Grewe, Wilhelm Carl Georg 

Geburtsdatum/-ort: 16.10.1911; Hamburg
Sterbedatum/-ort: 11.01.2000; Bonn
Beruf/Funktion:
  • Lehrer des Völkerrechts, Diplomat
Kurzbiografie: 1917-1926 Realgymnasium (mit Abitur) Hamburg; Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Berlin, Freiburg i. Br., Frankfurt a. M.
1934 I. Juristische Staatsprüfung
1936 Promotion Dr. jur. Hamburg bei Ernst Forsthoff: „Gnade und Recht“
1939 II. Juristische Staatsprüfung
1941 Habilitation an der Universität Königsberg: „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“
1939 Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin
1943 außerordentlicher Professor an der Universität Berlin
1945 Vertretung eines Ordinariats an der Universität Göttingen
1947-1955 Lehrstuhl für Völkerrecht, Staats- und Verwaltungsrecht Universität Freiburg (1947-1949 Dekan)
1951-1955 Leiter der deutschen Verhandlungsdelegation für die Ablösung des Besatzungsstatuts
1953-1954 zugleich kommissarischer Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes
1954-1955 Beobachter der Bundesregierung bei den Viermächtekonferenzen in Berlin und Genf
1955-1956 Vorsitzender der Wahlrechtskommission beim Bundesminister des Innern
1955-1958 Ministerialdirektor und Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, 1956-1958 zugleich Stellvertreter des Staatssekretärs
1958-1962 Botschafter in Washington (1959 Sprecher der Delegation der Bundesrepublik Deutschland bei der Genfer Außenministerkonferenz)
1962-1971 Botschafter und Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der NATO
1971-1976 Botschafter in Tokyo
1974-1976 zugleich Botschafter bei der Mongolischen Volksrepublik
ab 1954 Mitglied des Ständigen Internationalen Schiedshofes im Haag
1962 Dr. h. c. des Middlebury College, Vermont, USA; Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht und der American Society of International Law
1977 Stellvertretender Vorsitzender der „Atlantik-Brücke“. Großes Verdienstkreuz mit Stern
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1. 1943 Weimar, Marianne, geb. Partsch (geb. 1913), Dr. jur., Prof. em. für Kommunikationspsychologie, Medienpädagogik mit -kunde der Universität Koblenz-Landau
2. 1958 Heidelberg, Gerty, geb. Winter (geb. 1929), Dipl.-Dolmetscherin
Eltern: Wilhelm (1876-1965), Kaufmann
Alwine, geb. Schultz (1872-1966)
Geschwister: Heinz (1909-1982), Kaufmann
Kinder: aus 1. Ehe Constanze (geb. 1946), Dr. jur., Professorin an der Universität Straßburg; Franziska (geb. 1949)
aus 2. Ehe Stefan (geb. 1960), Physiker; Carol (geb. 1961)
GND-ID: GND/118542109

Biografie: Paul Feuchte (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 114-123

„II se tait, mais on l’écoute encore.“ Er schweigt, aber man hört ihn noch. Mit diesen Worten verabschiedete der Doyen des NATO-Rates, André de Staercke, im März 1971 den deutschen Botschafter W. Grewe Dessen Stimme spricht heute nicht nur aus einer Reihe bedeutender wissenschaftlicher Werke, sie gibt auch Aufschluß über die große Ära der deutschen Außenpolitik unter den Kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger, an der Grewe wesentlich mitgewirkt hat, bis in die Anfänge der sozialliberalen Koalition Brandt/Scheel hinein.
Geschwiegen hat Grewe freilich zu vielem, solange er im aktiven Dienst stand, und so sind die Schriften über die Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit (1960) und über das „Spiel der Kräfte in der Weltpolitik“ (1970) nicht als „Erinnerungen“ gestaltet, die persönliche Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle erkennen ließen, sondern als Sachbücher mit gesammelten Vorträgen, Artikeln und Gutachten, im Bestreben, die Funktions- und Strukturgesetze der internationalen Politik zu systematisieren und zu einer Theorie zu verarbeiten, dies im Lichte der Erfahrung aus der politisch-diplomatischen Praxis. Diese amtsbedingte Enthaltsamkeit gab er auf, als die Schranken, die der aktive Dienst ihm auferlegte, fielen, in den 1979 erschienenen „Rückblenden 1976-1951“, die er als eine Mischung von Bericht, Analyse und Reflexion ansieht, wie es bei einem Autor naheliege, der zugleich Akteur und distanzierter Beobachter war. Auch Bilder enthält dieses Buch in Fülle, und es fehlt kaum einer der Großen auf der weltpolitischen Bühne, denen er begegnete und die er zum Teil gut kannte, sei es Kaiser Hirohito, der Außenminister der Sowjetunion Gromyko, Robert Schuman, Dean Acheson, Eden, Dulles, Eisenhower, Couve de Murville, Kennedy.
Die akademische Laufbahn Grewes nahm, nach den beiden juristischen Staatsprüfungen und der Promotion mit der Hamburger Dissertation über „Gnade und Recht“ zunächst den regelmäßigen Gang, der wegen eines Hüftleidens nicht durch Kriegsdienst unterbrochen wurde. Mit der Königsberger Habilitationsschrift „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“ wandte sich Grewe nun, aber keineswegs ausschließlich, dem Kern seiner Interessengebiete zu. Eine Dozentur an der Deutschen Hochschule für Politik, eine Professur in Berlin und die Vertretung eines Ordinariats an der Universität Göttingen gingen dem Ruf nach Freiburg voraus, wo er sogleich 1947 bis 1949 drei Jahre als Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät tätig war. Hier widmete er sich in der Forschung und Lehre neben dem Völkerrecht auch den geistigen Ursprüngen und Grundlagen des nationalen Verfassungsrechts und vergleichend dem Verfassungsrecht anderer großer Staaten. Dieser Fakultät gehörte er auch als Emeritus noch an, trotz mehrerer Rufe anderer Universitäten, nach Frankfurt 1948, Heidelberg und Kiel 1949, Tübingen 1950. Das Ansehen, das er sich in diesen Jahren in der Wissenschaft erwarb, ließ es ihm nicht leicht fallen, allen akademischen Ehrgeiz zu begraben und, wie sich dann ergab, Bundesbeamter in einem Bonner Ministerium zu werden.
