Blos, Wilhelm
Geburtsdatum/-ort: | 1849-10-05; Wertheim am Main |
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Sterbedatum/-ort: | 1927-07-06; Stuttgart-Bad Cannstatt |
Beruf/Funktion: |
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Kurzbiografie: | 1868 Maturitätsprüfung Karlsruhe 1868-1870 Studium der Philologie und Geschichte in Freiburg 1870 ff. Journalist und Schriftsteller 1877-1918 Mit kurzen Unterbrechungen sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter 1918 (5. November) Vorsitzender der Provisorischen Württembergischen Regierung und Minister der Auswärtigen Angelegenheiten 1919 (29. Januar) Durch die Verfassunggebende Württembergische Landesversammlung als Ministerpräsident mit der Weiterführung der Regierungsgeschäfte beauftragt. 1919 (7. März) Württembergischer Staatspräsident 1919-1924 Mitglied des Württembergischen Landtags 1920 Mit dem Ausscheiden der SPD aus der Württembergischen Regierung Rücktritt vom Amt des Staatspräsidenten |
Weitere Angaben zur Person: | Religion: ev. Verheiratet: 1. 1875, Name der Frau unbekannt 2. nach 1887, Name der Frau unbekannt 3. 1905 mit Anna geb. Tomaszewska Eltern: Vater: Dr. med. Aloys Blos, Arzt Mutter: Wilhelmine, geb. Schmezer Kinder: 1 Sohn (geb. 1892) |
GND-ID: | GND/11851184X |
Biografie
Biografie: | Paul Sauer (Autor) Aus: Badische Biographien NF 1 (1982), 62-68 Die Vorfahren von Blos entstammen der Gegend von Wertheim am Main. Der in dem Dorf Dörlesberg geborene Vater sollte nach dem Willen der streng katholischen Eltern Theologie studieren, gab jedoch das Theologiestudium bald auf und wandte sich der Medizin zu. Seiner christlichen Glaubensüberzeugung tat dies keinen Abbruch, wohl aber nahm ihm die Familie seinen Studienwechsel übel, und er konnte seine Universitätsausbildung nur unter großen Entbehrungen zu Ende führen. Der junge Arzt, der sich in Wertheim niederließ, erlangte im Revolutionsjahr 1848 die Hand der erst 18jährigen Wilhelmine Schmezer, die einer der angesehensten Wertheimer Familien angehörte. Ihr Vater, Wilhelm Schmezer, war ein wohlhabender Kaufmann. Seine beiden Brüder hatten Rang und Namen im Geistesleben ihrer Zeit: Christoph, Pfarrer in Ziegelhausen, war der Freund Viktor Scheffels und vertonte einige Lieder des volkstümlichen Dichters. Friedrich wirkte viele Jahre als bekannter Tenor und zuletzt als Regisseur am Hoftheater in Braunschweig. Einige Jahre nach der Geburt von Blos nahm der Vater die Stelle eines Amtschirurgen in Eberbach am Neckar an. Die anstrengende Landpraxis überforderte die Kräfte des gesundheitlich wenig robusten Mannes, der bereits 1856 einem unheilbaren Lungenleiden erlag und bei der Landbevölkerung auf den Höhen des Odenwalds ein gesegnetes Andenken hinterließ. Die Ehe zwischen dem pflichtgetreuen, frommen und warmherzigen Arzt und der lebenslustigen Patriziertochter aus Wertheim war wenig glücklich gewesen. Für Blos und seine Schwester begann bald nach dem Tode des Vaters, an dem er sehr gehangen hatte, eine schlimme Zeit. Die Mutter verheiratete sich wieder. Der Stiefvater, ein Förster, besaß einen bösartigen gewalttätigen Charakter. Aus seiner Abneigung gegen den Jungen machte er von Anfang an kein Hehl: er drangsalierte ihn in übler Weise. Zunächst nahm sich der Großvater in Wertheim des verwaisten Knaben an. Doch starb dieser schon 1857, und Blos mußte in das Haus des Stiefvaters zurückkehren. Die zweite Frau des Großvaters, die Stiefmutter der Mutter, befreite ihn, als sie von seiner schlechten Behandlung hörte, aus den Händen des Försters. Er kam auf das