Gerstenmaier, Eugen Karl Albrecht 

Geburtsdatum/-ort: 25.08.1906;  Kirchheim (Teck)
Sterbedatum/-ort: 13.03.1986; Oberwinter (Remagen)
Beruf/Funktion:
  • evangelischer Theologe, CDU-Politiker, Angehöriger des Widerstands gegen das NS-Regime
Kurzbiografie: 1913-1921 Grund- und Realschule in Kirchheim (Teck)
1921-1924 „Kaufmannsstift“ in Kirchheim (Teck)
1924-1929 dort kaufmännischer Angestellter
1929-1930 Oberprima des Eberhard-Ludwig-Gymnasiums in Stuttgart, Abitur
1930-1935 Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie und Theologie an den Universitäten Tübingen, Rostock und Zürich
1935 Ordination, Lizenziat der Theologie (Dissertation „Die Frage der allgemeinen Offenbarung“), Prädikat „summa cum laude“
1935-1936 Stadtvikar in Gaildorf (Württemberg)
1936-1944 Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Kirchlichen Amt für Auswärtige Angelegenheiten bei der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin, 1939 Konsistorialrat
1936 lic. theol. habil. (Habilitationsschrift „Die Kirche und die Schöpfung“), Verbot der Ausübung der Venia legendi durch den „Stellvertreter des Führers“
1939-1942 Kriegsdienstverpflichtung zur Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes, uk-Stellung („unabkömmlich“), 1942-1944 zur Wirtschaftsabteilung der Abwehrabteilung des OKW, weiterhin uk-Stellung
1942-1944 Mitglied des Kreisauer Kreises, 20.07.1944 Verhaftung, 12.01.1945 Verurteilung zu sieben Jahren Zuchthaus, Transport ins Zuchthaus Bayreuth
1945 14.04. Befreiung durch die Amerikaner, Aufbau des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leiter bis 1951
1949-1969 Mitglied des Deutschen Bundestages (CDU), 1949-1953 Stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, 1953-1954 Vorsitzender, 1950-1954 Mitglied der Bundestagsdelegation in der Beratenden Versammlung des Europarates, 1952-1954 in der Gemeinsamen Versammlung der EGKS (Montanunion)
1954 16.11. Präsident des Deutschen Bundestages, Wiederwahl 1957, 1961 und 1965, Rücktritt am 31.01.1969
1977-1986 Vorsitzender der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages e.V.
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Auszeichnungen: Ehrendoktorate: Münster/Westfalen (D., 1952), Wittenberg (USA) (Dr. jur., 1956), Seoul (Korea) (Dr. phil., 1964). Großkreuz des Bundesverdienstkreuzes (1955)
1980 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
Verheiratet: 1941 (Dresden) Brigitte, geb. von Schmidt
Eltern: Vater: Albrecht Gerstenmaier, Betriebsleiter einer Klavierfabrik
Mutter: Albertine, geb. Lauffer
Geschwister: 4 Brüder
3 Schwestern
Kinder: 3
GND-ID: GND/118538837

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 1 (1994), 106-112

Der „Kontorbock in Kirchheim“, den Gerstenmaier acht lange Jahre besetzt halten mußte, war für den in die heile kleinbürgerliche Vorkriegswelt des schwäbischen Pietismus hineingeborenen ehrgeizigen und begabten jungen Mann eine sehr ungeliebte Sitzgelegenheit. Aber erst 1929 gelang ihm der Sprung in die höhere Schule, die ihm vorher aus finanziellen Gründen versperrt war. Nach intensivem nebenberuflichem Nachhilfeunterricht durch einen früheren Lehrer bestand Gerstenmaier die Aufnahmeprüfung für die Oberprima eines angesehenen Stuttgarter Gymnasiums. Ausgelöst hatte diese erste radikale Schwenkung in Gerstenmaiers Lebensweg die Lektüre des umstrittenen geschichtsphilosophischen Werkes „Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler, als der wißbegierige und vielseitig interessierte Kaufmannsgehilfe entdecken mußte, daß ihm die Voraussetzungen für das Verständnis dieses damals vielgelesenen Buches fehlten. Aber auch in den Kontorjahren gab es „Glanz und Fülle, Schwung und Richtung“ (Gerstenmaier): das Gemeinschaftserlebnis junger Leute im Christlichen Verein Junger Männer (CVJM), und die „christdeutsche“ Ausrichtung dieses Vereins ist ihm denn auch lebenslange Leitlinie geblieben. Nach einigem Herumtasten in den ersten Semestern hatte der Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes – eine Finanzierung des Studiums durch die Eltern war, bei sieben Geschwistern, ausgeschlossen – das Glück der Begegnung mit einem bedeutenden Lehrer, Friedrich Brunstäd, als dessen treuer Adept er bald in Gegensatz zu dem „Herrschaftsanspruch“ der dialektischen Theologie (Karl Barth) geriet, der noch durch die spätere Freundschaft Gerstenmaiers mit Emil Brunner verschärft wurde.