Als ein „Abschied von der Universität“ in einem doppelten Sinne erschien es ihm im Rückblick, als er zum letzten Mal im Rahmen seiner alten Fakultät einer akademischen Feier beiwohnte und zum letzten Mal die deutsche Universität „in ihrem traditionellen Pomp sowohl wie in ihrem hohen geistigen Rang“ erlebte bei der Fünfhundertjahrfeier der Universität Freiburg im Juni 1957. In späteren Jahren fand er manche seiner Studenten nicht nur in Amt und Würden, sondern auch zur Prominenz in Wissenschaft und Politik aufgestiegen, so Werner Maihofer, Arnulf Baring, Günther Gillessen, Eberhard Jaeckel, Thomas Oppermann, um nur wenige zu nennen. Zu Vorträgen und einzelnen Lehrveranstaltungen kehrte er gerne in Freiburg an. Die Wissenschaft blieb seine geistige Heimat, ein fester Anker auch in der politisch orientierten Aktivität, die er nicht als Karrierediplomat angetreten hatte. Zu einer Rückkehr an die Universität Freiburg, die ihm angetragen war, konnte er sich angesichts der faszinierenden Aufgaben im auswärtigen Dienst freilich nicht entschließen. Sie blieb ihm aber ein Band zu seiner alles überwölbenden Völkerrechtswissenschaft.
Zu der Zeit, als Grewe nach Freiburg berufen wurde, bewegten die Nürnberger Prozesse, in denen die Siegermächte des II. Weltkriegs über die Aggression Deutschlands und Japans zu Gericht saßen, die Öffentlichkeit ebenso wie die Fachwelt. Dieses Vorgehen gegen die Hauptkriegsverbrecher sollte ein Werk der Gerechtigkeit und eine Grundlage der moralischen Wiederaufrüstung des deutschen Volkes sein. Es blieb aber umstritten, ob Tatbestände wie Angriffskrieg, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die durch das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 zwischen den vier großen Alliierten positiv-rechtlich festgelegt wurden, als Ausdruck des geltenden Völkerrechts gelten durften. Das forderte die deutschen Völkerrechtler zur Stellungnahme heraus. An der entbrennenden Diskussion beteiligte sich Grewe. Er legte die Schwächen der Anklage wegen Verbrechens gegen den Frieden bloß und bekannte sich als Gegner völkerrechtlicher Projekte, die der tatsächlichen Struktur des politischen Systems vorauseilen, und daher in der rauhen Wirklichkeit der Weltpolitik zum Scheitern verurteilt sind. Was er anzweifelte, war nicht ihre moralische Rechtfertigung, sondern eigentlich die Reife und Bereitschaft der Völker zu einem Ius gentium solcher Tragweite und Güte, und in der Tat haben die Nürnberger Urteile die von einigen, wie dem amerikanischen Ankläger Jackson erwartete Präzedenzwirkung nicht entfaltet. Grewe bejahte aber die Entwicklung der internationalen Ordnung mit einer weltumspannenden Sicherheitsorganisation, wirksamen Souveränitätsbeschränkungen und einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit. In diese Richtung wiesen die ersten verfassungsrechtlichen Ansätze in jener Zeit, die im Grundgesetz nachher weiter ausgebaut wurden.
Eine entscheidend neue Richtung nahm der Weg des Gelehrten, als Walter Hallstein, Staatssekretär im Bundeskanzleramt und mit der Leitung der „Dienststelle für auswärtige Angelegenheiten“ beauftragt, ihm im Frühjahr 1951 antrug, die Verhandlungen mit den drei Westmächten über die Ablösung des Besatzungsstatutes zu fuhren. Grewe, dem die Problematik der Besatzungsherrschaft hervorragend vertraut war, sagte nach einem Gespräch mit Adenauer zu. Er lernte den Kanzler bei diesem Anlaß kennen und war sich bald darüber klar, daß der Umgang mit dem eigensinnigen und selbstbewußten alten Herrn nicht einfach sein werde – eine Einsicht, die, wie er sagte, er nie zu korrigieren brauchte. Langsam errang er sein Vertrauen, die Zusammenarbeit gedieh.