Lyzeum in Wertheim. Ein wirkliches Zuhause fand er aber auch bei der strengen, doch immerhin gerechten Großmutter vor allem deshalb nicht, weil seine Stieftante und deren Verlobter, ein junger Professor am Lyzeum, in ihm einen möglichen Miterben an dem großmütterlichen Vermögen sahen. Zudem entfremdete die engherzig-übersteigerte Frömmigkeit der Großmutter den auf Wunsch des Großvaters evangelisch getauften und erzogenen Enkel, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, allen religiösen Dingen gänzlich. Doch respektierte er zeitlebens die Glaubensüberzeugung anderer. Die fehlende Nestwärme ersetzten dem begabten Jungen wenigstens zu einem Teil verständnisvolle Lehrer. An Ostern 1866 mußte er das Lyzeum verlassen und als Lehrling in eine Kaffeegroßhandlung in Mannheim eintreten. Da er für den kaufmännischen Beruf indessen weder Neigung noch Eignung besaß, endete sein Lehrlingsdasein schon nach wenigen Monaten. In seiner Not setzte es der frühreife junge Mann mit Hilfe des Gemeinderats in Eberbach, dem Sterbeort seines Vaters, durch, daß seinem Stiefvater, der bislang als Vormund uneingeschränkt über sein Vermögen verfügt hatte, die Vormundschaft abgenommen und dem Amtsgericht Eberbach die Befugnisse über seine Vermögensangelegenheiten übertragen wurden. Allerdings blieb sein Vermögen weiterhin in den Händen des Stiefvaters. Blos konnte nunmehr seine abgebrochene Schulausbildung fortsetzen. In dem „Schnellbleiche-Institut“ von Dr. Hillengaß in Breitenbronn bereitete er sich auf das Maturitätsexamen, die Reifeprüfung, vor. – Derartige private „Schnellbleichen“ oder „Schnellpressen“, durch die man sich außerhalb des Gymnasiums in kurzer Zeit die notwendigen Vorkenntnisse für die Hochschulreife erwerben konnte, waren damals noch in Baden gestattet. – Blos nutzte die ihm in Breitenbronn gebotenen Bildungschancen und legte im Sommer 1868 in Karlsruhe eine glänzende Maturitätsprüfung ab. Seiner Neigung folgend immatrikulierte er sich im Wintersemester 1868/69 in Freiburg i. Br. in Philologie und Geschichte. Das freie studentische Leben hatte es ihm angetan. Als Angehöriger des Korps Rhenania genoß er es in den ersten Semestern, wie er selbst erzählt „in vollen Zügen“. Doch kam das Studium nicht zu kurz. Finanzielle Bedrängnisse – der Stiefvater sperrte ihm die erforderlichen Mittel aus seinem Vermögen – zwangen ihn 1870, sich nach einem Broterwerb umzusehen. Er hoffte, sein Studium bald wieder aufnehmen zu können. Doch aus der vorübergehenden Unterbrechung der akademischen Ausbildung wurde ein endgültiger Abschied von der Universität. Zunächst übernahm er die Stelle eines Zollamtsschreibers in Überlingen. Seine Tätigkeit befriedigte ihn in keiner Weise. Er gab sich deshalb auf der einen Seite einem etwas ausgelassenen Leben hin, auf der anderen Seite beschäftigte er sich intensiv mit Geschichte, Literatur und Staatswissenschaften. Auch versuchte er sich – vorerst erfolglos – in politischen Aufsätzen für Zeitungen und Zeitschriften. Ein alter badischer Revolutionär von 1848/49, der Rechtsanwalt Adolf Szuhany, mit dem er in Überlingen bekannt wurde, brachte ihn in Berührung mit revolutionären demokratischen Ideen. Diese eröffneten ihm eine neue Welt. Szuhany war es auch, der ihm mit dem Hinweis auf seine journalistische Begabung beruflich den entscheidenden Anstoß gab. Auf die Empfehlung des Rechtsanwalts wurde er als Unterredakteur nach Konstanz an das demokratische Blatt, den „Konstanzer Volksfreund“, berufen. Freilich konnte er dort nicht lange bleiben. Der Deutsch-Französische Krieg