von Brandt, Ahasver Theodor 

Geburtsdatum/-ort: 28.09.1909; Berlin-Charlottenburg
Sterbedatum/-ort: 18.03.1977;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Historiker und Archivar
Kurzbiografie: 1929 Abitur am Kaiser-Friedrich-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg
1929–1934 Studium in Kiel, zunächst Jura, dann Geschichte, Germanistik u. Philosophie
1934 Promotion bei Fritz Rörig: „Der Lübecker Rentenmarkt von 1320–1350“
1933–1935 Tätigkeit als Journalist bei den „Kieler Neuesten Nachrichten“
1935–1936 Wiss. Assistent am Hist. Seminar d. Univ. Kiel
1936–1962 Tätigkeit am StA (seit 1937: StadtA) Lübeck, zunächst als Wiss. Assistent, 1938 Wiss. Hilfsarbeiter, 1941 Archivrat, 1946 kommissarischer, 1949 definitiver Vorstand, 1958 Archivdirektor
1939–1945 Kriegsdienst bei d. Marineartillerie u.a. am französischen Atlantik, zuletzt als Kapitänleutnant, dann Gefangenschaft
1949–1962 Vorsitzender des Vereins für Lübeckische Geschichte u. Altertumskunde
seit 1950 Lehrbeauftragter für Hist. Hilfswissenschaften an d. Univ. Hamburg
seit 1955 Honorarprofessor an d. Univ. Hamburg
1962 IX. 1 o. Professor d. Mittelalterlichen u. Neueren Geschichte unter bes. Berücksichtigung d. Historischen Hilfswissenschaften an d. Univ. Heidelberg
1965 o. Mitglied d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften
1974 IX. 30 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1937 Ingeburg, geb. Müllenhoff (1912–1984)
Eltern: Vater: Erwin (1875–1914, gefallen), Offizier
Mutter: Irmgard, geb. von Ditfurth (1880–1968)
Geschwister: ein Bruder
Kinder: 2; Georg Wilhelm (geboren 1940) u. Karl Friedrich (geboren 1944)
GND-ID: GND/118514415

Biografie: Folker Reichert (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 51-53

Brandt war zeitlebens ein aufrechter Mann. Als er zum ordentlichen Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften berufen wurde, ging er in seiner Antrittsrede mit sich selbst ins Gericht: Seine Herkunft aus einer altadligen brandenburgisch-preußischen Offiziers- und Beamtenfamilie und die Erfahrung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs nach 1918 hätten ihn wie so viele andere in seiner Generation dazu gebracht, dem NS-Ressentiment zu erliegen, nationale Wunschträume als die höchsten Werte des historischen Denkens zu verstehen und schließlich Hoffnungen in die NS-„Bewegung“ zu setzen.
Brandt studierte in Kiel, damals eine Hochburg der radikalen Studentenschaft, und trat schon 1930 der NSDAP bei. Er ging eher nachlässig mit der Mitgliedschaft um, zahlte keine Beiträge und musste sie Jahre später erneuern. Brandt war auch Mitglied der SA. Dass er nicht zu denen gehörte, die von Anfang an den verbrecherischen Charakter des NS-Herrschaftssystems durchschauten, hat er im Rückblick bedauert. Der nationale Zweck schien ihm zunächst die groben Mittel zu legitimieren.
Als heilsam erwies sich die Begegnung mit Fritz Rörig, der seit 1923 in Kiel lehrte. Brandt studierte zuerst Jura, wandte sich aber bald der Geschichte zu. Rörig machte ihn mit den Methoden der Mediävistik vertraut, lenkte sein Interesse auf die Geschichte der deutschen Hanse und brachte ihm als ehemaliger Archivar der Hansestadt Lübeck den lustvollen Umgang mit den Originalen nahe. Für Brandt erwies sich die „methodische und denkerische Zucht der Mittelalterforschung“ als wirksames Mittel gegen die „höchst unreifen zeitgeschichtlichen Neigungen“, die ihn mit dem NS-Gedankengut in Berührung gebracht hatten. Nach der Promotion arbeitete er kurz als Assistent am Kieler Historischen Seminar, bemühte sich aber bald um eine Stellung als Archivar. Da er über den dafür erforderlichen Abschluss bei der Berlin-Dahlemer Archivschule nicht verfügte, gab es Einwände. Doch Rörigs Einfluss machte die Anstellung beim Lübecker Staatsarchiv möglich. Das Rigorosum blieb die einzige wissenschaftliche Prüfung, der sich Brandt je unterzog.
