Hahn, Wilhelm Ferdinand Traugott 

Geburtsdatum/-ort: 14.05.1909; Dorpat (heute: Tartu, Estland)
Sterbedatum/-ort: 09.12.1996;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Praktischer Theologe, MdB und MdL-CDU, Kultusminister u. MdEP-Europ. Volkspartei
Kurzbiografie: 1915–1919 Elementarunterricht in Dorpat
1919 Flucht d. Familie vor d. Roten Armee nach Gütersloh
1920–1929 Ev.-Stiftisches Gymnasium in Gütersloh bis Abitur
1929–1933 Studium d. ev. Theologie in Tübingen, SS 1929-SS 1930, Göttingen, WS 1930/31, Bonn, SS 1931–WS 1931/32, Tübingen, SS 1932, u. Münster, WS 1932/33, bis zum I. theol. Examen am 5. bis 7. Okt. 1933. Kurzzeitig Hauslehrer beim Prinzen Reuß auf Schloss Ernstbrunn bei Wien
1933–1936 IX. 17 Lehrvikariate in Witten, Bochum, Dortmund; Teilnahme an d. Barmer Synode vom 29. bis 31. Mai 1934; II. theol. Examen vor d. Bekennenden Kirche in Bethel vom 17. bis 19. Mrz. 1936, Ordination in Dortmund
1937 I. 14 Promotion bei Karl Heim in Tübingen: „Das Mitsterben u. Mitauferstehen mit Christus bei Paulus“, Note „gut“
1937–1942 Pfarrer von St. Marien in Minden/Westf.
1942 V.15–1946 Sanitätsunteroffizier beim Artilleriereg. 319, Stellvertr. Wehrmachtspfarrer in Jersey/GB, ab Mai 1945 dort brit. Kriegsgefangenschaft bis 15. Juni 1946
1946–1948 wieder Pfarrer in Minden u. vom 1. Sept. 1946 bis 1. Apr. 1947 komm. Oberkirchenrat d. westf. Kirche; 1946 Ruf zur Übernahme d. NT-Dozentur d. theol. Schule in Bethel, abgelehnt; ab 1949 Superintendent des Kirchenkreises Minden
1950 V.30–1978 V.11 Professor für Prakt. Theologie in Heidelberg u. Direktor des Instituts, 1. Universitätsprediger, im Petersstift zuständig für die Vikarsausbildung d. Ev. Landeskirche Badens; Antrittsvorlesung am 7. Juli 1950: „Recht u. Grenze des Kultischen im ev. Gottesdienst“; 1954 Dekan d. Theol. Fakultät; 21. Apr. 1954 Ruf nach Bossey bei Genf als Leiter des ökumen. Instituts des Weltkirchenrats verbunden mit d. Ev. Theol. Fakultät in Genf u. dem Dekanat d. ökumen. Fakultät in Bossey, am 2. Juli abgelehnt; 1. Aug. 1957 Ruf nach Münster, am 23. Dez. abgelehnt; 1958 bis 1960 Rektor d. Univ. Heidelberg, zahlreiche Auslandsreisen; als Kultusminister noch 3 Semester Lehrtätigkeit; 1978 emeritiert.
1952 VI.25–XII. 9 Wahl zum Landesbischof d. Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg, Amtsverzicht wegen innerer Spannungen in d. oldenbg. Kirche
1962 V.7–1964 VI. MdB-CDU als Nachrücker über die Landesliste
1964 VI.15–1978 V.10 Kultusminister von Baden-Württemberg u. bis 1978 stellvertretender Ministerpräsident; 1968 bis 1980 MdL-CDU; 1967 Mitglied des CDU-Bundesvorstandes
1979–1987 MdEP-Europ. Volkspartei
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.- luth.
Auszeichnungen: Ehrungen: Dr. theol. h.c. d. Univ. Tübingen (1957); Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern (1969), mit Stern u. Schulterband (1974); Dr. med. h.c. d. Univ. Ulm (1977); Hermann-Ehlers-Preis (1978); Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (1979); Landesorden Baden-Württemberg, Bürgermedaille d. Stadt Heidelberg (1982); Goldene Verfassungsmedaille des Landes Baden-Württemberg (1984); Heidelberger Universitätsmedaille in Silber (1994).