Überschattet wurden die Studienjahre von dem nach 1933 offen ausgebrochenen Kirchenkampf innerhalb der Evangelischen Kirche, der die deutsche evangelische Christenheit in „Bekennende“ und „Deutsche Christen“ aufspaltete. Gerstenmaier, „Fachschaftsleiter Theologie“ an der Rostocker Universität, nahm an diesem Kirchenkampf leidenschaftlichen Anteil. Schon 1934 entstand die erste Gestapoakte Gerstenmaier, als er den „Reichsbischof“ Müller, den Vertrauensmann Hitlers, öffentlich zum Rücktritt aufforderte. Prompt wurde er verhaftet. Das rasche Temperament Gerstenmaiers, aber auch seine Furchtlosigkeit zeigten sich bei dieser Gelegenheit, als er einen NS-Kommilitonen, der sich als Gestapospitzel verdingt hatte, zum Duell forderte – aber dieser kniff, und das gegen Gerstenmaier eingeleitete Disziplinarverfahren der Universität überstand er mit Hilfe eines scharfsinnigen Verteidigers, eines jungen Professors namens Walter Hallstein.
Die Verweigerung der Venia legendi war, nach ausgezeichneten Examina, für den habilitierten Dozenten der systematischen Theologie eine herbe und lebenslang nicht recht verwundene Enttäuschung. Aber inzwischen hatten sich, schon während der Vorbereitung der Habilitation, seine theologischen und kirchenpolitischen Neigungen in anderen Aktivitäten konkretisiert: als der Leiter des Außenamts der Evangelischen Kirche, Bischof Theodor Heckel, Professor Brunstäd bat, ihm einen geeigneten wissenschaftlichen Mitarbeiter für die Vorbereitung der Weltkirchenkonferenzen in Oxford und Edinburgh im Jahre 1936 zu benennen, schlug dieser Gerstenmaier vor, der sich sogleich mit der ihm eigenen Tatkraft den neuen Aufgaben zuwandte. Auch als er am Anfang des Krieges zum Auswärtigen Amt und später zur Abwehr dienstverpflichtet wurde, setzte er seine Tätigkeit im kirchlichen Außenamt fort, wo seine Aufgaben in der Pflege der Verbindungen zu den evangelischen Kirchen auf dem Balkan und in Skandinavien sowie im sich damals entwickelnden ökumenischen Bereich lagen. Selbstverständlich mußten seine Aufträge den Zeitumständen angepaßt werden, so lautete etwa die Aufgabenstellung für den Balkan „Abwehr kommunistischer Einflußnahmen in den Südostkirchen“. Zwei Diplomaten, Adam von Trott zu Solz und Hans von Haeften, wurden seine engen Freunde; sie sorgten für die uk-Stellung und die Genehmigung der – erstaunlichen – Reisen quer durch Europa, die Gerstenmaier während der Kriegszeit absolvierte.