und die durch diesen bewirkte übermächtige nationalliberale Strömung entzogen der kleinen demokratischen Zeitung mit dem raschen Schwund ihrer Abonnenten die existentielle Grundlage. Die Auseinandersetzung mit einem nationalliberalen Redakteur, der die Demokraten als Vaterlandsverräter bezeichnet hatte, trug Blos übrigens eine erste Gefängnisstrafe von acht Tagen ein, die er mit Geld abgalt. Seine neue Wirkungsstätte fand er bei dem im Sinne der württembergischen Volkspartei demokratisch ausgerichteten „Schwarzwälder Boten“ in Oberndorf am Neckar, der bereits damals eine weitverbreitete Zeitung war. Die siegreiche Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges und die Reichsgründung veranlaßten den Besitzer der Zeitung, Brandecker, wie viele andere mit der demokratischen Tradition zu brechen und sein Blatt dem zur Vorherrschaft gelangten nationalliberalen Zeitgeist anzupassen. Blos, der sich in Oberndorf politisch zunehmend stärker nach links in Richtung Sozialdemokratie zu orientieren begann, wechselte am 1. Oktober 1871 zum „Würzburger Journal“ über und von da, weil er der Zeitungsverlegerin in Würzburg zu radikale Ansichten vertrat, im Februar 1872 nach Nürnberg, wo er zunächst die Redaktion des „Fürther demokratischen Wochenblatts“, kurz darauf die des „Nürnberger Anzeigers“ übernahm. In Nürnberg kam er erstmals in Verbindung mit sozialdemokratischen Arbeitern. Eng schloß er sich an einige sozialdemokratische Führer, an Karl Grillenberger und Johann Scherm, an. Das Kommunistische Manifest von Karl Marx, mit dem er sich damals beschäftigte, räumte die letzten geistigen Hürden hinweg, die ihn bislang noch an einem offenen Bekenntnis zur Sozialdemokratie gehindert hatten. Er wurde Mitglied der Internationalen Arbeiterassoziation. Im Sozialismus sah Blos, der vom Theoretisieren nie viel hielt, freilich keine politische Heilslehre, sondern einen pragmatischen Weg zur Verwirklichung einer freien Gesellschaft, in der alle Glieder gleiche Rechte wie Pflichten besaßen. Im Juni 1872 gab er seine wohldotierte bürgerliche Position auf und übernahm eine finanziell sehr viel weniger einträgliche Stelle beim sozialdemokratischen „Braunschweiger Volksfreund“. Zugleich trat er der Sozialdemokratischen Partei bei. Mit der Braunschweigischen Polizei, die den „Volksfreund“ nach Kräften zu unterdrücken suchte, geriet er bald in Konflikt. Wegen „Amtsehrenbeleidigung“ mußte er im Oktober 1872 eine dreimonatige Gefängnisstrafe absitzen. Im Frühjahr 1873 erhielt er die Aufforderung, die Redaktion des „Volksstaats“ in Leipzig, des Zentralorgans der Eisenacher Richtung der Sozialdemokratie, zu leiten, dessen Redakteur Wilhelm Liebknecht damals zusammen mit August Bebel eine zweijährige Festungsstrafe auf Schloß Hubertusburg wegen Hochverrats verbüßte. Die Berufung nach Leipzig bedeutete für den noch nicht 24jährigen eine große Auszeichnung. Im „Volksstaat“ schrieben zu dieser Zeit außer Karl Marx und Friedrich Engels die alten Revolutionäre Borkheim und Johann Philipp Becker, die im Badischen Aufstand von 1849 eine führende Rolle gespielt hatten, die bereits erwähnten Sozialistenführer Wilhelm Liebknecht und August Bebel, die ihre für die Veröffentlichung bestimmten politischen Artikel als Familienbriefe kaschierten und auf diese Weise aus der Festungshaft schmuggelten, und andere mehr. Blos fing in Leipzig auch an, sich als Parteiredner zu betätigen. 