Verheiratet: 1937 (Den Haag) Elisabeth, geb. Rutgers, Tochter des Staatsrats Dr. A. A. L. Rutgers aus Wassenaar, NL (1915–2002)
Eltern: Vater: Traugott (1875–1919, ermordet durch Soldaten d. Roten Armee), o. Professor für Prakt. Theologie u. Pastor d. Universitätsgemeinde Dorpat
Mutter: Anna (Anny), geb. von zur Mühlen (1878–1974)
Geschwister: 3; Annemarie (1904–1938), Elisabeth (1907–1996) u. Beate (1913–1998)
Kinder: 2;
Annemarie, verh. Grueneisen (geboren 1940),
Traugott (geboren 1941), Dr. iur., Rechtsanwalt
GND-ID: GND/11854487X

Biografie: Hans Maier (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 131-136

Er habe es auf sieben Leben gebracht, pflegte Hahn im Alter scherzend zu sagen. Das erste war die Kindheit in Dorpat und die Jugend in Gütersloh, das zweite die Zeit des Nationalsozialismus, der junge Theologe als Pfarrer und Soldat, das dritte die Nachkriegszeit, die Professur in Heidelberg, das Rektorat, das vierte die Zeit als Bundestagsabgeordneter und Kultusminister; fünftens kam das Europäische Parlament, sechstens der Ruhestand. Und siebtens? Danach gefragt „sprach ich die Hoffnung auf das ewige Leben aus. So habe ich den größten Teil des 20. Jahrhunderts mit allen seinen Brüchen, Schrecken, […] aber auch mit seinem rasanten Fortschritt […]erlebt und dabei die gnädige Führung Gottes erfahren“ (Als Abgeordneter im Europäischen Parlament 1979–1987, MS, S. 30).
Einer Gelehrtenfamilie entstammend wuchs Hahn als einziger Sohn im livländischen Dorpat auf. Das Baltikum gehörte damals zum Russischen Reich, genoss aber lange Zeit weitreichende Autonomie. Deutsche bildeten die Oberschicht. Auch im Hause Hahn waren die Angestellten Esten; estnisch war die erste Fremdsprache, die Hahn lernte. Gern erinnerte er sich später an seine Kindheit, an die weite Landschaft mit den großen Gütern, dem natürlichen, anspruchslosen Leben. Der Zusammenbruch dieser Welt im I. Weltkrieg und die Erschießung des Vaters durch abziehende Kommunisten beim Heranrücken der weißen Truppen konnten seinen Lebensmut nicht brechen; in seinen Erinnerungen spricht er von der „unzerstörbaren Lebensbejahung“ („Ich stehe dazu“, 1981, S. 13), die ihn nie verlassen habe.
In Gütersloh, wo sich die Familie nach der Flucht niedergelassen hatte, kam Hahn in Berührung mit der stark nachwirkenden Erweckungsbewegung. Gottesdienst und Kirchenmusik, aber auch die Lektüre klassischer Dramen und das von der künstlerisch begabten Mutter und Biographin ihres Mannes erlernte Malen wurden ihm wichtig. Nach einigem Schwanken, Alternativen waren Jurastudium oder die diplomatische Laufbahn, entschloss sich Hahn, vor allem wohl angeregt durch das elterliche Vorbild, zum Studium der Theologie.
Hahn studierte in Tübingen, Göttingen, Bonn und Münster; in Bonn begann der reformierte Theologe Karl Barth das Denken des Lutheraners Hahn zu beeinflussen. Als Gast nahm Hahn an der Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934 teil, bei der Barth die berühmten „Barmer Thesen“ gegen die „völkische Theologie“ formulierte. Promoviert wurde Hahn 1937/38 in Tübingen bei Karl Heim und Gerhard Kittel mit einer Arbeit, die er frei gewählt hatte: „Das Mitsterben und Mitauferstehen mit Christus bei Paulus“, seine sehr persönliche Antwort auf die ihn seit langem beschäftigende Frage: „Wie verwirklicht sich Christus in meiner Existenz?“ (ebd., S. 44).
Im August 1937 heiratete Hahn; seine Frau, die er 1935 in St. Chrischona bei Basel kennen gelernt hatte, stammte aus einer holländischen Theologenfamilie, die der politischen Bewegung Abraham Kuypers, der „Antirevolutionären Partei“ der calvinistischen Freikirche, nahe stand. Deren politisches Engagement beeindruckte den Lutheraner Hahn. Er machte sich seit dieser Zeit Gedanken über die Gründung einer Partei „aus christlicher Verantwortung“. „Der spätere Entschluss, in der Politik aktiv zu werden, wurde damals vorbereitet“ (ebd., S. 43).
