Holl, Karl 

Andere Namensformen:
  • Holl, Carl
Geburtsdatum/-ort: 15.05.1866;  Tübingen
Sterbedatum/-ort: 23.05.1926; Berlin
Beruf/Funktion:
  • ev. Theologe und Kirchenhistoriker
Kurzbiografie: 1871–1879 Elementarschule und Gymnasium Tübingen
1879 Landexamen in Stuttgart
1879/1881 Ev. Seminar Maulbronn
1881/1883 Ev. Seminar Blaubeuren
1883 Konkursprüfung
1883/1884 Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger (1885 Vizefeldwebel)
1883–1888 Studium der ev. Theologie und Philosophie in Tübingen; Ev. Stift, Mitglied der Verbindung Normannia
1888 Erste theologische Dienstprüfung in Stuttgart; Ordination in Tübingen (Stiftskirche); Vikar in Rottenburg (Neckar) (Ev. Stadtkirche und Landesgefängnis)
1889 Promotion zum Dr. phil. in Tübingen mit dem Thema „Untersuchungen über Thomas Hobbes Logik“ (Doktorvater Christoph Sigwart)
1889/1890 Studienreise nach Berlin und Gießen
1890 Stadtvikar in Tübingen; Promotion zum Lic. theol. in Tübingen mit dem Thema: Der Brief des Polykarp an die Philipper; Referent Carl Heinrich Weizsäcker
1891 Stadtvikar in Stuttgart (Johanniskirche); Zweite theologische Dienstprüfung
1891/1894 Repetent am Tübinger Stift
1894/1896 Hilfsarbeiter an der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin
1894/1895 erste Studienreise nach Italien (weitere 1900, 1904); Studienreise nach Paris
1896 Habilitation für Kirchengeschichte in Berlin mit dem Thema „Die Sacra Parallela des Johannes Damascenus“ bei Adolf Harnack
1899 Verleihung des Prädikats Prof. (Preußen)
1900 ao. Prof. für Kirchen- und Dogmengeschichte in Tübingen
1906 o. Prof. für Kirchen- und Dogmengeschichte in Berlin
1912 Preußischer Roter-Adler-Orden
1912/1926 Ephorus Ev. Konvikt Johanneum Berlin
1914 Mitglied Preußische Akademie der Wissenschaften
1916 Geheimer Konsistorialrat (Preußen)
1917 Dr. iur. h. c. (Univ. Leipzig)
1924/1925 Rektor der Berliner Univ.
1925 Vorsitzender Luthergesellschaft
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1903 (Stuttgart) Maria Pauline (auch: Paulina) Anna (1869–1945), Tochter des Ludwig Johannes Wucherer (1839–1905), aus Nördlingen, 1876–1905 luth. Pfarrer in Steinach an der Ens (Kr. Neustadt an der Aisch) und der Sofie Weißbach (1843–1894)
Eltern: Vater: Johann Karl (auch: Carl) Christian Holl (1815–1881), aus Weinsberg, Oberrealschullehrer in Tübingen
Mutter: Wilhelmine Sophie (auch: Sofie), geb. Prager (1832–1907), aus Ravensburg
Geschwister: 3: (2 früh verstorben); Schwester Sophie Albertine (geboren 1857)
Kinder: 3:
Karl (1910–1941), PD Dr. phil, Religionswiss., verfasste u. a. „Die Naturales Quaes tiones des Philosophen Seneca“, 1935, gefallen als Leutnant der Wehrmacht bei Kopzewitschi;
Elly (geboren 1905), verh. Erich Lenschau (geboren 1895), Dr. phil., romanistischer Philologe, Bibliotheksangestellter in Tübingen;
Martha (1908–1959), Dr. phil., Schülerin von Eduard Spranger, verh. Kurt Wais (1907–1995), Prof. Dr. phil. Romanist, Komparatist, Prof. in Tübingen
GND-ID: GND/118553054

Biografie: Martin Otto (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 3 (2017), 100-106