1945 hatten die Alliierten die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen. Sie wurde, nachdem der Alliierte Kontrollrat funktionsunfähig geworden war, in den westlichen Zonen durch die Militärregierungen Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, danach durch die Alliierte Hohe Kommission ausgeübt. Auch das Inkrafttreten des Grundgesetzes hatte am Vorrang des Besatzungsrechts gegenüber dem deutschen Recht nichts geändert. In den zähen Verhandlungen, die jetzt folgten, wurde darum gerungen, diesen Vorrang einzuengen, was in nicht geringem Umfang in einem bedeutenden Vertragswerk gelang. Das vorläufige Ergebnis waren die Bonner Verträge vom 26. Mai 1952. Wegen ihrer Verknüpfung mit dem umstrittenen Projekt einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft sind diese Verträge in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht in Kraft getreten. In einer wesentlich veränderten Fassung wurden sie jedoch Bestandteil der Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 und traten zusammen mit diesem Vertragswerk, das den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Nordatlantik-Pakt und zur Westeuropäischen Union regelte, am 5. Mai 1955 in Kraft. Mit diesem Datum erlangte die Bundesrepublik formell ihre Souveränität und außenpolitische Handlungsfreiheit. Schon am 10. Juli 1952 hob der Kanzler im Bundestag Grewes hervorragende Beteiligung an dem Werk hervor, und zur Rechtfertigung seiner von der Opposition angegriffenen Konzeption berief er sich auch auf dessen eben erschienenen Aufsatz in der Zeitschrift „Außenpolitik“. Nach der „Berliner Konferenz“ der vier Besatzungsmächte zur Deutschlandfrage sprach er diesem als seinem Konferenzbeobachter am 5. März 1954 seinen herzlichen Dank „für die kenntnisreiche, umsichtige und zielbewußte Vertretung der deutschen Interessen“ aus, durch die er sich verdient gemacht habe.
Die Unterzeichnung des Deutschlandvertrages am 26. Mai 1952 beendete das Verfahren noch lange nicht. Die parlamentarische Auseinandersetzung brachte Grewe reiche Erfahrung im Umgang mit der gesetzgebenden Gewalt, wobei er aus der Stellung des im Dienste der Regierung stehenden Experten heraus keinen leichten Stand hatte, jedoch sich Respekt und Anerkennung zu verschaffen wußte. Die Verteidigung des Vertragswerks auch vor dem Bundesverfassungsgericht brachte keine dramatischen Höhepunkte. Weittragende Verzögerungen und auch Modifikationen ergaben sich nicht aus dem Verhalten der deutschen Instanzen, sondern aus der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch die französische Nationalversammlung. Die im Umgang mit Regierung, Parlament und auswärtigen Mächten gesammelten Erfahrungen bewogen Grewe, in der Wissenschaft Positionen zu beziehen, die der Regierung als dem „eigentlichen und berufenen Träger der auswärtigen Gewalt“ jenen Handlungsspielraum geben, der ihm zur Führung einer wirksamen Außenpolitik unerläßlich erschien.
Mit der Verfassungspolitik in Baden-Württemberg ergab sich eine gelegentliche Berührung, als es darum ging, den 1953 gefundenen Kompromiß in der Schulfrage durch einen Schriftwechsel zwischen Ministerpräsident Gebhard Müller und dem Auswärtigen Amt gegen Bedenken aus dem Reichskonkordat abzusichern. Der Briefwechsel diente der Vorbereitung einer konkordatsgemäßen Auslegung der Verfassung im Rahmen von Kontakten des Bundeskanzlers mit dem Päpstlichen Nuntius. Auch im „Konkordatsprozeß“ vor dem Bundesverfassungsgericht, bei dem die Vereinbarkeit des Niedersächsischen Schulgesetzes mit dem Reichskonkordat zur Entscheidung stand, ist Grewe (1956) aufgetreten.
Mit der damals wichtigsten außenpolitischen Aufgabe, die Beziehungen zu den Westmächten neu zu ordnen und die Wiedervereinigungspolitik auf eine tragfähige Staats- und völkerrechtliche Grundlage zu stellen, trat Grewe in den Kreis der Persönlichkeiten, die um Adenauer die deutsche Politik wesentlich zu gestalten beitrugen. Ab 1953 Leiter der Rechtsabteilung, ab 15. Juni 1955 als Ministerialdirektor der politischen Abteilung, der wichtigsten des Auswärtigen Amtes und Vertreter des Staatssekretärs Hallstein, erhielt er kurz nach der Ernennung Heinrich von Brentanos zum Bundesminister des Auswärtigen auch formal die Position, die ihm erlaubte, sein wissenschaftliches Können und sein „sicheres politisches Urteil“ (Karl Carstens) in die Waagschale zu werfen.
Das wird deutlich an seiner Teilnahme am Besuch des Kanzlers in Moskau im September 1955 und den Konsequenzen, die aus den überraschenden Ergebnissen dieses Besuches zu ziehen waren. Der Besuch lag inmitten einer Reihe von internationalen Konferenzen, nach der Genfer Gipfelkonferenz, der ersten Begegnung der westlichen Regierungschefs mit den obersten Sowjetführern, dem Ministerpräsidenten Bulganin und Nikita S. Chruschtschow, dem starken Mann im Kreml, die mit ihrer Entspannungskampagne in der westlichen Öffentlichkeit Eindruck machten. Von deutscher Seite war der Besuch, die erste eigenständige diplomatische Expedition in den Osten, zu deren Themen die Wiedervereinigungs- und Kriegsgefangenenfrage gehörten, vorsichtig vortastend mit begrenzten Zielen geplant und vorbereitet worden. Er geriet aber unter der raffinierten Regie der Russen zu einem spektakulären Ereignis. Den Sowjetführern kam es vor allem auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen an, die man bereit war mit dem Versprechen der Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen zu honorieren. Es ging ihnen darum, den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für ganz Deutschland zu brechen, und ihren Satellitenstaat DDR als gleichberechtigten Partner zu etablieren. Die diplomatischen Beziehungen konnten sie in einer Folge harter Verhandlungen, Gelage und Zwischenspiele schließlich erreichen. Adenauer rang sich zu dem schweren Entschluß durch, gegen dieses Zugeständnis die diplomatischen Beziehungen zu akzeptieren, ohne zugleich zur Wiedervereinigung Fortschritte zu erzielen.
