Herrmann, Liselotte (Lilo) Minna Pauline 

Geburtsdatum/-ort: 23.06.1909; Berlin
Sterbedatum/-ort: 20.06.1938; Berlin (Plötzensee)
Beruf/Funktion:
  • Widerstandskämpferin
Kurzbiografie: 1915-1922 Lyzeum Dr. Böhm Berlin, Invalidenstraße
1922-1927 Schulbesuch in Siegen und Frankfurt/Main
1927-1929 Viktoria-Luise-Schule Berlin-Wilmersdorf mit Abitur; Hospitation als Laborantin in einem chemischen Betrieb
1929-1931 vier Semester Studium der Chemie an der Technischen Hochschule (seit 1967: Universität) in Stuttgart
1931-1933 Studium der Biologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität (seit 1949: Humboldt-Universität) in Berlin; am 11. 6. 1933 relegiert
1933-1934 Arbeit als Kinderpflegerin; Tätigkeit im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Berlin; Geburt ihres Sohnes
1934-1935 Arbeit als Stenotypistin im Ingenieurbüro ihres Vaters in Stuttgart; Fortsetzung der Widerstandstätigkeit bis zur Verhaftung am 7.12.1935
1936-1937 in Stuttgart Verhöre beim Württembergischen Politischen Landespolizeiamt, Prozess vor dem „Volksgerichtshof“; am 12.6.1937 wegen „Landesverrat in Tateinheit mit Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tod verurteilt
1937-1938 weitere Verhöre im Frauengefängnis Barnimstraße, zuletzt im Zuchthaus Plötzensee in Berlin; am 20.6.1938 zusammen mit Göritz, Lovász und Steidle hingerichtet; in mehreren europäischen Ländern Protestkampagnen zur Rettung der zum Tod Verurteilten und später gegen die vollzogenen Hinrichtungen
Weitere Angaben zur Person: Eltern: Vater: Richard Herrmann, Ingenieur in Berlin, später Siegen, Frankfurt/Main, Stuttgart
Mutter: Elise, geb. Fänger
Geschwister: Ernst
Kinder: Walter (geb. 15.5.1934), Vater: Fritz Rau, geb. 12.5.1904 Stuttgart-Degerloch, gest. 20.12.1933 Berlin, Gefängnis Moabit
GND-ID: GND/118549987

Biografie: Lothar Letsche (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 106-108

Im bürgerlich-liberalen Sinn erzogen, geprägt von dem als Kind erlebten Ersten Weltkrieg, stieß Liselotte Herrmann in der Weimarer Republik zum Sozialistischen Schülerbund und als Studentin zur Roten Studentengruppe, zum Kommunistischen Jugendverband und 1931 zur KPD. An ihren Hochschulen hatte sie sich als studierende Frau zu behaupten in einem Umfeld, in dem antifaschistische und linke Positionen nur von einer kleinen Minderheit akzeptiert wurden und Übergriffe sich zunehmend auch gegen jüdische Hochschulangehörige richteten. Einem Gestapo-Aktenvermerk aus dem Jahr 1935 zufolge war sie damals „als rührige Kommunistin aktenmäßig bekannt. Sie hat sich früher in der kommunistischen Jugend durch Plakatankleben, Broschürenverkauf und andere Propaganda rege betätigt. Dabei hat sie öfters ein freches und anmaßendes Benehmen an den Tag gelegt.“
Dass Hitler zum Krieg führt, hielt Liselotte Herrmann nicht für reine Propaganda, sondern davon war sie zweifellos persönlich überzeugt. Mit der ihr eigenen Konsequenz schlug sie sich nach dem Ausschluss vom Studium als Kinderpflegerin durch und gliederte sich in den illegalen kommunistischen Widerstand ein. Im Mai 1934 wurde ihr Sohn Walter geboren. Sein Vater war ein Stuttgarter KPD-Funktionär, der im Untergrund in Berlin tätig war; er war im Herbst 1933 gefasst und im Dezember 1933 im Moabiter Gefängnis totgeschlagen worden. Seinen Namen gab die junge Mutter weder den eigenen Eltern noch ihren Freundinnen und Gesinnungsgenossen preis. Mit dem Baby zog sie im September 1934 zu ihren Eltern nach Stuttgart. Unter der Fassade der unscheinbaren Tätigkeit als Stenotypistin im Büro des Vaters, die ihr Reisen in die Schweiz ermöglichte, nahm sie ohne Wissen ihrer Eltern erneut Kontakt zum kommunistischen Widerstand auf. Sie erfüllte Aufgaben für den Bezirksleiter Stefan Lovász und zugleich für den kommunistischen Nachrichtenapparat, der Beweise für die Produktion von Kriegsflugzeugen und andere Kriegsvorbereitungen suchte, um sie im Ausland zu veröffentlichen. Nachdem der Bezirksleiter durch Hinweise der als Vertrauensleute der Polizei tätigen kommunistischen Funktionäre Eugen und Alfons Wicker in die Hände des Württembergischen Politischen Landespolizeiamts (der hiesigen „Gestapo“) gefallen war, wurde Herrmann ein halbes Jahr später am 7.12.1935 in der Wohnung ihrer Eltern verhaftet. Zum Verhängnis wurde ihr der Plan einer unterirdischen Munitionsfabrik, den ihr der gleichzeitig verhaftete Leiter des KPD-Nachrichtenapparats Josef Steidle zur Weiterleitung übergeben hatte.