Ein Vierteljahrhundert war Brandt am Lübecker Stadtarchiv tätig. Krieg und Gefangenschaft warfen ihn nicht aus der Bahn. Seit 1946 war er faktisch der Leiter des Archivs, wurde allerdings wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft erst 1958 zum Archivdirektor ernannt. Er sorgte für die Wiederherstellung des Archivs als funktionsfähige Behörde und wissenschaftliche Anstalt, belebte den „Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde“ und den „Hansischen Geschichtsverein“ neu und betreute 1961 noch den Umzug seines Archivs in ein neues Domizil. Auch für Kärrnerarbeiten wie das eigenhändige Verzeichnen von Archivgut, selbst dessen Verpackung, war er sich nie zu schade. Ein besonderes Anliegen war ihm die Rückführung der im Krieg ausgelagerten und in der Sowjetischen Besatzungszone aufbewahrten Bestände. Als er Lübeck verließ und an die Universität Heidelberg wechselte, bedang er sich aus, dieses Vorhaben weiter verfolgen zu können. Die Rückführung gelang allerdings erst nach seinem Tod.
Als erfahrener Praktiker nahm Brandt gleichzeitig einen Lehrauftrag für die Historischen Hilfswissenschaften an der Universität Hamburg wahr. In jedem Semester bot er je eine Vorlesung und eine Übung zu Diplomatik, Sphragistik, Heraldik, Paläographie oder Genealogie an. Daraus ging das Buch hervor, das seinen Namen weithin bekannt machen sollte. Es gibt wohl kaum einen Studenten der Geschichte, der nicht durch Brandts „Werkzeug des Historikers“ in die allgemeine Quellenkunde und die Historischen Hilfswissenschaften, also die Grundlagen der geschichtswissenschaftlichen Arbeit, eingeführt worden wäre. Das Buch hat zahlreiche Auflagen erlebt und gilt wegen seiner Anschaulichkeit, Präzision und Lesbarkeit nach wie vor als mustergültig und in seiner Art unerreicht.
Als Brandt 1962 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Neuere Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Heidelberg berufen wurde, spielten zwei Gesichtspunkte eine Rolle: Zum einen sollten die Historischen Hilfswissenschaften stärker in der Lehre verankert werden, und man setzte auf Brandts didaktische Fähigkeiten, wie sie im „Werkzeug des Historikers“ zum Ausdruck kamen und aus Hamburg berichtet worden waren. Zum andern sollte das räumliche Spektrum von Forschung und Lehre am Historischen Seminar um den europäischen Norden erweitert werden. Brandt war als Jugendlicher zweimal für mehrere Monate nach Schweden geschickt worden, beherrschte die Sprache des Landes und unterhielt enge Kontakte zur skandinavischen Geschichtsforschung. In seiner Heidelberger Antrittsvorlesung hob er die Bedeutung der nordischen Länder für die deutsche Geschichte hervor. Gleichzeitig erwartete die Philosophische Fakultät, dass Brandt beweglich genug sei, seine stadtgeschichtlichen Interessen auf den deutschen Südwesten zu übertragen.
Die Berufung angestoßen hatte ein Gutachten des Wissenschaftsrats. Gefördert wurde sie durch Fritz Ernst, seit 1937 Heidelberger Professor für Mittelalterliche und Neuere Geschichte und mit Brandt seit langem freundschaftlich verbunden. Als Ernst sich im Dezember 1963 aus bis heute ungeklärten Gründen das Leben nahm, hatte Brandt bis zu Peter Classens Berufung die mittelalterliche Geschichte alleine zu vertreten. Kompliziert wurde die Situation dadurch, dass er selbst einen ebenso ehrenvollen wie verlockenden Ruf an die Universität Hamburg erhielt. Brandt entschied sich schließlich für Heidelberg und wurde deshalb mit einem studentischen Fackelzug, einem der letzten am Ort, geehrt. Er bedankte sich mit dem Versprechen, seine Lehrtätigkeit auch weiterhin als „gegenseitige Belehrung“ auffassen und seine eigene Begeisterung für den Beruf des Historikers an die Studierenden weitergeben zu wollen.
