in Mitteldeutschland und dazwischen Gastspiele in Paris, London und Berlin durchaus erfolgreich bestanden. Ihre Weimarer Zeit, in die der Höhepunkt der Künstlerkarriere fiel, die Ernennung zur Kammersängerin, war mehrfach unterbrochen von umjubelten Gastauftritten am heimischen Nationaltheater, so als Margaretha in „Faust und Margaretha“ von Gounod. Die Mannheimer Kritik, die ausdrücklich auch frühere Besprechungen von Reiß‘ Auftritten zusammenfasste, würdigte die gesangliche Leistung durchaus differenziert, lobte den Fleiß, wohltuende Sicherheit und den gelungenen dramatischen Ausdruck, sprach aber durchaus auch die Grenzen an: „Die Stimme von Frl. Reiß ist von Hause aus spröde; der Ton hat wohl ein gewisses Volumen, aber er dringt nicht zu Herzen … Was zu wünschen übrig lässt, ist … Innerlichkeit … “ (Mannheimer Journal).
Mit dem Jahr 1870 dann war Reiß‘ Wirken auf der Bühne beendet. Sie kehrte auf Dauer in den Schoß der Familie zurück, stand bis zu dessen Tod dem Haushalt des Vaters vor, um gleich im Anschluss daran in der zur Hälfte geerbten Familienvilla die Rolle der Dame an der Seite ihres bereits seit drei Jahren verwitweten Bruders Carl zu übernehmen. Zumindest bis zu dessen Rückkehr aus Südamerika organisierte sie außerdem die heimischen Pflichten ihres Bruders Wilhelm und fungierte – selbstbewusst und erfolgreich, selbst in der Reichshauptstadt – als „Fräulein Geologin“.
Damit ist der zweite, bis zum Lebensende dauernde und die eigentliche künstlerische Laufbahn weit überstrahlende Lebensabschnitt angesprochen, währenddessen Reiß es glänzend verstanden hat, Kunstsinn und zuvor gemachte Erfahrungen immer wieder einzubringen. Keineswegs zeitgemäß verkörperte sie nämlich nie die überkommene, eher passive repräsentative Rolle. An der Seite des Bruders Carl war sie zwar, anfangs zumindest, zuerst Trösterin in dessen Trauer, Begleiterin auch auf Reisen in alle Welt, dann aber eher schwesterliche Lebensgefährtin, so dass der Mannheimer Oberbürgermeister Theodor Kutzer (1864–1948) an ihrem Grab „das so herrliche Familienleben“ der Geschwister pries. Dem großbürgerlichen Haushalt indes gab sie immer ihre eigene Prägung und pflegte „ihre“ Kunst weiter, indem sie bei allseits geschätzten musikalischen Abenden eigene Sangesbeiträge lieferte. Von ihrer Loge im 1779 von Kurfürst Karl Theodor gebauten Nationaltheater unweit der Jesuitenkirche aus betrachtete sie nicht nur, sie mischte sich dann auch ein, kritisierte freimütig, ja vermochte am Ende das Kunstgeschehen in der Stadt durchaus aktiv mitzugestalten. „Sie kommen an dieser Frau ebensowenig vorbei wie ich oder ein anderer in dieser Stadt“, äußerte Oberbürgermeister Beck dem Intendanten des Nationaltheaters gegenüber.
Reiß betrieb auch aktive Talentförderung, und entsprechend lang geriet die Reihe derer, die sich um ihre Fürsprache bemühten: Gustav Mahler (1860–1911) und Hugo Wolf (1860–1903) gehören in diese Reihe. Wolf wohnte im Hause Reiß, ihm hat die „hochverehrte Meisterin“ mit anderen Mannheimer Freunden zusammen 1896 zur Uraufführung einer Oper im Nationaltheater verholfen und schließlich sogar anonym eine Rente ausgesetzt. Clara Schumann (1819–1896) und Lilli Lehmann (1848–1929) standen ebenfalls in der Reihe der Geförderten, womit nur wenige Künstler genannt sind, die mit Reiß korrespondierten, sie besuchten, sich gerne zu ihrem Kreis rechneten.
Im Rahmen des ohnehin exorbitanten Engagements der Geschwister für Kunst, Kultur, Wissenschaft und soziale Belange gewann Reiß neben dem Bruder Carl eigene Konturen und auch große Popularität. Herausragend ihr Engagement nicht nur im Philharmonischen Verein, auch im Freien Bund zur Einbürgerung der Bildenden Kunst, dessen Ziele beide Geschwister auch testamentarisch förderten.
Diesem Engagement blieb sie über den Tod ihres Bruders hinaus treu. 1914 erreichte sie beim Oberbürgermeister die Zusicherung, dass die im Zeughaus ausgestellte naturkundliche Sammlung Wilhelm Föhners (vgl. S. 116) in diesen Räumen verbleiben dürfe. Auf einem Foto, das beim Parteijubiläum auf der Reiß-Insel entstanden ist, sitzt Reiß als einzige Dame in der Mitte. Sie ist umgeben von würdevollen Herrn, den Mitgliedern des Vorstandes der Nationalliberalen Partei Mannheims: bemerkenswert für eine politische Richtung, die Frauen die Mitwirkung versagte! Die „ungekrönte Großherzogin Mannheims“, wie die Bad. Volkszeitung schon 1865 formuliert hatte, nahm eine Sonderstellung ein.
Quellen: StadtA Mannheim Nachlässe, Zug. 32, 1968, Nachlass Carl u. Anna Reiß, u. Urkunden u. Verträge 48/1970, 45, Testamente von Carl u. Anna Reiß (Kopien von 1943, dort mit Schreibweise: Karl Reiß); GLA Karlsruhe 276–2, Mannheim IV, Nr. 26651, Testamente von Carl u. Anna Reiß (Originale); Reiß-Engelhorn-Museen Mannheim, Dokumente u. Exponate.
Nachweis: Bildnachweise: Bronzebüste von Adolf von Hildebrand (1847–1921) von 1913 u. Ölgemälde von Otto Propheter (1875–1927) von 1907, in: Reiß-Engelhorn-Museen, Mannheim; StadtA Mannheim, Bildsammlung; Die höchste Auszeichnung d. Stadt, 2002, 86–89 (vgl. Literatur).

Literatur: Th. Kinzig, Aus d. Gesch. d. Mannheimer Naturkundl. Sammlungen, in: Verein für Naturkunde Mannheim, FS zur 100-Jahrfeier, 1933, 33–45; Ludwig W. Böhm, Carl u. Anna Reiß, in: Mannh. Hefte 1954, 16–20; Karin von Welck, Anna Reiß – Opernsängerin, Mäzenin, Ehrenbürgerin von Mannheim, in: Stadt ohne Frauen. Frauen in d. Gesch. Mannheims, hgg. von d. Frauenbeauftragten d. Stadt u. a., 1993, 127 ff.; Anja Gillen, Anna Reiß, in: Die höchste Auszeichnung d. Stadt, 42 Mannheimer Ehrenbürger im Porträt, Kl. Schriften des StadtA Mannheim 18, 2002, 86 ff.; Geschichte d. Stadt Mannheim, Bd. 2, 2007.
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