Die Familie stammte von der östlichen Schwäbischen Alb und war ursprünglich katholisch. Der älteste namentlich bekannte Vorfahr war der 1755 in Röttingen in der Herrschaft Oettingen-Baldern (heute zur Stadt Lauchheim, Ostalbkreis) geborene Uhrmachermeister Johannes Kaspar Holl aus der Reichsstadt Bopfingen, die 1802 zu Bayern und 1810 endgültig zu Württemberg (Oberamt Neresheim) kam. Dessen Sohn Franz Xaver Holl (1790 – 1846) war Steuereinnehmer im württembergischen Staatsdienst geworden und hatte 1820 in Heilbronn die evangelische Friederike Jakobine Dorothea Schäfer geheiratet; er soll als württembergischer Beamter in einer Mischehe in der katholischen Diaspora des fränkischen Württembergs mit den „Deutschkatholiken“ des ehemaligen katholischen Priesters Johannes Ronge (1813 – 1887) sympathisiert haben und hinterließ ein Tagebuch, das seinen Enkel Karl Holl nachhaltig beeindruckte. Dessen Vater, der 1815 geborene evangelische Karl Holl, war ein Schulmann, als Lehrer zunächst von 1836 bis 1841 in Livland und Russland, dann in der Westschweiz tätig, ab 1855 im württembergischen Staatsdienst als (einziger) Reallehrer in Isny (Oberamt Wangen, Allgäu), bis er ab 1862 Oberreallehrer in Tübingen wurde; er war auch Autor zahlreicher Schulbücher, darunter auch das religionsgeschichtliche Realienbuch „Land und Volk Israel. Für Schule und Haus“ (Stuttgart 1869), ein „Leitfaden der mathematischen Geographie für höhere Schulen“ (Stuttgart 1871) sowie eine zwölf Auflagen erreichende „Erdbeschreibung in zwei Lehrstufen für die Schule bearbeitet“ (Stuttgart 1863, 12. Aufl. 1895); als junger Mann hatte er bereits eine „Geographische Heimatkunde von Württemberg und Deutschland“ (Reutlingen 1844) vorgelegt. Seine Mutter, die 1832 geborene Sophie, stammte aus einer evangelischen Ravensburger Familie, war väterlicherseits italienischer Abstammung und ging auf einen Kaufmann Brentano aus Parma zurück. Die Familie Holl bewohnte in der Tübinger Altstadt ab 1862 das heute noch bestehende Haus Hafengasse 5 (heute Spielwaren-Dauth).
Holl war das jüngste Kind und der einzige Sohn seiner Eltern, zudem das einzige in Tübingen geborene; die älteren Geschwister, von denen nur eine ältere Schwester das Kindbett überlebte, waren in Isny geboren worden. Das Elternhaus war politisch und religiös liberal geprägt; dem württembergischen Pietismus oder Erweckungsbewegungen stand die Familie ebenso fern wie der katholischen Kirche, prägender war wohl, soweit eine belastbare Aussage möglich ist, das deutschkatholische und untrennbar mit dem politischen Liberalismus verbundene Erbe des Großvaters. Der begabte Holl war von seinen Eltern bereits früh für das Pfarramt vorgesehen gewesen, und wechselte nach der Elementarschule und den ersten Gymnasialjahren ohne erkennbare Hindernisse und Schwierigkeiten auf die evangelischen Seminare Maulbronn und Blaubeuren, bestand auch ohne Schwierigkeiten im Anschluss daran die „Konkursprüfung“, die ihn berechtigte, als Zögling des Tübinger „Stiftes“ zu studieren. Holl leistete aber zunächst den Wehrdienst als Einjährig-Freiwilliger und „verbummelte“ die ersten beiden Semester für ein »studium generale«; er hörte den Geographen Friedrich August Quenstedt (1809 – 1889) und den Historiker Bernhard Kugler (1837 – 1898), daneben aber auch bei dem Stiftsrepetenten Daniel Völter (1855 – 1942) Kirchengeschichte. Völter, der die Historizität der Paulusbriefe bestritt, wurde 1885 in Amsterdam Professor für Neues Testament und ein bedeutender Vertreter der holländischen Radikalkritik. Ab 