Mit erstaunlichem Weitblick hatte der national gesinnte Hahn den Nationalsozialismus sogleich durchschaut und abgelehnt, wobei wohl seine theologische Schulung und die Berührung mit dem politischen Calvinismus halfen. Es gelang ihm, sich während der gesamten NS-Zeit nicht nur von der Partei, sondern auch von NS-Organisationen freizuhalten. Nach dem Krieg wurde er als „völlig entlastet“ eingestuft.
In den Fronten des Kirchenkampfs stand dem jungen Theologen die Entscheidung klar vor Augen. Fühlte er sich früher manchmal angefochten und von Glaubenszweifeln geplagt, so wurde ihm jetzt deutlich, was es gegen das NS-Regime zu verteidigen galt. Er schloss sich der Bekennenden Kirche an und gründete zusammen mit Hans Thimme und Gerhard Lichtenthäler 1934 die „Bruderschaft der Hilfsprediger und Vikare“, die sehr aktiv gegen die „Deutschen Christen“ auftrat. Nach seinem II. Examen in Bethel wurde er als Assistent an das Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Blöstau/Ostpreußen berufen, das unter der Leitung von Hans Joachim Iwand stand und später von der Gestapo aufgelöst wurde. Dort war Hahn ein Jahr tätig, dann bewarb er sich um die zur Bekennenden Kirche gehörige Pfarrstelle St. Marien in Minden/Westf. Er wurde gewählt und stand ihr bis zur Berufung nach Heidelberg vor. Mit Leib und Seele sei er Pfarrer gewesen und habe sich keinen besseren Beruf denken können.
Der von Hitler entfesselte Krieg stürzte Hahn in tiefe Depressionen, vor allem als Holland überrannt und sein Schwiegervater als Geisel nach Buchenwald verschleppt wurde. Persönlich hatte er gleichwohl Glück: im Frühjahr 1942 eingezogen erlebte er die Kriegszeit als Krankenpfleger und Kriegspfarrer auf der deutsch besetzten Insel Jersey und war dort nach dem 8. Mai 1945 britischer Kriegsgefangener. Im Juni 1946 konnte er zu seiner Familie nach Minden heimkehren und wieder Pfarrer sein.
Ende Februar 1950 wurde Hahn auf den Heidelberger Lehrstuhl für Praktische Theologie berufen, eine für ihn gründliche Umstellung: von der aktuell-praktischen zur wissenschaftlichen Theologie. Heidelberg hatte in der Bibelwissenschaft besonderen Rang. Historische Genauigkeit, philologische Akribie waren gefragt. „Ich merkte bald, dass es mir nur schwer möglich sein würde, in Kürze gleichen wissenschaftlichen Rang zu erreichen. Tröstlich war allerdings, dass ich zu meinen Studenten sofort den besten Kontakt hatte“ (ebd., S. 66). Hahn lebte sich mit der ihm eigenen Energie ein. 1955 berief ihn Bundespräsident Theodor Heuss in den neuen „Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“. Das war Hahns erster Schritt in die Kultur- und Bildungspolitik. Aber auch seine kirchlichen und ökumenischen Kontakte verbreiterten sich: 1955 machte Hahn im Auftrag des Lutherischen Weltbundes eine viermonatige Visitations- und Vortragsreise durch die evangelischen Gemeinden Südamerikas; 1958 besuchte er im Auftrag des Weltrats der Kirchen die erste weiß-schwarze Kirchenkonferenz in Johannesburg, fand Einsicht in die Probleme der Dritten Welt.