Grewe bekennt, daß er zusammen mit Brentano und Hallstein sich gegen die Annahme dieses Vorschlags bereits beim gegebenen Stand der Verhandlungen ausgesprochen habe, aber Adenauer entschied anders. Konnte Adenauer 9628 Gefangene ihrem Schicksal in Sowjetlagern überlassen, wo doch die Russen von ihm nur einen einzigen Mann, den Botschafter, als Gegenleistung verlangten? So fragte Klaus Mehnert, der an jenem Tage mit einigen deutschen Pressekollegen viele Stunden auf dem Posten vor dem Spiridónow-Palais stand und der dann bald wieder nach Moskau zurückkehren konnte, als erster und zunächst einziger Korrespondent aus der Bundesrepublik. In seinen Augen war nun eine Weiche gestellt, die trotz tapferen Rückzugsgefechten fünfzehn Jahre später zur vollen Anerkennung der DDR führen sollte.
Schon auf dem Rückflug skizzierte Grewe eine Reihe der Fragen, die sich daraus ergaben, daß man diplomatische Beziehungen zu einer Großmacht unterhielt, die bereits solche Beziehungen mit dem anderen Teil Deutschlands pflegte, diesen also als Staat anerkannt hatte. Müßte man dies nun auch in Warschau, Prag, Budapest oder Kairo und Neu-Delhi hinnehmen? Adenauer sagte dazu am 22. September 1955 vor dem Bundestag: „... daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der ‚DDR‘ durch dritte Staaten, mit denen sie offiziell Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.“ Diese Fragen beschäftigten fortan die deutsche Außenpolitik in ihrem Kern, und Grewe war an den Überlegungen maßgebend beteiligt. Eine von vornherein als offiziell gedachte Formulierung des Konzeptes, das schließlich als „Hallstein-Doktrin“ in die Presse und in die Literatur einging, gab es nicht, es sei denn man betrachtet ein Rundfunk-Interview Grewes als offiziell, von dem er nach dem Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung vom 13. Dezember 1955 folgendes wiedergibt: In diesem Interview stellte ich darauf ab, daß man nicht generell festlegen könne, wann eine völkerrechtliche Anerkennung vorliege, daß es auch Zwischenstufen' gebe; daß wir in intensivierten Beziehungen mit der DDR zwar einen unfreundlichen Akt uns gegenüber sähen, daß man darauf jedoch mit verschieden abgestuften Maßnahmen reagieren könne: „Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die noch vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen liegen. ... Aber soviel ist klar, daß diese ganze Frage für uns in der Tat eine sehr ernste Frage ist, und daß in dem Augenblick, in dem das Problem der Doppelvertretung Deutschlands bei dritten Staaten auftaucht, wir wahrscheinlich gar nicht anders können, als sehr ernste Konsequenzen daraus zu ziehen.“ Grewe sagt, dieses Interview „galt später als die einzige offizielle Formulierung der ‚Hallstein-Doktrin‘“ (Rückblenden, 253 f.).
Grewe legte Wert darauf, festzuhalten, daß die sogenannte „Doktrin“ die logische und notwendige Konsequenz einer Politik sei, die man mit dem Ausdruck „Alleinvertretungsanspruch“ versehen habe, und die infolgedessen nicht eigentlich das Denkprodukt eines einzelnen Autors sei, sondern aus der Zusammenarbeit all derer entstand, die damals mit der Deutschlandpolitik in erster Linie befaßt waren. Er betrachtete sie als ein praktisch äußerst wirksames Instrument, die internationale Anerkennung und Aufwertung der DDR zu verhindern. Als ein solches, wahrscheinlich nur begrenzte Zeit taugliches Mittel praktischer Politik, nicht als starres juristisches Dogma hat er sie stets angesehen. Als einziger Anwendungsfall während der Tätigkeit Grewes im Auswärtigen Amt ist der Abbruch der Beziehungen zu Jugoslawien im Oktober 1957 eingetreten. Das Kalkül mit der harten Linie gegenüber Jugoslawien erwies sich als „zutreffend, denn bis auf das kommunistische Kuba möchte zu Lebzeiten Adenauers kein anderer Staat profitable Beziehungen zur geachteten Bundesrepublik gegen eine Anerkennung des Regimes in Ost-Berlin eintauschen“ (Hans-Peter Schwarz).
Im Rahmen von Änderungen an der Spitze des Auswärtigen Amtes äußerte Grewe, der als Nachfolger Hallsteins – dieser war zum Präsidenten der EWG gewählt worden – vorgesehen war, den Wunsch, für einige Jahre auf einem Auslandsposten verwendet zu werden. Im Januar 1958 wurde er zum Botschafter in Washington ernannt. Sein Nachfolger als Leiter der Politischen Abteilung war Karl Carstens. Das befriedigte ihn sehr, wobei er nicht voraussehen konnte, daß er nach Bonn nicht mehr zurückkehren würde, sondern bis zum Ende seines Dienstes Botschafterposten, in Washington von 1958 bis 1962, bei der NATO in Paris und Brüssel von 1962 bis 1971 und in Tokyo von 1971 bis 1976 einnehmen würde. Die Berufung nach Washington war für ihn der beste und interessanteste Auslandsposten, den er sich wünschen konnte, auch als Vertrauensbeweis Adenauers.