1884 betrieb Holl sein Theologie- und Philosophiestudium zielgerichtet und hörte insbesondere bei Rudolf von Roth (1821 – 1895), Heinrich Sigwart (1830 – 1904), systematische Theologie bei Robert Kübel (1838 – 1894) sowie Kirchengeschichte bei Carl Heinrich (von) Weizsäcker (1822 – 1899) und Kirchenrecht bei dem von dem schulbildenden Theologen Albrecht Ritschl (1822 – 1889) bekämpften Hermann Weiß (1833 – 1914). Als seinen einzigen Lehrer bezeichnete Holl allerdings im Rückblick Ferdinand Christian Baur (1792 – 1860), den Begründer der historisch-kritischen „Tübinger Schule“. Holl gehörte der freien nichtschlagenden Studentenverbindung Normannia Tübingen an, unter deren Mitgliedern viele Theologiestudenten des Stiftes waren; unter seinen Bundesbrüdern waren Christoph Blumhardt (1842 – 1919), Hermann von Zeller (1849 – 1937), Hermann von Soden (1852 – 1914) und insbesondere der Kirchenhistoriker Karl Müller (1852 – 1940). Rückblickend beklagte er das Fehlen der modernen Theologie in Tübingen; stärkeren Einfluss übten Repetenten des Stiftes aus, neben Völter auch sein eigentlicher Betreuer im Stift, Max Reischle (1858 – 1905), später Professor für systematische Theologie in Göttingen und Halle, der nicht nur Zugang zu der Theologie Ritschls verschaffte. 1888 bestand Holl mit Auszeichnung die erste Dienstprüfung, die Examensaufsätze zeigen einen stark an Ritschl und dessen Schüler Adolf Harnack (1851 – 1930) orientierten jungen Theologen; kirchengeschichtlich interessiert, bemühte er sich um ein Reisestipendium für Italien. Am 7. Oktober 1888 wurde Holl aber zunächst in der Tübinger Stiftskirche durch Dekan Viktor von Sandberger (1835 – 1912), den späteren Konsistorialpräsidenten (1905 – 1910), als Vikar der württembergischen Landeskirche ordiniert. Die erste Station des Vikariats absolvierte Holl in Rottenburg am Neckar; er war dem evangelischen Stadtpfarrer Karl Wilhelm Glauner (1838 – 1894) zugeordnet, der im Nebenamt Anstaltsgeistlicher am 1824 errichteten und ab 1884 erweiterten Königlichen Landesgefängnis Rottenburg war. Die Gefängnisseelsorge, aber auch die Konfrontation mit dem Katholizismus in der württembergischen Diaspora, in der Bischofsstadt Rottenburg gab es erst seit 1841 eine evangelische Pfarrstelle, sollte zwei Interessen des ohnehin breit aufgestellten Holl markieren. Gleichzeitig vollendete Holl 1889 seine philosophische Dissertation über Thomas Hobbes bei Sigwart in Tübingen und bewarb sich bei dem Stuttgarter Konsistorium um ein Reisestipendium für Norddeutschland, das ihm auch gewährt wurde. 1889 und 1890 verbrachte Holl zwei Semester in Berlin und Gießen. In Berlin hörte er bei seinem späteren Lehrer Harnack, dem er 1889 erstmals begegnete, zudem bei den Historikern Wilhelm Wattenbach (1819 – 1897), Heinrich von Treitschke (1834 – 1896) und Harnacks Schwager und Freund Hans Delbrück (1848 – 1929). Daneben nahm Holl aber auch an der Strafgefangenenseelsorge am preußischen Zellengefängnis in Berlin-Moabit aktiven Anteil. In Gießen hörte Holl bei dem Neutestamentler Emil Schürer (1844 – 1910), dem Alttestamentler Bernhard Stade (1848 – 1906) und dem Kirchenhistoriker Karl Müller (1852 – 1940; ab 1903 in Tübingen); eine Reise von Gießen unternahm er nach Marburg zu dem späteren Freund Adolf Jülicher (1857 – 1938), damals Extraordinarius für Neues Testament und Kirchengeschichte. 