Im Februar 1958 wurde Hahn Heidelberger Rektor und damit zu einer weithin sichtbaren öffentlichen Figur. Die Aufgabe schien ihm „auf den Leib geschnitten“ (ebd., S. 84), er wurde ein erfolgreicher Rektor, fand breite Zustimmung inner- und außerhalb der Universität. Schon nach einem halben Jahr wählten ihn die Kollegen erneut zum Rektor, die geheiligte Regel der Einjährigkeit durchbrechend. Er stand damals schon im 50. Lebensjahr, galt aber noch immer als „junger Professor“, gehörte er doch zu den damals noch wenigen in der Fakultät, die nicht nur die drei alten Sprachen beherrschten, sondern auch fließend Englisch sprachen, was Hahn in Jersey gelernt hatte. Zu seinen Studenten hatte er ein entspanntes Verhältnis. Gelegentlich joggte er sogar mit ihnen durch die Stadt oder den Odenwald. Er kämpfte für Kollegienhäuser und Studenten-Siedlungen; die Siedlung am Klausenpfad ging auf seine Initiative zurück und bot 600 Plätze. Ganz ungewöhnlich für die damalige Zeit versuchte Hahn auch einen Studentenaustausch mit Leipzig in Gang zu bringen. Beim Besuch einer Heidelberger Delegation in Leipzig beim 500. Gründungsjubiläum unternahm er diesen Vorstoß, leider vergeblich. Noch spärliche internationale Verbindungen seiner Universität baute Hahn aus, wobei er seine anglo-amerikanischen und ökumenischen Kontakte nutzte, und mit der Gründung des Südasien-Instituts weitete er den Blick Richtung Dritte Welt.
Hahn setzte auch auf innere Universitätsreformen. Den Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1960, die auf eine Ausweitung der Hochschulen um 100 Prozent in vier Jahren hinausliefen, stand er kritisch gegenüber, bedachten sie nach ihm doch nicht, dass die neue Massenuniversität dem Konzept Wilhelm von Humboldts – Einsamkeit und Freiheit – entgegenstand und neue Strukturen in Lehre, Forschung und Leitung nötig machte. Der Praktische Theologe hatte sich eingehend mit Pädagogik und Jugendpsychologie beschäftigt und nahm Impulse auf, die in der Zeit des „Sputnik-Schocks“ und Beginns weltweiter Bildungsreformen die öffentliche Diskussion beherrschten: Bildungsstatistik und Bildungsökonomik, Programme für Bildungswerbung und -hilfe, Forderungen nach Chancengleichheit, neue Theorien der Begabung, Entwürfe eines an Bildungszielen orientierten Lehrplans u. a. m. Aber nie verlor Hahn über den Perspektiven der Gesellschafts- und Sozialpolitik die erzieherischen Gesichtspunkte aus dem Blick, nie erlag er der Illusion, das Schicksal des Einzelnen ließe sich durch staatliche Vorsorge regeln und planen. Bildung und Studium war ihm kein Service-Betrieb, organisiert vom Staat, ohne die Anstrengung des Einzelnen, ohne eigene Verantwortung, verbunden mit dem Risiko des Scheiterns. Kurz: Hahn war ein Organisator, aber kein Technokrat, blieb immer Pädagoge. Erziehung und Erziehen faszinierten ihn zeitlebens, auch wenn das Erzieherische vorübergehend vor der Bildungstechnologie zurücktreten musste, der Begriff des Erziehers, der Erzieherin, nur noch für die frühen Lebensjahre gelten sollte.
Nach dem Heidelberger Rektorat trug die CDU, der er seit 1956 angehörte, Hahn einen Platz auf der baden-württembergischen Landesliste für die Bundestagswahl 1961 an. Er sagte zu und erlebte in Bonn das Ende der Ära Adenauer und die ersten beiden Jahre unter Kanzler Ludwig Erhard. Es kam ihm zugute, dass er, seit 1962 bis 1980, als stellvertretender Bundesvorsitzender eine führende Rolle im Evangelischen Arbeitskreis der CDU spielte. Doch als er sich in Bonn eingearbeitet hatte und in Heidelberg sesshaft geworden war, erreichte ihn im Mai 1964 ein anderer Ruf: Kultusminister unter Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger. Hahn legte das Bundestagsmandat nieder.
Der neue Übergang vollzog sich reibungslos; sein Vorgänger Gerhard Storz, ein homme de lettres, hatte gefühlt, dass ein Wechsel fällig war, erlebte er doch, wie sich plötzlich alles dem Orakel der Bildungsstatistik und -ökonomik verschrieb. Diese Mentalität war dem Wissenschaftler alter Schule fremd. Da war es das Beste, einen Mann zum Nachfolger zu haben, bei dem pädagogischer Sinn die Technokratie in Schranken hielt, der eine Bildungspolitik betrieb, die konservativ und fortschrittlich zugleich war. Storz hatte Hahn ins Gespräch gebracht.