In der Sowjetunion herrschte Nikita S. Chruschtschow, dessen dräuende Deutschlandpolitik wie eine schwere Gewitterwolke über dem Weltfrieden hing. Seine neun Regierungsjahre waren angefüllt mit dramatischen weltpolitischen Ereignissen, die auf sowjetische Initiativen oder energische sowjetische Reaktionen zurückgingen: Intervention im Suezkonflikt, Niederschlagung des ungarischen Aufstands, Berlin-Krise, Wirren im Kongo, Konflikt mit den Chinesen, Kuba-Krise. Die westliche Allianz brachte das in große Unsicherheit; angemessene Antworten – Tendenzen zu Appeasement oder Konfrontation – waren umstritten, die Beziehungen zwischen den befreundeten Mächten von Sorge und nicht selten auch Störungen des Vertrauens belastet. Bereits am 2. Dezember 1959 erwähnt Adenauer im Gespräch mit General de Gaulle einen Bericht Grewes über einen sich deutlich abzeichnenden Wechsel in der außenpolitischen Haltung der Vereinigten Staaten. Er nennt Grewe einen klugen und sorgfältigen Beobachter, dessen Ausführungen er größten Wert beilege und glaube, daß sie richtig seien. (Adenauer, Erinnerungen 1959-1963, 17).
Chancen für eigenständiges Handeln, das zu historischem Ruhm hätte führen können, boten sich selten oder nie. Das Atmosphärische geschickt und einfühlsam zu pflegen, war ganz wichtig, und so war es für Grewe eine große Genugtuung, als Lyndon B. Johnson, Vizepräsident, nach einem Besuch des Kanzlers in Texas im April 1961 ihm schrieb „that a new level of personal understanding had been reached on both sides. Your own role in bringing this about was one of outstanding importance from first to last and I want you to know my feeling that the Texas phase of the visit could hardly have gone so well without you.“ Gewiß fehlte es nicht an glanzvollen Höhepunkten, Anlässen zu Vorträgen vor einem illustren Kreis, zu Rundfunkansprachen, Interviews, belohnt mit anerkennender Aufmerksamkeit und gehobenem Ansehen, gab es Gespräche mit Mächtigen und ihren Beratern.
Am 27. November 1958 stellte Chruschtschow das erste Berlin-Ultimatum mit dem Vorschlag, einen Friedensvertrag für zwei deutsche Staaten abzuschließen, Berlin in eine „Freie Stadt“ umzuwandeln und die Truppen der Westmächte abzuziehen. Dahinter stand die Drohung, die Kontrolle über die Zugangswege nach Berlin an die DDR zu übergeben.
In einem Vortrag vor dem National Press Club in Washington am 12. Dezember 1958 skizzierte Grewe die Grundpositionen, in denen die Bundesregierung und die drei Westmächte übereinstimmten. Die notwendigen Reaktionen faßte er – vorbehaltlich der Entscheidungen der Außenminister- knapp und hart dahin zusammen, daß es über Berlin nicht viel zu verhandeln gebe, daß die monströse Situation Berlins nur durch die Wiedervereinigung beseitigt werden könne, über die man aber nicht auf der Grundlage eines sowjetischen Ultimatums verhandeln könne. Der Vortrag schloß mit versöhnlichen Worten gegenüber der Sowjetunion.
So kam es dem deutschen Botschafter zu, der amerikanischen Öffentlichkeit verständlich zu machen, welche Konsequenzen diese Vorschläge haben würden, und weshalb sie nicht akzeptabel seien. In diesem Zusammenhang stand ein Besuch des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Willy Brandt, der ungewöhnlich freundlich und aufmerksam empfangen wurde, und dem Grewe jede Unterstützung gewährte, was dem Repräsentanten des bedrohten Berlin, nicht dem Parteipolitiker galt. Mit den günstigen Berichten über das glänzend inszenierte Auftreten Brandts machte er sich in Bonn freilich nicht überall beliebt. Die Opposition wollte er fair behandeln. So nennt Alex Möller, der „Genosse Generaldirektor“, die ihm bei einer Amerika-Reise 1960 zuteil gewordene Unterstützung vorbildlich.
Unfreundlich aufgenommen wurde der offenbar mit wissenschaftlicher Genauigkeit ausgearbeitete sehr kritische Bericht der Botschaft über das Fazit der ersten hundert Tage der Kennedy-Regierung, aus dem eine recht negative Beurteilung der Lage in Washington herausgelesen wurde. Adenauer, der sich bei seinem Besuch gerade auf die Persönlichkeit des neuen Präsidenten eingestimmt hatte, war erschrocken und empört; er bat den Außenminister zu überlegen, ob eine Versetzung des Botschafters nicht sehr bald erfolgen kann. Dazu kam es nicht, noch nicht. Der Zorn legt sich. Einen solchen Bericht verfaßte Grewe nie wieder, mochte er sich in seinem Urteil zur Sache durch die weitere Entwicklung auch bestätigt fühlen. Er dachte an die Maxime Talleyrands: Jamais trop de zèle.