1873 besuchte er als Vertreter des „Volksstaats“ den in jenem Jahr in Eisenach stattfindenden Parteitag, der vor allem der Vorbereitung der nächsten Reichstagswahl galt. In Leipzig lernte er auch den dort zu Besuch weilenden Karl Marx kennen, der ihm die Ehre antat, ihn nach Verbüßung einer erneuten dreimonatigen Gefängnisstrafe am Gefängnistor abzuholen. Marx bot dem jungen Genossen bald seine Freundschaft und das brüderliche „Du“ an. Nach der Freilassung von Liebknecht ging Blos im September 1874 nach Mainz, um dort die „Süddeutsche Volksstimme“ zu redigieren. Sein Gesundheitszustand, der am Ende seines Leipziger Aufenthalts zu ernster Besorgnis Anlaß gegeben hatte, besserte sich nach mehreren heftigen Blutstürzen, die ihn an den Rand des Grabes brachten, grundlegend. Rasch erlangte er seine volle Arbeitskraft zurück. 1875, nach Frankfurt am Main übergesiedelt, wagte er sich an die Herausgabe eines „dreiköpfigen Blatts“, das in Frankfurt, Mainz und Offenbach jeweils unter anderem Namen und mit unterschiedlichem Lokalteil erschien. Unter der ständigen Polizeiüberwachung hatte er in Mainz wie in Frankfurt viel zu leiden. Ebenso setzte ihm die Justiz wegen angeblicher Pressevergehen fortwährend zu. Ein großer Erfolg wurde ein kleines humoristisch-satirisches Blatt, der „Mainzer Eulenspiegel“, den er ab März 1875 auf eigene Rechnung herausgab. Aus der Beschäftigung mit der Geschichte, der die besondere Liebe des vielseitig interessierten Journalisten gehörte, ging seine erste historische Arbeit „Die Revolution zu Mainz 1792 und 1793“ hervor; sie fand in der Öffentlichkeit eine gute Aufnahme. Im Mai 1875 nahm er an dem Gothaer Kongreß teil, auf dem sich die Anhänger der Lasalle'schen Richtung mit denen der Eisenacher Richtung der Sozialdemokratie vereinigten. Im gleichen Monat heiratete er die Tochter eines kleinen Handwerkers aus dem Odenwald. Die Erwartungen, die er an diese Ehe geknüpft hatte, erfüllten sich jedoch nicht. Er litt sehr unter dieser unglücklichen Verbindung, löste sie aber erst nach zwölf Jahren wieder. Die literarische Produktion seiner besten Jahre, bekennt er rückschauend, sei durch sie wesentlich beeinträchtigt worden. Im Herbst 1875 wurde Blos an das neugegründete „Hamburg-Altonaer Volksblatt“ berufen. In der Hansestadt, die damals noch die Zollfreiheit auf der Elbe besaß, hörten für ihn die gerichtlichen Verfolgungen auf, denen er bis dahin unentwegt ausgesetzt gewesen war. Dafür hatte er sich der täglichen Schmähungen der gegnerischen Presse zu erwehren, denen die schnell wachsende Abonnentenzahl des neuen sozialdemokratischen Organs ein Greuel war. Auf dem zweiten Parteikongreß in Gotha im August 1876 wurde Blos zum Reichstagskandidaten für das Fürstentum Reuß ältere Linie in Thüringen, das einen der kleinsten Wahlkreise des Reiches mit etwa 10000 Wählern bildete, bestimmt. Bei der in ihrer Mehrheit aus armen Webern und Bauern bestehenden stimmberechtigten Bevölkerung errang er am 10. Januar 1877 nach hartem Wahlkampf einen eindrucksvollen Sieg. Mit elf anderen Sozialdemokraten, unter ihnen Liebknecht, Bebel, Hasenclever, Auer und Bracke, zog er in den Reichstag ein, dem er, zunächst als „Benjamin“, als jüngstes Mitglied, abgesehen von einigen kürzeren Unterbrechungen, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, seit 1884 als Abgeordneter von Braunschweig, angehörte. Er entwickelte sich zu keinem großen Parlamentarier, wenngleich einige seiner Reden, so die bei der Behandlung des Jesuitengesetzes, auch außerhalb des Reichstags Beachtung fanden. Das 1878 von Reichskanzler Bismarck durchgesetzte Sozialistengesetz, das bis 1890 in Geltung blieb, traf die Partei und damit auch Blos hart. Das Gesetz