Vierzehn Jahre lang amtierte Hahn im Stuttgarter Neuen Schloss und prägte die Kulturpolitik des Landes entscheidend. Er wurde einer der profiliertesten Bildungspolitiker der Bundesrepublik. Mit Paul Mikat in Nordrhein-Westfalen, Ludwig Huber in Bayern, Bernhard Vogel in Rheinland- Pfalz, Werner Scherer im Saarland, Walter Braun in Schleswig-Holstein begründete er jene neue Politik, die den Ausbau der weiterführenden Schulen, die Entwicklung des beruflichen Bildungswesens, die Neugründung von Hochschulen, die Unterstützung von Theatern, Museen, Galerien, Bibliotheken anging – eine Politik, die in der öffentlichen Wahrnehmung bis zur Mitte der 1960er-Jahre ausdrücklich mit der CDU verbunden blieb. Keineswegs zufällig kamen die Protagonisten der neuen Bildungspolitik – Georg Picht, Ralf Dahrendorf, Paul Harro Piazolo, Hans Peter Widmaier – mit ihren Plänen zuerst bei Hahn zum Zug. Kulturpolitik rückte für die nächsten zwei Jahrzehnte ins Zentrum der Landespolitik. Das brachte dem Kultusminister Ruhm und Bewunderung, aber manchmal auch Neid und Eifersucht ein. Immerhin war der spröde Balte im Land der Dichter, Denker und Tüftler bald so populär, dass er es 1966 nach dem Weggang Kiesingers nach Bonn sogar wagen konnte, für dessen Nachfolge zu kandidieren. Er unterlag dem amtierenden Innenminister Hans Filbinger nur knapp, mit 25 gegen 31 Stimmen.
1964 schlug Hahn die Schaffung eines Deutschen Bildungsrates als Ergänzung zum Wissenschaftsrat vor. Er wurde 1966 eingerichtet und bestand bis 1975. Schulentwicklungspläne wurden konzipiert: für das allgemeinbildende Schulwesen, die Haupt- und Realschulen und Gymnasien, 1964/65, für das berufliche Schulwesen 1965 bis 1970. Die Universitäten Konstanz und Ulm wurden 1966 gegründet; die Hochschulen in Mannheim und Karlsruhe zu Universitäten ausgebaut. Historische Bedeutung kam der Aufhebung der Konfessionsschulen in Südwürttemberg-Hohenzollern 1966/67 zu. Damals legte Hahn auch den ersten Hochschulgesamtplan vor. Ein Pilotprogramm mit weiter Ausstrahlung war 1973 die Gründung der Berufsakademie nach dem Vorbild der Verwaltungsakademie Stuttgart: Es ging um die engere Verbindung von Beruf und Bildung, ein Gegengewicht zur einseitigen Akademisierung. Zu all dem trat die Kunstpolitik hinzu: die Neugründung von Musikhochschulen, die Förderung von Theatern, Orchestern, Museen, Initiativen in der Denkmalpflege, die Wahrung der Selbständigkeit der Kunsthochschulen in der Gesetzgebung, Konzepte der Literaturförderung, des Ausbaus der Musikschulen.
Nur wenige Jahre ruhiger Planung waren dem Minister gegönnt. Dann geriet seine Politik in den Strudel der „Achtundsechziger-Zeit“, in die wachsende Ideologisierung an Schulen und Hochschulen. Die Reformzeit schlug in eine Protestzeit um. Hahn, der Progressive, wurde plötzlich als Bremser, als Reaktionär beschimpft. Hätschelkinder seiner Kulturpolitik machten die meisten Schwierigkeiten, von Heidelberg bis Konstanz, von den Oberstufen der Gymnasien bis zum Theater Palitzschs und Peymanns. Die bittersten Auseinandersetzungen entbrannten in Heidelberg. Dort bildete sich das „Sozialistische Patientenkollektiv“, eine Vereinigung von Patienten der Psychiatrie, die von der Vorstellung geleitet war, „das System“ habe sie krank gemacht und müsse gewaltsam beseitigt werden.
Während viele Wissenschaftler und Politiker für die Revolte Verständnis bezeugten und auf Rechtsbrüche und Übergriffe mit Indolenz und Achselzucken reagierten, trat Hahn dafür ein, dass der Staat gegenüber den Rebellen Flagge zeige, nicht nur bei Polizeimaßnahmen, vor allem in der Gesetzgebung. Die Hochschulgesetze Baden-Württembergs und Bayerns von 1973 setzten Akzente gegen den Trend: eine Hochschulspitze mit größerer Entscheidungsbefugnis und Kontinuität, klare Mehrheiten für die durch Sachkompetenz ausgewiesenen Hochschullehrer, Reformen im Studium und im Prüfungswesen. Das war notwendig, aber höchst unpopulär. Im Landtag wurde Hahn hämisch gefragt, ob er nicht zugeben müsse, ein Konservativer zu sein. „Ich antwortete darauf, dass meine konservative Einstellung sich darin zeige, dass ich die durch die Liberalen im 19. Jahrhundert erkämpften Grundrechte des Individuums und die Geistesfreiheit an den Universitäten sichern wolle“ („Ich stehe dazu“, S. 39).