Ungeachtet der gestiegenen Belastungen gehörten die 1960er-Jahre zu den fruchtbarsten in Brandts Leben. Er setzte seine Studien zur hansischen Geschichte fort, eine Sozialgeschichte des spätmittelalterlichen Lübeck zeichnete sich ab. Mit den Lübecker Bürgertestamenten wurde eine bis dahin wenig beachtete Quellengattung durch Regesten erschlossen, ihre Auswertung in groben Zügen skizziert. Brandts an Fritz Rörig anknüpfende Sicht der dt. Hanse als eines primär an ökonomischen Interessen orientierten und nur abhängig davon auch machtpolitisch agierenden Verbandes hat bis heute Bestand.
Alle Projekte Brandts waren langfristig konzipiert. Durch seine ruhige und gerade Art erwarb er sich den Respekt der Kollegen. Er wurde deshalb in zahlreiche Universitätsämter berufen. Von den Studierenden wurde er wegen seiner Dialogbereitschaft und Verlässlichkeit geschätzt. Seine Vorlesungen, Seminare und Kolloquien galten als ebenso gehaltvoll wie kurzweilig. Eine große Zahl von Schülern ließ sich von ihm anregen oder fand in ihm einen liberalen Betreuer. Zwar ging ihm der Ruf adliger Unnahbarkeit und nordischer Kühle voraus, im persönlichen Umgang freilich erwies sich die Unnahbarkeit als Korrektheit, die Kühle als Loyalität.
Umso tiefer war der Einschnitt in den späten 1960er-Jahren. Brandt erlebte die studentischen Unruhen des Sommers 1968 als Dekan der alten, ungeteilten Philosophischen Fakultät. Er hatte den Übergang zu neuen Ordnungen zu organisieren und gleichzeitig in den eskalierenden inneruniversitären Konflikten die Geltung der bestehenden rechtlichen Normen zu sichern. Er tat das mit Entschiedenheit und bemühte sich gleichwohl, auch der anderen Seite gerecht zu werden. Mehr als einmal geriet er zwischen die Fronten. Immer weniger entsprach die politisierte Gruppenuniversität seinem Verständnis der akademischen Korporation. Hinzu kam die fortschreitende Bürokratisierung des wissenschaftlichen Alltags, die ihn zunehmend störte. Oft kam er darauf zu sprechen. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt, dem Abschluss des 65. Lebensjahrs, ließ er sich emeritieren. Vorhaben, die liegen geblieben oder nur wenig gefördert worden, aber langfristig konzipiert waren, glaubte er nun abschließen zu können: Darstellungen zur Geschichte der skandinavischen Länder, zur Geschichte der Seefahrt und zur Sphragistik, vor allem aber die systematische Erfassung und Regestierung der Lübecker Bürgertestamente. Doch am 19. Februar 1975, auf dem Heimweg von einem Studentenprozess, bei dem er als Zeuge vernommen worden war, erlitt er einen Gehirnschlag mit Gehirnblutung. Er fiel in ein Koma, aus dem er nicht wieder erwachte. Zwei Jahre später starb Brandt. Sein wissenschaftliches Werk blieb ein Torso.
Quellen: Antrittsrede, in: Jb. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1966/67, 1968, 28-32; UA Heidelberg, PA 7630, H-IV-201/9–10, H-IV-201/14–16, H-IV-223/1, Protokolle u. Akten d. Philosophischen Fakultät 1960–62, 1967–69; A d. Hansestadt Lübeck, (wiss.) Nachlass Ahasver von Brandt, Vorarbeiten zum 3. Bd. der Lübecker Bürgertestamente.