Ein knappes Jahr später befanden sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen wegen der Berlin-Krise in einer besonders schwierigen Phase. Die Amerikaner schienen zu einem Entgegenkommen gegenüber der Sowjetunion bereit, das von einigen deutschen Politikern nicht nur als gefahrlich, sondern sogar als Schwenkung der amerikanischen Politik bezeichnet wurde. Kanzler und Außenminister Schröder stimmten, wie Grewe berichtet, nicht mehr voll überein, und der an Instruktionen gebundene, auf genaue Informationen angewiesene Botschafter, der Bedenken der Bundesregierung gegen eine Reihe der amerikanischen Vorschläge vorzubringen hatte, geriet zwischen die Mühlen. Eine Indiskretion bezüglich der amerikanischen Vorschläge, die damit in eine hellwache Öffentlichkeit drangen, kam hinzu. Grewe sah keinen anderen Ausweg, als den Außenminister um seine Ablösung von seinem Posten in Washington zu bitten: „Ich habe Grund zu der Annahme, daß die amerikanische Regierung mich für ein ihrer Berlin-Politik entgegenwirkendes Element hält und es daher neuerdings vorzieht, Wege der Konsultation zu gehen, die an mir vorbeiführen. ..“ Er habe den Eindruck, daß seine Stellung erschüttert sei, und er in der Zukunft kaum noch in der Lage sein werde, die Ansichten der Bundesregierung mit ausreichender Autorität zu vertreten. Ohne daß dieser Brief beantwortet wurde, kündigte Adenauer am 7. Mai 1962 auf einer Pressekonferenz in Berlin die Abberufung an. Er fand die plausible Formel: „Zuweilen, wenn es zu Komplikationen kommt, muß der Unschuldige leiden.“ Aber das persönliche Verhältnis dürfte davon unberührt geblieben sein, und in den „Rückblenden“ findet man eine noble Charakteristik Adenauers. Das politische Urteil Grewes über diese Zeit der Kanzlerschaft fiel indessen weniger günstig aus.
Den Posten als Ständiger Deutscher Vertreter beim NATO-Rat, den Grewe ab 1962 achteinhalb Jahre einnehmen sollte, betrachtete er als einen Posten, der gleichsam auf die Substanz des Politischen reduziert war, da ihm alle jene protokollarisch-zeremoniellen und rituell-gesellschaftlichen Verpflichtungen fehlten, die auf einem bilateralen Botschafterposten ungemein viel Zeit beanspruchen. Diese Tätigkeit entsprach in besonderem Maße seinen Neigungen und Talenten. In Paris bezog er das Haus, in dem einmal Claude Debussy gewohnt hatte. Daß seine Stimme im Rate galt, kam beim Abschied überzeugend zum Ausdruck. Die interessanteste Informationsreise führte die Botschafter im Mai 1963 quer durch die Vereinigten Staaten zu Befehlszentren der US-Streitkräfte. Die Reise endete im Weißen Haus mit der letzten Begegnung Grewes mit Kennedy, der ihn ins Gespräch zog, mit strahlender Freundlichkeit, „als hätte es niemals Differenzen gegeben“. Grewe wußte das zu schätzen.
Die strategischen Konzeptionen der verbündeten Mächte wie auch der eigenen Regierungen änderten sich unter jeweils veränderten politischen, wirtschaftlichen und technologischen Voraussetzungen mehr als einmal, ausgehend von einer Anfangsphase, in der die NATO der Übermacht der sowjetischen Landstreitkräfte einen starken „Schild“ konventioneller Streitkräfte entgegenzustellen gedachte, während zugleich das „Schwert“ der Nuklearwaffen die Angriffskeile und den Nachschub des Angreifers ausschalten sollte, hinüber zu Konzeptionen und Systemen, die sich mit Stichworten wie Entspannung, Rüstungskontrolle und -begrenzung, kollektive Sicherheit nur andeuten lassen.
Die Nuklearfrage beschäftigte Grewe mehr und intensiver als irgend ein anderes politisches oder militärisches Problem. Hier sammelte er bittere Erfahrungen und Lehren, zeigten sich die inhärenten Schwächen der internationalen Position und Rolle der Bundesrepublik und die Grenzen, die ihre engsten politischen Freunde und Verbündeten ihr setzten. Ein gescheitertes Projekt war die von amerikanischer Seite ins Spiel gebrachte multilaterale Atomstreitmacht innerhalb der NATO (MLF). Obwohl er zunächst nicht vorbehaltlos von dem Plan überzeugt war, übernahm Grewe pflichtgemäß die Verhandlungsführung und engagierte sich mit ganzer Kraft für seine Verwirklichung, auch öffentlich in Wort und Schrift. Es ging darum, durch „nuclear sharing“ einen höheren Grad von Mitbestimmung und Mitverantwortung der europäischen Bündnispartner auf dem Gebiet der Kernwaffenstrategie, eine gewisse Nuklearisierung der hauptsächlich konventionell gerüsteten NATO und damit eine moralisch und psychologisch stabilisierende Wirkung im Bündnis zu erzielen. Das Projekt scheiterte in erster Linie, aber nicht allein an Frankreich und Großbritannien.