Mitte der 1970er-Jahre war der Höhepunkt der Studentenunruhen überschritten. Der Terrorismus hatte sich von den Hochschulen gelöst und verselbständigt. Nach der Phase der Schul- und Hochschulexpansion, des notwendigen politischen „Containment“ konnte die Hahnsche Bildungspolitik nun in ihre dritte Phase münden, gekennzeichnet durch Rückbewegungen, durch die Überprüfung lange selbstverständlicher Positionen der Bildungsplanung, vor allem aber durch die Hinwendung zu inneren Reformen, zur Erziehung, zum Kind. „Anwalt des Kindes“, dieser attraktive Name einer im Januar 1974 einberufenen Kommission aus Eltern, Kinderärzten, Psychologen und Pädagogen war ein programmatisches Signal, wollte die Kinder gegen Umerzieher, Systemveränderer, technokratische Reformer in Schutz nehmen. „Tendenzwende“ war das zweite Stichwort; der gleichnamige Kongress in der Bayerischen Akademie der schönen Künste in München 1974, von Hahn vorbereitet, erprobte neue Muster der Zeitbetrachtung jenseits vom dogmatischen Marxismus und sammelte unabhängige Intellektuelle, von Golo Mann bis Hermann Lübbe, Robert Spaemann und Ralf Dahrendorf. Endlich das wirksamste Stichwort „Mut zur Erziehung“: das Forum mit diesem Namen in Bonn am 9./10. Januar 1978 fand ein lebhaftes Echo in der Öffentlichkeit. Keine Gesellschaft, so formulierte seine These 7, könne eine Schule als ihre eigene anerkennen, die ihre Schüler eine ganz andere Gesellschaft als ihre eigene anzusehen lehre.
Niemand dachte damals, dass diese Aktivitäten zum Vermächtnis der Ära Hahn werden würden. Eine Woche nach diesem Forum erzwang Ministerpräsident Filbinger den Rücktritt Hahns mit dem Argument, es gelte jetzt jüngere Kräfte ins Kabinett zu holen. Hahn widerstrebte heftig, musste sich aber beugen. Im Mai wurde die Regierung umgebildet, das Kultusministerium in ein Schul- und ein Hochschulministerium geteilt. Nachfolger Hahns wurden Roman Herzog und Helmut Engler. Nur drei Monate später musste Hans Filbinger nach einer heftigen Debatte über seine Tätigkeit als Marinerichter im II. Weltkrieg zurücktreten. Für Hahn rückte nun die Europapolitik, das letzte Arbeitsfeld seines aktiven politischen Lebens, ins Zentrum. Von 1979 bis 1987 war er Abgeordneter des Europäischen Parlaments, ohne den Apparat eines Ministeriums und die Hilfe bewährter Mitarbeiter, aber nach wie vor voller Initiativen und Energien. Das Europäische Parlament, 1979 erstmals direkt gewählt, gewann in jenen Jahren an Profil. Die „Vierte parlamentarische Ebene“ neben Kommunen, Ländern und Bund, trat deutlicher ins Blickfeld: Regierungschefs und Staatsoberhäupter erwiesen ihm ihre Reverenz. Der Abgeordnete Hahn widmete sich auch in Straßburg der Kulturpolitik. Sein größter Erfolg war beim 300. Geburtstag der Musiker Bach, Händel und Scarlatti 1985 die Proklamierung des „Europäischen Jahres der Musik“. Andere Ziele, die Hahn verfolgte, so die Ergänzung der Römischen Verträge durch einen Kulturartikel, ließen sich nicht erreichen. Hahn arbeitete sich intensiv in die Medienpolitik ein, in der er bald zum wichtigsten Fachmann im Parlament wurde. Der „Hahn -Bericht“ von 1982 über „Rundfunk und Fernsehen in der Europäischen Gemeinschaft“ forderte erstmals die Schaffung eines gemeinsamen mehrsprachigen Fernsehprogramms in Europa, die Entwicklung einer europäischen Medienordnung und die Festlegung einer einheitlichen technischen Norm für das Fernsehen. Bei der europäischen Medienordnung konnte Hahn sich durchsetzen: Eine Frucht seiner Tätigkeiten war die Richtlinie der EG, die 1989 den gemeinsamen europäischen Fernsehraum begründete. Seither können die Programme aller Mitgliedstaaten ungehindert in die anderen Staaten ausgestrahlt werden, wobei das Sendeland die Kontrolle über die Einhaltung der europäischen Fernsehordnung übernimmt. Auch auf Drängen seiner Partei trat Hahn im Herbst 1987 von der politischen Bühne ab. Die folgenden Jahre widmete er sich der Familie, dem Reden, Schreiben, Malen. Ausstellungen seiner Bilder fanden statt. Seinen 80. Geburtstag konnte er rüstig und in geistiger Frische feiern. Er genoss einen gesegneten Lebensabend, bis nach einem längeren Krankenhausaufenthalt 1996 sich abzeichnete, dass er von einer schweren Krebserkrankung nicht mehr genesen werde.