ermöglichte es der Regierung, Vereine, die durch ihre sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Bestrebungen eine Gefahr für die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung bildeten, zu verbieten, ebenso sozialdemokratische Schriften, Zeitungen und Versammlungen zu untersagen. Dazuhin konnte die Regierung den „kleinen Belagerungszustand“ verhängen und unter ihm sozialdemokratische Agitatoren ausweisen. Die in dem Gesetz angedrohten Strafen waren unverhältnismäßig hoch. Am schlimmsten wirkten sich jedoch die polizeilichen Willkürmaßnahmen aus, denen nunmehr Tür und Tor geöffnet waren. Faktisch waren die Sozialdemokratische Partei und ihre Anhänger der Rechtlosigkeit preisgegeben. Blos stellt dies so dar: „Der wichtigsten staatsbürgerlichen Rechte beraubt, von der Polizei verfolgt und gequält, von Verrätern belauert und von Spionen umschnüffelt, stets in Gefahr, bei geheimen Zusammenkünften verhaftet und wegen geheimer Verbindung angeklagt zu werden, von ängstlichen Freunden wie mit der Pest behaftet gemieden usw., in steter Sorge, erwerbslos gemacht zu werden und meistens von schmerzlichen Entbehrungen heimgesucht“. Kaum war das Sozialistengesetz in Kraft getreten, da wurden die drei großen sozialdemokratischen Presseorgane „Vorwärts“, „Berliner Freie Presse“ und „Hamburg-Altonaer Volksblatt“, die zusammen annähernd 50000 Abonnenten hatten, verboten. Blos sah sich gezwungen, ein neues „neutrales“ Blatt, die „Gerichtszeitung“, zu gründen. Diese Zeitung gewann rasch 12000 Abonnenten und konnte sich zweieinhalb Jahre halten. Am 28. Oktober 1880 wurde über Hamburg der „kleine Belagerungszustand“ verhängt. Das gesamte Redaktions- und Expeditionspersonal sowie der Verleger der „Gerichtszeitung“ mußten innerhalb von 24 bzw. 48 Stunden das Gebiet der Hansestadt verlassen. Blos wandte sich mit seiner Frau nach Mainz und von da nach Bremen, wo er von 1882 bis 1883 die Redaktion des neuen sozialdemokratischen „Norddeutschen Wochenblatts“ innehatte. Tatkräftig trug er dazu bei, sozialdemokratische Zeitungen und Organisationen zu erhalten und den Mut der Verfolgten zu stärken. Angewidert durch die üble Verleumdungskampagne der sozialistenfeindlichen Publizistik, suchte er ein geistiges Refugium in der Beschäftigung mit der jüngeren Geschichte und im literarischen Schaffen. Anfang 1883 folgte er dem Ruf von Heinrich Dietz nach Stuttgart, um dort an dem von Dietz errichteten Verlag mitzuwirken, der in sich die Reste des Hamburger und des von Motteler in Leipzig geführten Parteiunternehmens vereinigte. Die württembergische Landeshauptstadt mit dem 1905 eingemeindeten Cannstatt, wo er zeitweise seinen Wohnsitz nahm, wurde ihm nach vieljähriger rastloser Wanderzeit zur neuen Heimat. Freilich blieb er auch hier vor harten Schicksalsschlägen nicht verschont: Im Herbst 1886 mußte er seinem fünfeinhalbjährigen Sohn Willy, dem zuliebe er seine längst zerrüttete Ehe noch aufrechterhalten hatte, ins Grab schauen. Neben der von Bruno Geiser geleiteten literarischen Zeitschrift „Neue Welt“ arbeitete er auch zeitweise an der von Karl Kautsky redigierten „Neuen Zeit“ mit. Seine humoristisch-satirische Veranlagung und seine poetischen Fähigkeiten kamen der zunächst in Hamburg erschienenen, nunmehr von H. Dietz in Stuttgart wieder ins Leben gerufenen Zeitschrift „Der Wahre Jakob“ sehr zustatten, deren Redaktion in den ersten Jahren ausschließlich in seiner Hand lag. „Der Wahre Jakob“ erfreute sich großer Beliebtheit und fand in ganz Deutschland Verbreitung. An geschichtlichen Arbeiten veröffentlichte