Ebenfalls über mehrere Jahre, bis in die Schlußphase der Mitgliedschaft im NATO- Rat, liefen die Verhandlungen über den Atomsperrvertrag, den die Sowjetunion, USA und Großbritannien am 1. Juli 1969 schlössen, ohne Beteiligung der Atommächte Frankreich und China. Die deutsche Unterschrift folgte am 28. November 1969 kurz nach Beginn der Kanzlerschaft von Willy Brandt. Gegen diesen Vertragsschluß wandte sich Grewe entschieden, solange die deutsche Politik noch nicht festgelegt war, und er noch einen gewissen Spielraum hatte. Ein wirksames Instrument zur Verhütung eines Atomkriegs sah er darin nicht, vielmehr ein Instrument der Supermächte, den Vorsprung an Macht, den sie besitzen, vor einer Aushöhlung zu schützen. Der Vertrag schaffe ein „Zweiklassenvölkerrecht“, in dem Deutschland in einen minderen Status versetzt wird. Die in den Pariser Verträgen von 1954 und mit der deutschen Wiederbewaffnung errungene Gleichberechtigung sah er preisgegeben. „Das nukleare Wettrüsten der Supermächte wird durch diesen Vertrag nicht behindert, ebenso wenig wie die Entstehung neuer Kernwaffenstaaten verhütet und die Gefahr eines Kernwaffeneinsatzes in regionalen Konflikten durch ihn ausgeschlossen wird.“ Auch bestand die Gefahr wirtschaftlicher und industrieller Nachteile für die Bundesrepublik in der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Eine Mahnung Grewes sollte überzeitlich gelten: Daß sich eine Bedrohung nicht an den Absichten des potentiellen Gegners, sondern daß sie an seinen tatsächlichen militärischen Kräften gemessen werden müsse (nicht an intentions, sondern capabilities). „Absichten können sich rasch ändern, die Verstärkung der Kräfte jedoch fordert Zeit. Ein kräftemäßiges Übergewicht kann auch auf die Absichten verändernd einwirken.“
Nach dem Abgang aus dem Bannkreis der westlichen Allianz steuerte er 1971 eine neue Aufgabe an in ruhigerem Fahrwasser, denn die fünf Jahre als Botschafter in Tokyo waren für ihn gewiß wertvoll und gewinnbringend als Quelle neuer Erkenntnis und Erfahrung auf einer terra incognita, aber ohne die dramatische Spannung, die das Vierteljahrhundert davor geprägt hatte. Der Wechsel kam unvorbereitet, im Rahmen eines Revirements des auswärtigen Dienstes, aber der 60-jährige bewies Spannkraft, nicht nur dadurch, daß er binnen weniger Wochen die Umgangssprache des Gastlandes soweit erlernte, daß er sich im täglichen Leben auch ohne Dolmetscher zurechtfinden konnte, und am 5. April 1971 finden wir ihn in einer pferdebespannten Karosse auf dem Weg zum Kaiserpalast, um dort sein Beglaubigungsschreiben zu überreichen, in einem Hofzeremoniell nach europäischem Muster. Ein anderes Bild vom November desselben Jahres zeigt die Ehepaare Grewe und Schmidt in Tokyo beim Besuch des Verteidigungsministers: Helmut Schmidt als Repräsentant einer Regierung, der nicht daran gelegen war, diesen Diplomaten, dessen hohe Reputation mit den Namen Adenauer und Hallstein verknüpft war, in einer der westlichen Hauptstädte oder gar in Moskau zu wissen, mochte er auch bei nicht wenigen Politikern der früheren Opposition Anerkennung und Sympathie finden.
Ein letztes Mal, im Februar 1974, hatte er ein Beglaubigungsschreiben zu überreichen, als die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zur Mongolischen Volksrepublik aufnahm, und der deutsche Botschafter in Tokyo zugleich in Ulan Bator akkreditiert wurde. Auch diese Mission übernahm er gerne, befriedigte sie doch sein lebhaftes Interesse an den Schauplätzen, auf denen sich folgenschwere Abschnitte der russischen Revolution abgespielt hatten: Sibirien und Mongolei. So findet sich unter den zahlreichen Bildern, die seine „Rückblenden“ schmücken, auch eines, das ihn beim Abschreiten einer Ehrenkompanie vor dem Gebäude des „Großen Volkshurals“ in Ulan Bator zeigt.
Der diplomatischen Bürden ledig, konnte er endlich ein Projekt wieder aufgreifen, das mehr als 40 Jahre zuvor in Ausschnitten das Thema seiner Habilitation gewesen war: Die Epochen der Völkerrechtsgeschichte. In einer Zeit, in der das System des überkommenen Völkerrechts bis in seine Grundlagen erschüttert worden ist, könne ein Zugang zu den bleibenden Strukturprinzipien völkerrechtlicher Ordnung nur auf geschichtlicher Grundlage erschlossen werden. Dieser Aufgabe wollte er dienen, und deshalb hatte er – 1939/40 – versucht, das Buch noch im Kriege zu veröffentlichen. Die beiden ersten Drucklegungen von 1943 und 1945 sind nie an die Öffentlichkeit gelangt. Erst 1984 und 1988 ist das Werk für jedermann zugänglich in ausgereifter, erweiterter Form erschienen. Hätte Grewe nur dieses und andere Bücher – auch die monumentale Quellensammlung der Fontes Historiae Iuris Gentium –, hätte er nur seine zahlreichen Abhandlungen, Referate, Vorträge verfaßt, hätte er sich beschränkt auf die Herausgabe von Zeitschriften, die Mitgliedschaft im Ständigen Internationalen Schiedshof im Haag, in Wissenschaftsorganisationen, ein Platz unter den hervorragenden Vertretern seines Faches wäre ihm sicher. Aber in den Dienst der praktischen Politik stellte er sein Wissen und seine Urteilskraft. Mit seinem Wissen von den Kräften der Geschichte und den Baugesetzen der völkerrechtlichen Ordnung konnte er beitragen zu abgewogenen Urteilen über die Erfordernisse und Chancen der Gegenwart. Warum kehrte er nicht an die Universität zurück? Trotz mancher Unbilden und Enttäuschungen und den starken Pflichtenbindungen des Diplomaten? Dazu hat gewiß der wenig verlockende Zustand der deutschen Hochschulen in den 1960er Jahren wesentlich beigetragen. Aber ebenso muß sein Verhalten bestimmt