Nachrufe würdigten den dienstältesten Kultusminister der Bundesrepublik, den standhaften Mann und politischen Kämpfer. Sie rühmten seine Noblesse, seine Herzlichkeit, seinen versteckten Humor, Charme und seine Nonchalance.
Quellen: A für Christlich Demokratische Politik, St. Augustin, Nachlass Wilhelm Hahn; UA Tübingen 364/9431, Studentenakte u. 162/856, Promotion u. Ehrenpromotion; UA Göttingen Matrikel vom WS 1930/31, 7.11.1930–24.3.1931; UB Bonn gedruckte Studentenverzeichnisse 1931 u. 1931/32; UA Heidelberg 2713 u. 7924, Personalakten Wilhelm Hahn.
Werke: Auswahl: Das Mitsterben u. Mitauferstehen mit Christus bei Paulus. Ein Beitrag zum Problem d. Gleichzeitigkeit des Christen mit Christus, Diss. theol. Tübingen 1937; Der christl. Glaube u. d. Mensch d. Gegenwart. Sieben Vorträge, 1947; Gottesdienst u. Opfer Christi. Eine Untersuchung über das Heilsgeschehen im christl. Gottesdienst, Veröffentll. d. Ev. Gesellschaft für Liturgieforschung Bd. 5, 1951; Erziehung aus christl. Verantwortung. Vier Rundfunkvorträge, in: Leben u. Wahrheit Heft 15, 1955; Anfechtung u. Gewissheit. Predigten, 1958; (Hg.) Heidelberger Predigten, Pflüget ein Neues, Heft 8, 1959; Die Mitte d. Gemeinde. Zur Frage des Gottesdienstes u. des Gemeindeaufbaus, Handbücherei für Gemeindearbeit Bd. 1, 1959; Universität neuen Typs. Vorträge einer Tagung in d. Ev. Akademie Loccum, Schriften des Hochschulverbandes Bd. 11, 1962; Demokratische Bewährung. Beiträge zur Verantwortung in Kirche, Politik u. Bildung, 1965; (mit Kurt Georg Kiesinger) Bewältigte Vergangenheit u. Zukunft. Die politische Verantwortung junger Menschen, 1966; (mit Philipp von Bismarck u. Helmut Kohl) Unser Wille zur gerechteren Gesellschaft, 1970; Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit. Bildungspolitik zwischen Wunsch u. Wirklichkeit, 1972; Modelle u. Versuche als Instrumente d. Bildungsreform, Schriftenr. Informationen über das Bildungswesen, Reihe B, 16, 1973; Humane Schule in d. Leistungsgesellschaft. Rede am 4. Dezember 1975 bei einem Gespräch zwischen Eltern, Lehrern, Schülern u Kinderärzten in Freiburg im Br., 1975; Das Universitätsgesetz vom 10.11.1977, 1977; Der Freiburger Modellkindergarten 1968–1976. Konzeption, Erfahrungen, Ergebnisse, Bildung in neuer Sicht, Reihe A Bd. 33, 1977; (Hg.) Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Forum am 9./10.1.1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg, 1978; (mit Gerhard Storz), Zur Reform des Bildungswesens, 1978; Ich stehe dazu. Erinnerungen eines Kultusministers, 1981; Meine Tätigkeit im Europäischen Parlament, Ortenau-Forum, 1982, Mai-Heft; (Hg. mit Kurt Neumann) Grenzüberschreitende Schulen in Europa = Les écoles transfrontalières en Europe, Initiativen 1, 1983; Soll das Reich Gottes politisch verwirklicht werden?, 1985; Europäische Kulturpolitik. Aufsätze über Bildung, Medien u. Kirche, 1987; Ist unsere Kirche in Gefahr, ihren Verkündigungsauftrag zu verraten?, Schriften d. Aktion „Kirche wohin?“ Nr. 10, 1988; (mit Lothar Gassmann) Frieden in Gerechtigkeit durch Welteinheit? Basel ‘89 u. d. „konziliare Prozess“, 1989; Das Ende des Sozialismus. Herausforderung für Theologie u. Kirche. Eine Analyse, Dokumentation, Informationsdienst d. Ev. Allianz 91, 15, 1991; Das Verhältnis von pädagogischer Theorie u. bildungspolit. Verwirklichung, in: Werner Wiater, Mit Bildung Politik machen, 1991; Der Ruf ist immer neu. Aus 200 Jahren d. baltischen Theologenfamilie Hahn, 1993.