Schicksalhaft war die Begegnung Gerstenmaiers im Juni 1942 mit dem Grafen Helmuth James von Moltke und dem Kreisauer Kreis, die sein Landesbischof Theophil Wurm, mit dem er stets enge Verbindung hielt, eingeleitet hatte. Die „Kreisauer“ – im wesentlichen Moltke, Yorck, Delp, Mierendorff, Haubach, Haeften, Trott, van Husen, Steltzer, Reichwein, Gerstenmaier – diskutierten in langen Nachtsitzungen detaillierte Pläne für die Nachkriegsordnung Deutschlands; ob Hitler gewaltsam beseitigt werden sollte, wie Gerstenmaier meinte, oder ob die Niederlage abgewartet werden sollte, blieb bis zum Schluß ein zwischen Gerstenmaier und Moltke oft disputiertes Thema. Als Ribbentrop seinem Staatssekretär von Weizsäcker 1942 mitteilte, daß das Auswärtige Amt keinerlei Beziehungen mehr zu Bischof Heckel und Konsistorialrat Gerstenmaier unterhalte, gelang dem Freundeskreis die Überstellung Gerstenmaiers zur Wirtschaftsabteilung der Abwehr. Die Verschwörer des 20. Juli wußten, daß Gerstenmaier nach dem Staatsstreich für jede von ihnen gewünschte Funktion zur Verfügung stehe; als Gerstenmaier am Spätnachmittag des 20. Juli 1944 in der Bendlerstraße erschien – gerufen von seinem Freund Graf Yorck in der Annahme des gelungenen Attentats –, war er allerdings nicht sehr begeistert, als er erfuhr, daß er nach dem Umsturz das Amt des „Militärbevollmächtigten für die Gebiete des Reichskirchen- und Reichserziehungsministeriums“ übernehmen solle. Aber all dies wurde durch den bekannten Ablauf der Ereignisse am 20. Juli gegenstandslos, Gerstenmaier wurde mit seinen Freunden in der Bendlerstraße verhaftet und wurde noch Ohrenzeuge der Hinrichtung von Stauffenberg, Olbricht und der anderen Verschwörer, ehe er in Ketten ins Gefängnis geschleppt wurde.
Für die Hektik des Ablaufs der Ereignisse in jenen Stunden anhaltender und lebensgefährlicher Hochspannung – lebt Hitler noch, ist er tot? – und das im Nachhinein kaum im einzelnen rekonstruierbare Geschehen ist ein Vorgang kennzeichnend, über den Gerstenmaier unter der Überschrift „Mit Bibel und Pistole“ in seiner Selbstbiographie berichtet: Ein hitlertreuer Offizier, Oberstleutnant Bolko Freiherr von der Heyde, sei mit der Pistole in der Hand auf Olbrichts Zimmer – Gerstenmaier saß im Vorzimmer des Hauptes der Verschwörung – losgegangen. „Ich griff nach meiner Pistole unter der Zeitung und brachte sie in Anschlag auf den Oberstleutnant. In diesem Augenblick wandte er den Kopf nach mir um. Mit einem Satz ging er hinter dem Stahlschrank in Deckung, der seitlich links von ihm im Zimmer stand.“ Von der Heyde sagte später aus, Gerstenmaier habe auf ihn geschossen, einmal, bei einer späteren Darstellung erhöhte er auf viermal. Gerstenmaier bestreitet entschieden, geschossen zu haben. Ein anderer Mitverschworener, Major Friedrich Georgi, der Schwiegersohn Olbrichts, gibt neuestens (1990) an, in dem besagten Zimmer sei überhaupt kein Panzerschrank gewesen. Außerdem seien fünf – nicht einer – namentlich bekannte Offiziere in das Zimmer eingedrungen.
Nach fast halbjährigem Aufenthalt im Gefängnis, während dessen Gerstenmaier auch der „verschärften Vernehmung“ – Prügel – unterzogen wurde, fand am 9.1.1945 die von Freisler geleitete „Volksgerichts“-Verhandlung gegen die Kreisauer statt, in der sich Gerstenmaier todesmutig und geschickt verteidigte. Er habe den „Depp“ gespielt, berichtete er später, und habe seine Teilnahme in Kreisau als „auf der Linie meiner amtlichen Tätigkeit in der ökumenischen Studienarbeit“ geschildert (Freisler: „Sie wollten sich wohl gegenseitig die Seelen wegkapern?“). Tatsächlich scheint Freisler im entscheidenden Punkt, der zur Hinrichtung der meisten Angeklagten führte, dem nicht angezeigten Hochverrat, einigermaßen unwillig der Argumentation Gerstenmaiers gefolgt zu sein: „Der Sachverhalt Moltke und Gerstenmaier liegt gleich, aber dem weltfremden Kirchenmenschen kann man gerade noch abnehmen, daß er sich über die Anzeigepflicht nicht klar war, dem internationalen Anwalt Moltke nicht.