Blos zwischen 1883 und dem Ersten Weltkrieg „Die Französische Revolution“ (1888) und „Die deutsche Revolution von 1848“ (1892). Außerdem gab er die „Denkwürdigkeiten des Generals Franz Sigel aus den Jahren 1848 und 1849“ (1902) heraus und veranstaltete eine Neuausgabe des Werks von Wilhelm Zimmermann „Geschichte des großen Bauernkriegs“ (1913). Er versuchte sich auch in Dramen und Romanen: In einem fünfaktigen Trauerspiel stellte er die Geschichte des Bürgermeisters Topler von Rothenburg dar. Seine Komödie „Der König Lustik“, die sich mit dem Leben von König Jérôme von Westfalen, dem Bruder Napoleons, befaßte, gelangte in Stuttgart zur Aufführung. In seinem Roman „Der Prinzipienreiter“ behandelte er die Affäre der Tänzerin Lola Montez mit dem letzten Fürsten von Reuß-Lobenstein-Eberndorf, Heinrich LXXII. Seine Vorliebe für das Anekdotenhafte in der Geschichte, die sich in allen seinen Werken zeigt, machte ihn zum anregenden geistreichen Gesellschafter. Über die Grenzen Deutschlands hinaus schloß er zahlreiche Freundschaften mit Männern, die im Kultur- und Geistesleben ihrer Zeit einen hervorragenden Platz einnahmen, so mit Wilhelm Raabe, mit Theobald Kerner, dem Sohn des Weinsberger Dichters Justinus Kerner, oder mit dem französischen Politiker und Literaten Hippolyte Carnot, dem Sohn des „Organisators des Sieges“ in den französischen Revolutionskriegen Lazare Nicolas Marguerite Carnot. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes, der einen zahlenmäßig starken Aufschwung der Sozialdemokratie einleitete, zog sich Blos immer mehr aus dem politischen Tageskampf zurück, um sich seinen historisch-literarischen Neigungen zu widmen. 1905 heiratete er die einem alten polnischen Adelsgeschlecht entstammende Tochter eines preußischen Oberstabsarztes, Anna Tomasczewska (1866-1933). Die Ehe mit der politisch wie literarisch gleichermaßen interessierten und engagierten Frau hat ihm sehr viel gegeben. 1914 und 1919 erschienen die zwei Bände seines autobiographischen Werks „Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten“, in dem er in einer sehr anschaulichen, flüssigen Sprache sein Leben, insbesondere aber seinen politischen Werdegang bis zum Jahr 1890 schilderte. 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs zögerte er keinen Augenblick, seine vaterländische Gesinnung unter Beweis zu stellen. Entschieden trat er für die Bewilligung der Kriegskredite ein. Auf einer Versammlung in Karlsruhe bekannte er: „Ich bin vor allem Deutscher und bin stolz, ein Deutscher zu sein“. Er machte kein Hehl daraus, daß er sich zuerst als Deutscher, in zweiter Linie als Republikaner und in dritter Linie als Parteimann empfinde. Die Reichstagssitzung im Herbst 1918, auf der Hindenburg und Ludendorff den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes für unumgänglich erklärten, verließ er tieferschüttert. Seine Gattin betätigte sich während der Kriegsjahre aufopfernd in der Kriegsfürsorge. Beim Ausbruch der Revolution in Württemberg stellte sich Blos seiner Partei mit Rat und Tat zur Verfügung. Bei einer Besprechung von Vertretern der Mehrheitssozialdemokraten (SPD) und der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) am 9. November 1918 im Landtagsgebäude trat er mit anderen dafür ein, die beiden sozialistischen Parteien sollten umgehend eine provisorische Landesregierung bilden. Dabei lag ihm fern, eine Funktion in dieser Regierung zu übernehmen. Doch als ihm Wilhelm Keil vorschlug, er solle zusammen mit einem Angehörigen der USPD den Vorsitz in dem provisorischen Kabinett