Nachweis: Bildnachweise: Bildungspolitik mit Ziel u Maß, 1974, 3.

Literatur: Auswahl: Paul Harro Piazolo, Zehn Jahre Bildungsreform – Aspekte d. Zukunft. Zur Bildungspolitik von Kultusminister Prof. Dr. Wilhelm Hahn, in: Bildungspolitik mit Ziel u. Maß. Wilhelm Hahn zu seinem zehnjährigen Wirken gewidmet (weitere Beiträge von Hans Filbinger, Kurt Georg Kiesinger, Gerhard Schröder, Gerd Weng, Walter Braun, Bernhard Vogel, Hans Leussink, Klaus von Dohnanyi, Werner Scherer, Hans Maier, Ralf Dahrendorf, Ernst von Weizsäcker, Horst Linde, Gerhard Stoltenberg, Anton Pfeifer, Georg Picht) 1974, 215-250; Clemens Graf Podewils (Hg.), Tendenzwende? Zur geistigen Situation d. Bundesrepublik, 1975; Gerhard Storz, Zwischen Amt u. Neigung. Ein Lebensbericht aus d. Zeit nach 1945, 1976; Dieter Schmidt, Mut zur Erziehung. Gesprächsforum im Wissenschaftszentrum Bonn, in: Lehren u. Lernen Heft 3, 1978, 1-23; Friedrich Wilhelm Bauks, Die ev. Pfarrer von d. Reformationszeit bis 1945, Beiträge zur Westfäl. Kirchengesch. Bd. 4, 1980, 176f.; Werner Danielsmeyer, Führungen. Ein Leben im Dienste d. Kirche, 1982; Kreuz-Wege. FS für Kultusminister a. D. Prof. D. Dr. Wilhelm Hahn zum 75. Geburtstag, hgg. von Heinz Reutlinger u. Gunther G. Wolf, 1984; Hans Timme, Die westfälische Bruderschaft d. Hilfsprediger u. Vikare im Kirchenkampf 1933-1945, Sonderdruck aus: Jb. d. Westfäl. Kirchengesch. Bd. 85, 1991, 287-346; Wilhelm Hahn, in: Ralf Dahrendorf, Liberale u. andere, Portraits, 1994, 255-276; Wilhelm Hahn 85 Jahre alt – Pionier d. Bildungsreform, in: Stuttg. Ztg. vom 13.5.1994; Klaus Fischer, Wilhelm Hahn gestorben – Ein konservativer Reformpolitiker, ebd. vom 10.12.1996; Wilhelm Hahn gestorben, in: FAZ vom 12.12.1996; Erwin Teufel, Hahn ein großer Demokrat, in: Stuttg. Ztg. vom 17.12.1996; Rudolf Vierhaus u.a. (Hgg.), Biogr. Handb. d. Mitglieder des Dt. Bundestages 1949–2002, Bd. 1, 2002, 299; Marc Zirlewagen, Kurzbiographien Tübinger VDSler, in: Gebhard Keuffel (Hg.), 120 Jahre Verein Dt. Studenten zu Tübingen, 2003, 201-202; ders., Wilhelm Hahn, in: Biogr.-Bibliogr. Kirchenlexikon Bd. 27, 2007, Sp. 593-598; Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon, 2009, 249f.
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