“ Auch gegen Gerstenmaier hatte der Oberreichsanwalt die Todesstrafe beantragt. Zu dem milden Urteil – sieben Jahre Zuchthaus – trug noch ein anderer Umstand bei, von dem Gerstenmaier zur Zeit der Verhandlung nichts wußte. Eine seiner Schwestern war mit der Ehefrau des stellvertretenden Reichspressechefs Helmut Sündermann befreundet, und dieser unterhielt dienstliche Beziehungen zu Freisler. Die Schwester wandte sich mit der Bitte um Intervention zugunsten Gerstenmaiers an ihre Freundin, und bei einer Zusammenkunft der Ehepaare Freisler und Sündermann kam das Thema zur Sprache. Freisler, überrascht, äußerte sich nicht, rief aber am Abend der Urteilsverkündung Frau Sündermann an und fragte, ob sie mit dem Urteil zufrieden sei. Ende Januar 1945 wurde Gerstenmaier in das Zuchthaus Bayreuth transportiert. Dort befreiten ihn die Amerikaner im April 1945, und mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes fand er den Weg nach Genf, von wo aus er sofort jene Unternehmung einleitete, mit deren Konzeption er sich schon während der Kriegszeit eingehend befaßt hatte: das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Dessen Geburtsstunde schlug am 30.8.1945 bei einer Versammlung der leitenden Persönlichkeiten der Evangelischen Kirche in Treysa. Innerhalb der dort beschlossenen „Grundordnung der Evangelischen Kirche“ wurde die Aufgabe des Hilfswerks festgelegt: „Linderung und Behebung der Notstände der Zeit“. „Wachstum und Leistung des Hilfswerks in den ersten Jahren sind aufs engste mit der Person seines Gründers und ersten Leiters Eugen Gerstenmaier verbunden“ (Herbert Krimm). Es gelang ihm, aus seiner Tätigkeit im Außenamt bekannte ausländische Quellen zu mobilisieren und so einen entscheidenden Beitrag im Kampf gegen die unvorstellbare Nachkriegsnot zu leisten. Besonders erfolgreich war er in seinen Bemühungen um die Schaffung von Arbeitsplätzen, indem er für die Einfuhr von Rohstoffen sorgte, die dann im Lande zu den dringend benötigten Fertigwaren verarbeitet wurden. Am 30.7.1951 schied Gerstenmaier aus dem Hilfswerk aus, blieb aber Präsident des im Rahmen der Organisation entstandenen Siedlungswerks, das Zehntausende von Wohnungen für Vertriebene und Bombengeschädigte bereitstellte. Inzwischen hatten sich neue Horizonte eröffnet. In seiner Selbstbiographie berichtet er unter der Überschrift „Ich beschloß es nicht“ über seinen „Platzwechsel“ in die Politik. Nun, eines Beschlusses bedurfte es kaum, Gerstenmaiers Position im öffentlichen Leben, sein hohes Ansehen als Gründer und Organisator des Hilfswerks bewirkten mit einiger Zwangsläufigkeit den Übergang des 43jährigen in jene Sphäre, die bis zum Ende seiner Tage für ihn Berufung und Bestimmung bedeuten sollte, aber auch Enttäuschung und, am Ende, Tragik.
Das Rennen in dem ihm angetragenen Bundestagswahlkreis Backnang-Schwäbisch Hall ging bei den Wahlen im Jahre 1949 ziemlich knapp aus, er erreichte nur 617 Stimmen mehr als sein liberaler Mitbewerber; aber in den folgenden vier Bundestagswahlen wurde dieser Wahlkreis zu seiner sicheren persönlichen Bastion. Er war auch kaum in Bonn angekommen, als schon das erste Angebot für ein Regierungsamt kam; Adenauer wollte ihn als Vertriebenenminister in seinem ersten Kabinett haben. Gerstenmaier jedoch war der Meinung, daß dieses Amt von einem Vertriebenen wahrgenommen werden sollte, schlug den schlesischen Politiker Hans Lukaschek vor und nahm in der ersten Reihe des Bundestagsplenums Platz. Im Wohnungsbauausschuß sah er ein lohnendes Betätigungsfeld, und als der Bundestag das für den Wiederaufbau der jungen Bundesrepublik unverzichtbare erste Wohnungsbaugesetz verabschiedete, war Gerstenmaier unter denen, die für diese von allen Parteien getragene Entscheidung gesorgt hatten. Mit der Funktion des stellvertretenden Vorsitzenden im Ausschuß für das Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten zeichnete sich eine Dominante seines politischen Spektrums ab, die sich in der Mitgliedschaft in Europarat und Montanunion fortsetzen sollte, 1953 in das Amt des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses führte und schließlich später in mehrfachen Angeboten kulminierte, das Amt des Außenministers zu übernehmen. Dieses Amt war, nach seiner eigenen Aussage, das einzige Regierungsamt, das ihn wirklich interessierte – er hat es nie bekommen.