1890 meldete sich Holl bei seiner württembergischen Landeskirche zurück, wurde Stadtvikar in Tübingen bei Dekan Karl-August Elsässer (1839 – 1922; Vater des Architekten Martin Elsässer) und Stadtpfarrer Max Demmler (1846 – 1914) an der Stiftskirche. Gleichzeitig wurde Holl bei Carl Heinrich Weizsäcker mit einer kirchengeschichtlichen Arbeit über den Bischof und Kirchenvater Polykarp von Smyrna (69 – 155) zum Lizentiaten der Theologie promoviert. Weizsäcker vergab jedoch nur die schlechte Note „bene“, überliefert ist sein vernichtendes Urteil „besser überhaupt kein Polykarp als so einer.“ 1891 meldete sich Holl zur zweiten Dienstprüfung, gleichzeitig zog er aus dem wissenschaftlich fremd gewordenen Tübingen nach Stuttgart, wo er das Vikariat bei Stadtpfarrer Paul Mezger (1851 – 1913) an der erst 1876 geweihten innerstädtischen Johanneskirche am Feuersee antrat. Gleichzeitig betrieb er Privatstudien in der Kirchengeschichte. Nach der mit einer sehr guten Note abgeschlossenen zweiten theologischen Dienstprüfung in Stuttgart kehrte Holl aber noch einmal nach Tübingen zurück und trat eine Stelle als Repetent am Stift an, wie es auch Mezger von 1878 bis 1880 gewesen war. 1893/94 hielt der Lizentiat seine erste Tübinger Vorlesung über Patrologie, die sich großen Zuspruchs bei den Studenten erfreute. Seit dieser Zeit war Holl mit dem damals in Tübingen lehrenden Mediävisten Dietrich Schäfer (1845 – 1927) befreundet. In diese Zeit fällt aber auch der „Fall Schrempf“, einer der prominentesten Einzelfälle in Folge des „Apostolikumsstreits“. Der württembergische Pfarrer Christoph Schrempf (1860 – 1944) aus Leuzendorf im Dekanat Blaufelden hatte sich aus Gewissengründen geweigert, Teile des apostolischen Glaubensbekenntnisses liturgisch zu gebrauchen. In Folge wurde er auf Beschwerden aus seiner Gemeinde vom Konsistorium 1892 aus dem Pfarrdienst entlassen; der Fall sorgte für große Unruhe in der württembergischen Landeskirche, zahlreiche Pfarrer solidarisierten sich mit Schrempf. Holl stellte sich hinter Schrempf und distanzierte sich unter diesem Eindruck von der Theologie Ritschls; gleichzeitig nahm er unter diesem Eindruck endgültig Abschied vom Pfarramt. Die Hinwendung zu Harnack, der eine ähnliche theologische Position vertrat, wurde hierdurch gefördert; Harnack hatte Holl 1891 in Tübingen besucht und ihn zur Mitarbeit an einem Projekt der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewonnen, der Ausgabe der „Griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte“. 1894 stellt Holl ein Gesuch um Entlassung vom Stift. Ab Frühjahr 1894 arbeitete Holl in Berlin (Wohnsitze: Courbièrestraße 12, ab 1899 Große Präsidentenstraße 8) als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei der Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Harnack; er wurde mit der Bearbeitung der »Sacra Parallela« des Kirchenvaters und -lehrers Johannes von Damaskus (650 – 754) beauftragt. Daneben unterrichtete er am Berliner Viktorialyzeum (Prinzenstraße). Mit Unterstützung der Akademie unternahm Holl Studienreisen zu antiken Handschriften nach Rom und Paris. In diese Zeit fiel die endgültige Hinwendung zur Kirchengeschichte, die Berliner Habilitation 1896 bei Harnack sowie erste Veröffentlichungen zu den Kirchenvätern. Bei der Württembergischen Landeskirche war Holl beurlaubt. 