führen, erklärte er sich nach einigem Zögern dazu bereit. Keil war überzeugt, daß Blos kraft seiner gefestigten, ausgleichenden Persönlichkeit wie kein anderer Führer der württembergischen Mehrheitssozialisten die Fähigkeit besitze, sich nach rechts wie nach links gleichermaßen durchzusetzen, und er hatte sich nicht getäuscht. Blos, der sich als meisterhafter Taktiker erwies, brachte es innerhalb von wenigen Tagen fertig, eine funktionsfähige Landesregierung zu etablieren. Hierbei war von entscheidender Bedeutung, daß am 11. November das provisorische Kabinett durch zwei bürgerliche Minister, Liesching (Demokrat) und Kiene (Zentrum), die der letzten am 8. November vom König berufenen, aber bereits zwei Tage später zurückgetretenen Regierung angehört hatten, sowie durch den nationalliberalen Abgeordneten Baumann erweitert wurde. Der Vorsitzende Vertreter der USPD in der Regierung, Crispien, trat gegenüber Blos völlig in den Hintergrund. Eine wesentliche Stütze der provisorischen Regierung war der Beamtenapparat, der unangetastet blieb und so die Kontinuität der Verwaltung sicherte, auf die die neuen Männer angewiesen waren, wenn sie sich den radikalen Kräften gegenüber behaupten wollten. Im Januar 1919 schlug der Chef der provisorischen Regierung, der sich mit seinen Kabinettsmitgliedern zeitweise im Turm des Stuttgarter Hauptbahnhofs verschanzt hatte, mit Hilfe der von dem Leutnant Paul Hahn aufgestellten Sicherheitskompanien den Spartakusaufstand nieder. Die USPD, die den Aufstand unterstützt hatte, wurde aus der Regierung ausgeschlossen, Blos schuf nicht nur in Württemberg Ruhe und Ordnung, sondern stellte später auch württembergische Truppen für die Beseitigung der Rätediktatur in Bayern zur Verfügung. Die Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung am 12. Januar 1919 brachte den von Blos repräsentierten Mehrheitssozialisten 52, den Demokraten, mit denen sich die Nationalliberalen zusammenschlossen, 38 und dem Zentrum 31 Mandate. Die drei Parteien, die die Regierung trugen, konnten damit vier Fünftel aller Mandate auf sich vereinigen. Die radikale Linke der USPD zählte nur 4, die aus Bürgerpartei, Bauernbund und Weingärtnerbund bestehende Rechte 25 Abgeordnete. Die Verfassunggebende Landesversammlung bestätigte am 29. Januar 1919 die bisherige provisorische Regierung und beauftragte Blos als „Ministerpräsidenten“ mit der Weiterführung der Regierungsgeschäfte. Fünf Wochen darauf, am 7. März, wurde der seitherige Ministerpräsident mit 100 von 129 Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt und am 4. Oktober 1919, am Vorabend seines 70. Geburtstags, auf die am 25. September verabschiedete neue Verfassung Württembergs vereidigt. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung wurden die Arbeiter- und Soldatenräte, die während der Revolution von 1918 eine beherrschende Rolle gespielt, aber inzwischen längst ihre politische Bedeutung eingebüßt hatten, in aller Form aufgehoben. Die gefestigten Verhältnisse Württembergs erlaubten es der Regierung Bloss – und dies erfüllte den Staatspräsidenten mit besonderem Stolz –, im März 1920 während des Kapp-Putsches Reichsregierung und Nationalversammlung in Stuttgart aufzunehmen und ihnen hier einen sicheren Aufenthalt zu garantieren. Bei der Wahl vom 6. Juni 1920 erlitt die SPD in Württemberg einen schweren Rückschlag. Trotz der Einwände von Blos und Keil beschloß die Landesleitung der Partei, sich an der neuzubildenden Regierung nicht zu beteiligen. Für das hohe Ansehen, das sich der bisherige Regierungschef erworben