Als die Bundesrepublik im Sommer 1950 assoziiertes Mitglied des Europarats wurde, war Gerstenmaier, ganz selbstverständlich, einer der führenden Abgeordneten der Bundestagsdelegation. Ihm fiel die heikle Aufgabe zu, die erste deutsche Rede in dieser ersten europäischen Organisation zu halten. Thema: „Notwendigkeit eines deutschen Beitrags zur europäischen Verteidigung“ – gerade fünf Jahre nach der deutschen Katastrophe, angesichts des die Welt aufschreckenden Koreakriegs und des sich immer mehr verhärtenden kalten Krieges ... Es gehörte schon eine Portion außerordentlicher Courage dazu, vor die Delegierten der westeuropäischen Länder – viele von ihnen waren in deutschen KZs – hinzutreten und ihnen frei heraus zu erklären: „Ich hielte es für dumm und ehrlos dazu, wenn wir verlangen würden, daß die anderen für uns etwas täten, was wir selbst zu tun nicht bereit sind.“ Im Bundestag setzte er sich nachdrücklich für den Abschluß des Wiedergutmachungsabkommens mit Israel ein und forderte als Sprecher seiner Fraktion dazu auf, „das zu tun, was Ehre und Gewissen uns gebieten“. Der überraschende Tod des Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers hatte für Gerstenmaier eine neue und diesmal die endgültige Kehre in seiner politischen Laufbahn zur Folge. Als Ehlers’ Nachfolger setzte er das, was dieser mit seiner „stilbildenden Kraft“ (Carlo Schmid) begonnen hatte, zielbewußt und energisch fort und brachte es vor allem zustande, dem anfänglichen Regierungsübergewicht in der Adenauer-Ära ein Eigengewicht des zentralen Verfassungsorgans Bundestag entgegenzustellen, das auf eine vernünftige Balance der staatlichen Gewalten zielte. Dabei war der Beginn seiner Amtszeit nicht sehr vielversprechend; er wurde mit Ach und Krach im dritten Wahlgang erst gewählt (mit 204 Stimmen bei 15 Enthaltungen und 190 Stimmen für seinen Kontrahenten Ernst Lemmer), weil die Führung seiner Fraktion offensichtlich versäumt hatte, die in solchen Fällen übliche Abstimmung mit den anderen Fraktionen herbeizuführen. Das Wahlergebnis änderte sich aber, wie im Wahlkreis, bei den folgenden drei Präsidentenwahlen, wo er Mehrheiten zwischen 75 und 92 % erhielt. Gerstenmaier führte als sparsamer schwäbischer Hausvater ein strenges Regiment. In den oft turbulenten Plenarverhandlungen gab es nie den geringsten Zweifel daran, wer Chef im Hause war. Seine Autorität war unbestritten, sie war allerdings zeitweise von Selbstherrlichkeit nicht weit entfernt. In besonders spannungsreichen Situationen pflegte er in der dritten Person von sich zu sprechen: „Der Präsident entscheidet jetzt“, und damit hatte es sein endgültiges Bewenden. In die oft verwickelten prozeduralen Geschäftsordnungsfragen fand er sich schnell hinein, schon sein Freund Graf Moltke hatte die „kristallklare Art von Gerstenmaiers Denkapparat“ bemerkt. Populär im eigentlichen Sinne war er wohl nicht, über eine „Hausmacht“ ergebener Anhänger verfügte er nie, und die Angebote auf Übernahme der Ämter des Bundeskanzlers oder des Außenministers kamen bezeichnenderweise von der FDP, der CSU oder der SPD, weniger aus seiner eigenen Fraktion. „Der einzige, der sich ... immer wieder offen mit dem Kanzler (Adenauer) anlegte, war Bundestagspräsident Gerstenmaier. Es schlug ihm nicht zum Heil aus“ (Hans-Peter Schwarz). Adenauer wußte den „widerborstigen Schwaben“ (Carlo Schmid) auf dem Präsidentenstuhl, abseits von der Regierungsverantwortung, gut aufgehoben. Zuletzt verzichtete Gerstenmaier bei Bildung der Großen Koalition im Jahre 1966 auf das Außenministerium, aber „nicht aus freien Stücken“, sondern weil der Koalitionspartner SPD das Amt beanspruchte. Seine Leistung als Bundestagspräsident besteht vor allem darin, daß er, wenn auch von manchen nur widerwillig akzeptiert, innerhalb des Hauses ein Wir-Gefühl zu schaffen wußte, das in dem parlamentarischen Gegenüber zunächst den Kollegen und dann erst die trennenden parteipolitischen Schranken sah. In diesem Zusammenhang nannte er den Art. 38 des Grundgesetzes, der die freie Gewissensentscheidung des Abgeordneten fordert, den „Polarstern des freiheitlichen Parlamentarismus“.