Die erhaltenen Verhörprotokolle belegen, dass Herrmann sich in der Haft tatsächlich „standhafter als mancher Mann neben dir“ (F. Wolf) verhalten, ihre Überzeugung verteidigt und über das hinaus, was die Gestapo ohnehin schon wusste, niemand belastet und hineingezogen hat. Vom 8.-12.6.1937 standen Herrmann, Lovász und Steidle gemeinsam mit dem Schlosser Artur Göritz, der Informationen aus den Dornier-Werken in Friedrichshafen weitergegeben haben soll, und dem Stuttgarter Kommunisten Alfred Grözinger in Stuttgart vor dem 2. Senat des „Volksgerichtshofs“. Dieses Gericht war 1934 neu geschaffen worden, gegen seine Urteile war keine Berufung möglich. Grözinger erhielt eine zwölfjährige Zuchthausstrafe (und überlebte das Kriegsende im KZ Mauthausen). Mit Göritz und Steidle wurde auch Liselotte Herrmann zum Tod verurteilt, obgleich im Verfahren ein Offizier bestätigte, dass die gefundenen Unterlagen nicht als geheim eingestuft waren. Bei Lovász – einem staatenlosen Ungarn mit vier kleinen Töchtern –, für den Liselotte Herrmann Schreibarbeiten und Auswertungen gemacht hatte, wurde wegen „Hochverrats unter erschwerenden Bedingungen“ ebenfalls auf die Todesstrafe erkannt. Wenige Wochen zuvor, am 26.4.1937, hatte die deutsche Luftwaffe die baskische Stadt Guernica verwüstet.
Eine Solidaritäts- und Protestkampagne in mehreren europäischen Ländern versuchte die Vollstreckungen zu verhindern. Die Zeitgenossen waren überzeugt, dass hier zum ersten Mal in Nazideutschland einer Frau und Mutter wegen einer Handlung des politischen Widerstandes die Hinrichtung drohte. Bis kurz vor ihrer Enthauptung am 20.6.1938 wurde versucht, aus den zum Tode Verurteilten weitere Einzelheiten herauszupressen. Die Leichen der Hingerichteten wurden der Anatomie übergeben; nirgendwo sind sie beigesetzt.
Vier Monate später zerstückelte das von Hitler erpresste Münchner Abkommen die Tschechoslowakei, kein Jahr später erfolgte der deutsche Überfall auf Polen. Erkennbar sollte an den Antifaschisten, die vor Hitlers Vorbereitung eines Angriffskriegs gewarnt hatten, ein Exempel statuiert werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Liselotte Herrmann vor allem in der DDR bekannt, wo Straßen, Schulen, Kindergärten, Pioniereinrichtungen und die (heute nicht mehr bestehende) Pädagogische Hochschule Güstrow nach ihr benannt waren. Paul Dessaus „Melodram“ mit dem Text von Friedrich Wolfs „Biographischem Poem“ wurde im Musikunterricht des 9. Schuljahres behandelt. Dabei war Liselotte Herrmanns Bild bis in die 80er Jahre geprägt von teilweise dichterisch verfremdeten literarischen Gestaltungen (so gibt es beispielsweise keine Belege für die von F. Wolf berichtete Tätigkeit Liselotte Herrmanns als Pionierleiterin). In das öffentliche Bewusstsein rückte Liselotte Herrmann in Baden-Württemberg durch die Auseinandersetzung um den Gedenkstein, der am 20.6.1988 vor der Universität Stuttgart aufgestellt wurde – ohne deren Billigung – und „der ersten von den Nazis am 20.6.1938 hingerichteten Widerstandskämpferin Liselotte Herrmann“ gewidmet ist.