hatte, spricht, daß die bürgerlichen Parteien, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die SPD zum Verbleib in der Regierung zu bewegen, an Blos mit der Bitte herantraten, er solle sich weiterhin für das Amt des Staatspräsidenten zur Verfügung stellen. Blos lehnte jedoch in vornehmer Zurückhaltung und mit Rücksicht auf seine Partei ab. Er wollte nicht als „Kleber am Ministersessel“ erscheinen. Der neue Staatspräsident, der Demokrat Dr. Johannes Hieber, würdigte nach seiner Wahl die großen Verdienste seines Vorgängers um das württembergische Volk. Im besonderen hob er hervor, daß Blos trotz der Last des Alters sein Amt eineinhalb Jahre „mit Ruhe und Würde, mit Klugheit, Besonnenheit und Entschiedenheit“ geführt habe. Ganz ähnlich äußerte sich die Esslinger Zeitung in einem Gedenkartikel, mit dem sie am 7. Juli 1927 den Tod des ersten württembergischen Staatspräsidenten anzeigte: „ Die gewissenhafte Pflichterfüllung, sein politisches Taktgefühl, verbunden mit gereifter Lebenserfahrung und ernstem Pflichtbewußtsein, haben ihm die schwere Aufgabe erleichtert, und seine Anschauung, daß nur Arbeit, Recht und Ordnung unser armes Land und Reich wieder aus dem Elend herausführen können, bildete eine glückliche Grundlage für den Erfolg. Man kann es mit ruhigem Gewissen sagen, daß die verhältnismäßige Stetigkeit in der Entwicklung unseres Landes seit dem November 1918 zu einem großen Teil seiner maßvoll klugen Geschäftsführung zu danken ist...“. Blos gehörte noch bis 1924 dem Landtag an. Die literarisch fruchtbare Muße der wenigen ihm noch verbleibenden Lebensjahre ermöglichte es ihm, über die Zeit vom Ausbruch der Revolution in Württemberg bis zu seinem Rücktritt vom Amt des Staatspräsidenten im Juni 1920 eine umfassende Darstellung vorzulegen, die wesentliche Aufschlüsse über die Staatsumwälzung in Württemberg nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vermittelt. Neben kleineren geschichtlichen Beiträgen veröffentlichte er noch Arbeiten über den Untergang des Frankfurter Parlaments, d. h. das Ende des Rumpfparlaments 1849 in Stuttgart, und über den fränkischen Bauernführer des 16. Jahrhunderts, Florian Geyer. Im April 1927 erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Am 6. Juli 1927 starb er im Städtischen Krankenhaus Stuttgart-Bad Cannstatt. Die württembergische Regierung ließ ihm zwei Jahre nach seinem in allen Volkskreisen mit Trauer und Anteilnahme aufgenommenen Tod, auf dem Stuttgarter Pragfriedhof, wo er seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, ein von Professor Lörcher geschaffenes Denkmal setzen. |
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Quellen: | HauptstaatsA Stuttgart: E 130c Bü. 12; J 191 (Blos, Wilhelm). |
Nachweis: | Bildnachweise: Jahrbuch des Historischen Vereins „Altwertheim“ 1927, 43; HauptstaatsA Stuttgart: J 304/1; Ölgemälde (Maler: Oskar Obier) im Besitz des Staatsministeriums Baden-Württemberg (Villa Reitzenstein) |
Literatur + Links
Literatur: | Reichstagshandbuch 1877-1912; Anna Blos: Wilhelm Blos, in: Jahrbuch des Historischen Vereins „Altwertheim“ 1927, 41-45; Karl Weller: Die Staatsumwälzung in Württemberg 1918-1920 (1930), 121 ff., 241 ff. und 317 f.; Wilhelm Keil: Erinnerungen eines Sozialdemokraten Bd. 2 (1948), 69-210; NDB 2, 316 (Alfred Milatz); Wolfgang Benz: Wilhelm Blos. Der erste württembergische Staatspräsident (1918-1920), in: Beiträge zur Landeskunde. Regelmäßige Beilage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg 1968, Heft 5, 6-8. |
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