Aus der aktiven Politik hat sich der zur strikten Neutralität verpflichtete Bundestagspräsident nie verabschiedet. Als Redner seiner Fraktion trat er allerdings, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, nur selten, fünfmal in über vierzehn Jahren, in Erscheinung, und auch die ihm gegebene Möglichkeit, als Sprecher des Hauses bei herausragenden Anlässen aufzutreten, nahm er nur sechsmal wahr. Aber dies waren jedesmal die Öffentlichkeit bewegende Ereignisse, das spektakulärste am 30.6.1961 rief gar „innen- und außenpolitische Schwierigkeiten“ (Adenauer) hervor. In den Mittelpunkt seiner Rede zum Abschluß der 3. Legislaturperiode hatte er die Idee eines Friedensvertrages und die Ablehnung eines „Separatfriedens mit Pankow“ gestellt: „Es ist sicher nicht mehr als billig, daß in einem Vertrag mit dem einen Deutschland Frieden geschlossen wird, mit dem auch Krieg geführt wurde.“ Als er 1959 als Kandidat für das Bundespräsidentenamt im Gespräch war, bezeichnete er dies, bei allem Respekt vor dem höchsten Staatsamt, als nicht sehr erstrebenswerten „goldenen Käfig“; daß „der Bundestagspräsident im silbernen Käfig über der politischen Kampfbahn hänge“, falle ihm schon schwer genug. Aber er hat die Käfigtüre mehr als einmal sehr abrupt aufgestoßen, auch als Stellvertretender Vorsitzender seiner Partei von 1956-1969. Bei seinen zahlreichen Reisen rund um den Globus mischte er im Gespräch mit den damals Mächtigen – etwa den Präsidenten Indiens, Pakistans und Ägyptens, Nehru, Ayub Khan und Nasser, dem Schah von Persien und dem König von Marokko und vielen anderen, Charles de Gaulle nicht zu vergessen – kräftig in der Außenpolitik mit. Afrika galt sein besonderes Engagement. Als erster Deutscher nach dem Krieg wurde er von einem amerikanischen Präsidenten – Harry Truman – im März 1948 empfangen.
Die Wiedervereinigung – er durfte sie nicht mehr erleben – und die Funktion der Hauptstadt Berlin waren für ihn nicht nur Lippenbekenntnisse. Er sorgte für den zügigen Wiederaufbau des Reichstags und berief zweimal, 1959 und 1964, die Bundesversammlungen zur Wahl des Bundespräsidenten nach Berlin ein, jedesmal gegen Widerstand aus den eigenen Reihen. 1964 erklärte er: „Die Treue zu dieser Stadt, zu unserem Volk und zu unserer eigenen Geschichte hat uns hierhergebracht!“ Mit den von ihm nach Berlin einberufenen zehn Bundestagsplenartagungen in der Zeit zwischen 1955 und 1965 unterstrich er auf seine Weise die Zusammengehörigkeit von Bund und Berlin. Seit der Berlinkrise des Jahres 1958 vervielfältigten sich die von den SED-Machthabern abgeschossenen Giftpfeile gegen die Präsenz eines bundesrepublikanischen Verfassungsorgans in West-Berlin. Sie richteten sich besonders gegen den die Tagungen einberufenden Bundestagspräsidenten, der ob seiner kompromißlosen Ablehnung von Kontakten in der Deutschlandfrage von Ulbricht und Grotewohl als „gefährlicher als Strauß“ eingestuft wurde. Daß dann ein früherer Fallschirmjägergeneral, dem Gerstenmaier bei seiner Entlassung aus der Gefangenschaft eine Starthilfe hatte zukommen lassen, sich zum Nachbeter der ostzonalen Anwürfe machte, indem er Gerstenmaier beschuldigte, daß er durch Verrat an seinen Freunden im Widerstand dem Todesurteil Freislers entgangen sei, ist eines der beschämendsten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Gerstenmaier