gewesen sein durch einen starken inneren Antrieb zum Gestalten an verantwortlicher Stelle, die Neugier, die Welt von vielen Seiten kennen zu lernen, und nicht zuletzt die Freude am Gefühl der erfüllten Pflicht. Daß der Hanseat, der auch in Königsberg studierte, ein Bewunderer des preußischen Staatswesens war, hat er nicht verschwiegen, und er verstand darunter das Preußen des Aufklärungszeitalters, der Bindung und Beschränkung des Absolutismus durch die Prinzipien des Rechtsstaates, in dem sich Toleranz mit dem Ethos der Pflichterfüllung, der Disziplin, Unbestechlichkeit, mit der Idee des Königs als „ersten Dieners seines Staates“ verband. Man geht nicht fehl, ein solches Ethos in seinen eigenen Entschlüssen wirksam zu sehen. Am Schluß eines Vortrags über die amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen seit Roosevelt und Stalin (1986) greift er den Buchtitel einer amerikanischen Historikerin auf: „Die Torheit der Regierenden“; man könne gespannt sein, sagt er, auf ein anderes Buch, das im Blick auf den übersteigerten Erwartungsdruck, auf illusionäre Hoffnungen, auf Unverständnis für die Gesetzlichkeiten der Machtpolitik, der militärisch-strategischen Machtmittel und für die Spielregeln diplomatischen Verhandeins, womit die Regierten ihre Regierungen in eine höchst beengte Zwangslage bringen, den Titel tragen müßte: „Die Torheit der Regierten“. Seine Skepsis überwog bei weitem jeden Anflug von Einseitigkeit oder gar Euphorie da, wo er die Grenzen rechtlicher Gestaltung in der Politik oder die Grenzen politischer Gestaltung mit Mitteln des Rechts nahe wußte. Und wie eng sie gezogen sind, das wußte er. „Friede durch Recht“ – eine Juristenutopie, wie ihm schien („Spiel der Kräfte“). So umfassend der Geltungsanspruch des Völkerrechts ist, so hochentwickelt und aufwendig sein organisatorisches Gerüst, so kontrovers ist nach Grewes Urteil sein Inhalt, so zweifelhaft seine Durchsetzung und Beachtung, getreues Spiegelbild einer zerklüfteten, von tiefen ideologischen, materiellen und machtpolitischen Gegensätzen zerrissenen Staatenwelt.
Quellen: Auskünfte von Prof. Dr. jur. Marianne Grewe-Partsch, Ehrenkirchen und Frau Gerty Grewe, Königswinter
Werke: Bibliographie bis 1980/81 in: Kroneck/Oppermann (Literatur), 655-660. Im folgenden nur einige ausgewählte und nach dieser Festschrift erschienene Werke: Gnade und Recht, Diss. jur., 1936; Nürnberg als Rechtsfrage, 1947; Ein Besatzungsstatut für Deutschland, 1948; Staatsvollmacht und Selbstverwaltung als dienstliches Problem. Gedanken zu einer Rechts- und Staatslehre in evangelischer Sicht, 1948; Rechtsgutachten über die Verfassungsmäßigkeit einer Einführung der konfessionellen Lehrerbildung im Lande Baden. Erstattet für und gedruckt im Auftrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Baden-Süd, 1951; Die Frist zur Einleitung eines Volksbegehrens im Neugliederungsverfahren, in: Die Öffentliche Verwaltung 1951, 35; Die Vereinbarkeit des Bonner Vertrages vom 26. Mai 1952 mit dem Grundgesetz. Rechtsgutachten erstattet für die Bundesregierung, 1952; System und Grundgedanken des Bonner Vertragswerkes. Einleitung zu: H. Kutscher, Bonner Vertrag, 1952; Inwieweit läßt Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes eine Reform des Beamtenrechts zu? Verhandlungen des Deutschen Juristentages, öffentlich-rechtliche Abteilung, 1952; Wahlkreiseinteilung, in: Grundlagen eines deutschen Wahlrechts. Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Wahlrechtskommission, 1955; Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, 1960; Spiel der Kräfte in der Weltpolitik. Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen, 1970, 2. Aufl. 1981 (Japanisch 1973); Rückblenden 1976-1951, 1979; Die außenpolitische Lage Deutschlands am Beginn der achtziger Jahre, 1982 (Mitarbeiter); Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1. Aufl. 1984, 2. Aufl. 1988; Die deutsche Frage in der Ost-West-Spannung, 1988; Machtprojektionen und Rechtsschranken, 1991; Ein Leben mit Staats- und Völkerrecht im 20. Jahrhundert, Vortrag, abgedruckt in: Freiburger Universitätsblätter, H. 118, Dezember 1992, 25ff.; Fontes Historiae Iuris Gentium, Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Sources relating to the history of the law of the nations. Hg. von Wilhelm Georg Grewe in Zusammenarbeit mit dem Institut für internationales Recht an der Freien Universität Berlin. Bd. 1 1995, Bd. 2 1988, Bd. 3/1 und 3/2 1992
Nachweis: Bildnachweise: Rückblenden (Werke), zahlreiche Bilder; Kroneck/Oppermann (Literatur)

Literatur: Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955-1959, 1967; Erinnerungen 1959-1963, 1968; Im Dienste Deutschlands und des Rechtes. Festschrift für Wilhelm Georg Grewe zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 1981, hg. von Friedrich I. Kroneck und Thomas Oppermann, 1981. Mit Geleitwort von Karl Carstens; Klaus Mehnert, Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906-1981, 1981; Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann 1952-1967, 1991; Quellen zur Entstehung der Verfassung von Baden-Württemberg, 8. Teil, Bearb. von Paul Feuchte, 1992, 372-378; Horst Ferdinand, Herbert Blankenkorn, in: BWB II (1999), 48-54; Albrecht Randolzhofer, Wilhelm Georg Grewe, in: Neue Juristische Wochenschrift 2000/1166; Jochen Abr. Frowein, Wilhelm Georg Grewe, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 125. Bd. (2000), 299 f.; Friedrich Schoch, In Memoriam. Wilhelm Grewe zum Gedenken, in: Freiburger Universitätsblätter, H. 142 (2000), 117 f.
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