Quellen: Akten der NS-Justiz sowie Akten, deponierte NL und Erinnerungsstücke aus dem ehemaligen SED-Parteiarchiv (SAPMO) im BA, NL L. Herrmanns im Besitz der Angehörigen; von Friedrich Wolf gesammelte Materialien im Friedrich-Wolf-Archiv der Ak. der Künste Berlin; Wiedergutmachungsakten und gesammelte Materialien im Archiv der VVN-BdA B-W e. V.; Berichte und Erinnerungen von Zeitzeugen im Besitz der Verfasser/innen der neueren Literatur über L. Herrmann.
Nachweis: Bildnachweise: Von den in Lit. abgebildeten Fotos stellt die auf dem Titel der 1. Aufl. 1993 (Hardcover) von Clemens, Schweigen über Lilo, abgebildete junge Frau nicht L. Herrmann dar. In dem Film „Die erste Reihe“ (Fernsehen der DDR 1987) wurde die Rolle der L. Herrmann von Johanna Schall gespielt.

Literatur: Friedrich Wolf, L. Herrmann. Eine wahre Heldin unseres Volkes, 1946; ders., L. Herrmann. Die Studentin von Stuttgart, ein biographisches Poem, 1950; vertont als „Melodram“ von Paul Dessau 1952/53 (Einzelausgabe mit Faksimile der Partitur 1963); Stephan Hermlin, L. Herrmann, in: Die erste Reihe, 1951; So kannten wir dich Lilo. L. Herrmann, eine deutsche Frau und Mutter, 1954; Max Burghardt, Briefe, die nie geschrieben wurden, 1966; Willi Bohn, Stuttgart: Geheim!, 1969 (3. erw. Aufl. 1978); Karl Heinz Jahnke, Artur Göritz, L. Herrmann, in: Entscheidungen. Jugend im Widerstand 1933-45, 1970 (2. bearb. Aufl. 1985), 33-43; Peter Scherer/Peter Schaaf, Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Württemberg und Baden 1848-1949, 1984, 476 ff.; Ditte Clemens, Hoffnung auf Leben. Eine dokumentarische Erzählung über L. Herrmann, in: Güstrower Beiträge 2 (1989), 15-87; Eberhard Jäckel, L. Herrmann zwischen Legende und Wirklichkeit, in: Stuttgarter Uni-Kurier 37 (1988); Karin Algasinger, L. Herrmann. Untersuchungen zur Lebensgeschichte einer Widerstandskämpferin und zur Rezeption ihrer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus von ihrer Verhaftung bis heute in der Publizistik und der wiss. Forschung. Magisterarbeit (Fach Politikwissenschaft), Univ. Passau 1991; Ingeborg Höch, Keine Adresse oder Die ungeliebte Erinnerung, in: Stuttgart für Frauen, Entdeckungen in Geschichte und Gegenwart, 1992, 148-156; Ditte Clemens, Schweigen über Lilo. Die Geschichte der L. Herrmann, 1993 (2. Aufl. 1995); Eberhard Jäckel, Neues über L. Herrmann, in: Stuttgarter Uni-Kurier 57 (1993), 4; L. Herrmann, eine Stuttgarter Widerstandskämpferin, hg. von der VVN-BdA, B-W e. V., 2. erw. Aufl. 1993; Karl Heinz Jahnke, Ermordet und ausgelöscht: Zwölf deutsche Antifaschisten, 1995, 32-43; Lothar Letsche, L. Herrmann – Alleinerziehend im Widerstand, in: Lauter Frauen – Aufgespürt in Baden-Württemberg, 47 Porträts, 2000, 63-65.
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