mußte sich in einem sich über Jahre hinziehenden Prozeß gegen diese Vorwürfe wehren und wurde in jeder Weise rehabilitiert. Der General a.D. zog seine Vorwürfe mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück und zahlte eine Geldbuße. Aber die SED-Giftmischer ließen nicht locker, und 1963 bezichtigte der Anwalt des besagten Generals den Bundestagspräsidenten Gerstenmaier, seine akademischen Grade zu Unrecht zu führen. Auch diese Beschuldigung wurde voll und ganz widerlegt, aber in der Öffentlichkeit blieb ein gewisser Verdacht hängen, und Gerstenmaier sah sich veranlaßt, sich von der zuständigen Wiedergutmachungsbehörde im Bundesinnenministerium seine akademischen Grade bestätigen und die damit verbundenen gesetzlichen Wiedergutmachungsleistungen feststellen zu lassen: „... an Geld hatte ich keinen Augenblick gedacht. Kein Pfennig davon verblieb in meiner Hand. Den größeren Teil der unverzichtbaren Bezüge hatte ich schon verschenkt, ehe ich sie erhielt.“ Aber die Inanspruchnahme von ihm zustehenden Wiedergutmachungsleistungen – 281 000 DM – und die nachträgliche Zuerkennung des Professorentitels wurden ihm in der Öffentlichkeit verübelt. Prominente Mitglieder des Bundestages – unter ihnen Willy Brandt, Helmut Schmidt, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Martin Hirsch, für die Bundestagsfraktion der CDU/CSU der frühere Generalbundesanwalt Max Güde – äußerten sich in vorbehaltlosen Ehrenerklärungen, aber der Druck auf Gerstenmaier wuchs, und gewisse populistische Zeitströmungen, die im Jahre 1968 eine kurzlebige Resonanz erlangt hatten, beeinflußten die veröffentlichte Meinung zuungunsten Gerstenmaiers. Er entschloß sich am 23.1.1969 kurzerhand zum Rücktritt.
Die Überzeugung war allgemein, daß mit Gerstenmaier eine der stärksten politischen Potenzen der Bundesrepublik das Hohe Haus verließ. Seine Leistung als Präsident wurde hoch anerkannt. Mit ihm ging aber auch einer der glänzendsten Redner, die der Bundestag je hatte. Treffsicherheit des Ausdrucks, stilistische Prägnanz und echter Schwung der rhetorischen Bögen standen nur wenigen wie ihm zu Gebote. Das gilt auch für seine zahlreichen Aufsätze und Essays, in denen der Gründer von „Christ und Welt“ in ebenso bildhafter wie kräftiger Sprache für seine politischen Ziele focht. Aber seine Grundstimmung war oft unwirsch, verdrießlich, störrisch. Dies nahm viele gegen ihn ein, abgesehen davon, daß er bei der ungestümen Verteidigung seiner Interessen oft einen gewissen Mangel an Augenmaß erkennen ließ. Er selbst charakterisiert sich als „eben auch ein fehlerhaftes, nicht selten ungeduldiges und unbequemes Mannsbild“. Seine persönliche Tragik bestand darin, daß er, der deutsche Patriot, der im Kampf gegen Hitler Kopf und Kragen riskiert hatte und zu der kleinen Schar derer gehörte, die während der tiefsten Erniedrigung des deutschen Volkes ihre Würde bewahrten, wegen haltloser Vorwürfe und unter dem Einfluß eines „allzu willfährigen Zeitgeistes“, wie es in einer Ehrenerklärung seiner Fraktion hieß, aus der deutschen Politik ausschied. Sein Beitrag zum Wiederaufbau nach der Katastrophe des Jahres 1945 und zur Stabilisierung des freiheitlichen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland in den beiden ersten Jahrzehnten seines Bestehens ist ein unvergessenes Kapitel der deutschen Geschichte.