Werke: Lübeck, Hanse, Nordeuropa. Gedächtnisschrift für Ahasver von Brandt, hgg. v. K. Friedland u. R. Sprandel, 1979, mit Schriftenverzeichnis 383-404. – Auswahl: Der Lübecker Rentenmarkt von 1320–1350, Diss. phil. Kiel 1934, 1935; Die Hansestädte u. die Freiheit d. Meere, in: Städtewesen u. Bürgertum als geschichtliche Kräfte. Gedächtnisschrift für F. Rörig, 1953, 179-193; Geist u. Politik in d. lübeckischen Geschichte. Acht Kapitel von den Grundlagen historischer Größe, 1954; Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 1958, 17. Aufl. 2007; Die Lübecker Knochenhaueraufstände von 1380/84 u. ihre Voraussetzungen. Studien zur Sozialgeschichte Lübecks in d. 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Zs.d. Vereins für Lübeckische Geschichte u. Altertumskunde 39, 1959, 123-202; Die Hanse u. die nordischen Mächte im Mittelalter, 1962; Die Hanse als mittelalterliche Wirtschaftsorganisation – Entstehung, Daseinsformen, Aufgaben, in: Die dt. Hanse als Mittler zwischen Ost u. West, Wiss. Abhandlungen d. Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 27, 1963, 9-38; Der Anteil des Nordens an d. dt. Geschichte im Spätmittelalter, in: Welt als Geschichte 23, 1963, 13-26; Regesten d. Lübecker Bürgertestamente des Mittelalters, Bd. 1: 1278–1350, 1964, Bd. 2: 1351–1363, 1973; Die gesellschaftliche Struktur des spätmittelalterlichen Lübeck, in: Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur d. mittelalterlichen Städte in Europa, Vorträge u. Forschungen 11, 1966, 215-239; Die nordischen Länder von 1448–1654, in: Handb. d. europäischen Geschichte, hg. von Th. Schieder, Bd. 3, 1971, 961-1002; Die nordischen Länder von d. Mitte des 11. Jahrhunderts bis 1448, ebd., Bd. 2, 1987, 884-917; Mittelalterliche Bürgertestamente. Neuerschlossene Quellen zur Geschichte d. materiellen u. geistigen Kultur, Sitzungsberichte d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1973, 3.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg, Bildersammlung; Lübeck, Hanse, Nordeuropa (vgl. Werke); K. Friedland/C. Haase, Ahasver von Brandt 1909–1977 (vgl. Literatur).

Literatur: H. Jakobs, Deutsche Geschichte des Nordens. Zum Tode des Heidelberger Historikers Ahasver von Brandt, in: RNZ vom 22.4.1977, 8; ders., Ahasver von Brandt 1909–1977, in: Ruperto-Carola 29/60, 1977, 110f.; ders., Ahasver von Brandt in memoriam, in: Zs. f. Stadtgeschichte, Stadtsoziologie u. Denkmalpflege 4, 1977, 140-142; O. Ahlers, Ahasver von Brandt, in: Zs.d. Vereins für Lübeckische Geschichte u. Altertumskunde 57, 1977, 181-184; ders., Ahasver von Brandt †, in: Der Archivar 30, 1977, 351-355; K. Friedland/C. Haase, Ahasver von Brandt 1909–1977, in: Hansische Geschichtsbll. 95, 1977, V–VII; P. Classen, Ahasver von Brandt 28.9.1909–18.3.1977, in: Jb. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1978, 1979, 71-73; ders., Ahasver von Brandt, in: DA 35, 1979, 712 f.; K. Friedland, Ahasver von Brandt. Berlin 28.9.1909 – Heidelberg 18.3.1977. Leben u. Werk, in: Lübeck, Hanse, Nordeuropa (vgl. Werke), 1-8; W. Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich u. d. Schweiz, 2. Aufl. 1987, 62f.; Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar, 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte u. Landeskunde, hgg. v. J. Miethke, 1992; W. Leesch, Die deutschen Archivare 1500–1945, Bd. 2, 1992, 77; DBE 1, 22005, 886; A. Graßmann, Brandt, Ahasver Theodor von, in: Biograph. Lexikon für Schleswig-Holstein u. Lübeck 12, 2006, 43-46; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933–1986, Heidelberg 2009, 132.
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