Werke: (Auswahl) Kirche, Volk und Staat (Hg.), Stimmen aus der Deutschen Evangelischen Kirche zur Oxforder Weltkirchenkonferenz (Berlin 1937); Albrecht Allman (Pseudonym), Frankreichs Protestantismus im Krieg (Berlin 1940); Hilfe für Deutschland (Frankfurt/M. 1946); Afrika 1955: Was wird aus Afrika?; Afrika baut neue Städte; Warum ich nach Afrika reiste (o.O. 1955); Reden und Aufsätze (1. Band Stuttgart 1956, 2. Band 1962); Die geistige Schicht im Massenstaat (Rede zur Einweihung des Eberhard-Ludwig-Gymnasiums in Stuttgart am 06.04.1957 [Manuskript in der Bibliothek des Deutschen Bundestages]); Deutschland in der weltpolitischen Situation der Gegenwart (Rede vor dem Landesparteitag der CDU Württembergs in Stuttgart 1958, Köln 1959); Die Verschleuderung des christlichen Namens? Eine Disputation mit Helmut Gollwitzer (Bonn 1960); Der Einfluß Frankreichs auf das deutsche Nationalbewußtsein (Rede in der Sorbonne, Paris, am 21.10.1964, Bulletin der Bundesregierung 1964 Nr. 158, 161); Die Nato-Reform im Sicherheitssystem der freien Welt (Vortrag im Centre d’Études de politique étrangere in Paris am 22.10.1964, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung); Neuer Nationalismus? Von der Wandlung der Deutschen (Stuttgart 1965); Konrad Adenauer, Ehrung und Gedenken (Stuttgart 1967); Der Überfall auf die Tschechoslowakei (Interview des Deutschlandfunks 1968, Manuskript in der Bibliothek des Deutschen Bundestages); Politik in der Kirche? (Berlin 1968); Streit und Friede hat seine Zeit, Ein Lebensbericht (Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1981); Das Haus in der Au, vom Großvater gebaut, in: Mein Elternhaus, Ein deutsches Familienalbum, hg. von Rudolf Pörtner (Düsseldorf-Wien 1984). Bibliographie: Veröffentlichungen vonD. Dr. Eugen Gerstenmaier über den Widerstand im Dritten Reich und über den 20. Juli 1944, in: F. von Schlabrendorff, Eugen Gerstenmaier im Dritten Reich (siehe Literatur); Bibliographie: Abgeordnete des Deutschen Bundestages über Parlament und parlamentarische Demokratie, in: Deutscher Bundestag, Verwaltung, Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste, Bibliographien (Nr. 55, Januar 1983, Eugen Gerstenmaier).
Nachweis: Bildnachweise: Gerstenmaier vor dem „Volksgerichtshof“ (1944), in: Alphons Matt, Hat es sich gelohnt? Gespräche und Dokumente über den Widerstand in Europa von 1930 bis 1945 (Zürich-München 1980), 62; Foto von Paul Swiridoff, in: Porträts aus dem politischen Deutschland, hg. von Günther Neske (Pfullingen 1968), 13; Fotos in: Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode (1949-1953); 2. (1953-1957); 3. (1957-1961); 4. (1961-1965); 5. (1965-1969), hg. vom Deutschen Bundestag, bearb. von der Bundestagsverwaltung.

Literatur: (Auswahl) Fabian von Schlabrendorff, Eugen Gerstenmaier im Dritten Reich, Eine Dokumentation (Stuttgart 1965); Hermann Kunst (Hg.), Für Freiheit und Recht, Eugen Gerstenmaier zum 60. Geburtstag (Stuttgart 1966); Richard Jaeger, Eugen Gerstenmaier +, Rede vor der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages; Rupert Schick (Hg.), Der Bundestagspräsident – Amt, Funktionen, Personen (Stuttgart 1987); Horst Ferdinand, Eugen Gerstenmaier, in: Reden, die die Republik bewegten (Freiburg 1988); Beate Ruhm von Oppen (Hg.), Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya (München 1988); Friedrich Georgi, Wir haben das Letzte gewagt ..., General Ulbricht und die Verschwörung gegen Hitler. Der Bericht eines Mitverschworenen (Freiburg 1990); Herbert Krimm, Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: RGG 3. Aufl. III. Bd. Sp. 323-326; Hans Christoph von Hase, Hilfswerk der EKD, in: LThK 2. Aufl. Bd. 5 Sp. 348; Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer 1957-1963, in: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenburg, Joachim C. Fest, Eberhard Jäckel (Stuttgart 1983); Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963-1969, in: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Stuttgart 1984, siehe oben); Eugen Gerstenmaier, Präsident des Deutschen Bundestages von 1954-1969, hg. von der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages (Bonn 1981); Bibliographie „D. Dr. Eugen Gerstenmaier in der Literatur über den deutschen Widerstand“, in: Schlabrendorff, Eugen Gerstenmaier im Dritten Reich (siehe oben). – Weitere Beiträge: WGL 1950, 1954, 1956, 1966, 1967; LbBW 5 Nr. 11630-11634, 7 Nr. 5971, 5972.
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