1898 schied er als Berliner Privatdozent auch formal aus dem Tübinger Stift aus und löste damit zunächst letzte Bindungen an seine württembergische Heimat. Die besondere Verbindung wird allerdings deutlich, wenn Holl sich 1896 im Vorwort der Druckausgabe seiner Habilitation dem „Inspektorat des evangelischen Stifts in Tübingen verpflichtet“ bezeichnete, das „dem einstigen Zögling das alte Wohlwollen bewahrend“ die „Schätze seiner Bibliothek in liberalster Weise anvertraute“ (VI). Ab 1897 hielt Holl Vorlesungen in Berlin, 1899 wurde Holl der preußische Titel eines Professors verliehen. Während eines Studienaufenthaltes in Rom im Sommer 1900 zählte Holl zu den Mitarbeitern von Theodor Mommsen. Im April 1900 wurde Holl zum Nachfolger von Alfred Hegler (1863 – 1902), seit 1893 Inhaber des Extraordinariats für Kirchengeschichte, auf die „etatmäßige Stelle eines außerordentlichen Professors mit Lehrauftrag für Kirchen- und Dogmengeschichte“ in Tübingen berufen.
Erstmals auf einer finanziell auskömmlichen Stelle, gründete Holl mit der fränkischen Pfarrerstochter Anna Wucherer eine Familie. In dieser Zeit hatte Holl seinen Wohnsitz in Stuttgart in der Hegelstraße 37; in unmittelbarer Nähe der 1895 erbauten russisch-orthodoxen St.-Nikolaus- Kirche in der Seidenstraße; Holls erste Begegnung mit der Lebenswirklichkeit der Orthodoxie und der Ostkirchen ist auf diese Zeit zu datieren; ab 1916 lernte er die russische Sprache. In Tübingen gehörte Holl dem durch Georg von Below (1858 – 1927) neubegründeten „Historischen Kränzchen“ an.
Die räumliche Distanz zu Tübingen war bezeichnend, denn in den Briefen an den Marburger Freund Adolf Jülicher (1857 – 1938) und an Harnack klagte er über die unglücklichen gesellschaftlichen und kollegialen Verhältnisse, zudem fühlte er sich als Extraordinarius zusätzlich ausgegrenzt; als eine positive Ausnahme bezeichnete er allein Adolf Schlatter (1852 – 1938), der 1898 aus Berlin nach Tübingen auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für systematische Theologie berufen worden war. Die intensive Beziehung zu Schlatter führte zu einer Festigung seines Glaubens, die sich in einer Schrift zur Rechtfertigungslehre ausdrückte, doch strebte Holl aus Tübingen fort. 1906 stand er an zweiter Stelle für die Nachfolge von Adolf Hausrath (1837 – 1909) in Heidelberg. Im gleichen Jahr wurde er schließlich nach Berlin auf ein auf Bestreben Harnacks neu geschaffenes zweites Ordinariat für Kirchengeschichte berufen, gleichzeitig Mitglied der Kirchenväterkommission der Akademie. Bei der Berufung gab es Widerstände in der Fakultät gegen den vermeintlich liberalen Holl; auch hier stand Holl zunächst im Schatten Harnacks, erneut kam der Wunsch eines Wechsels auf, diesmal nach Marburg zu Jülicher. Mit der Wahl in die Preußische Akademie konnte Holl seine Position aber festigen. 1915 setze Holl sich 1915 mit Harnack für eine Berufung von Ernst Troeltsch (1865 – 1923) nach Berlin ein, 1897 für einen Ruf von Jülicher auf die Nachfolge Bernhard Weiß (gegen Weiß, Seeberg). Nachfolger wurde aber 1908 gegen die Mehrheit der Fakultät mit Hilfe des Ministeriums Adolf Deißmann (1866 – 1937). 1916 setze er sich für die Zuwahl Karl von Müllers in die Berliner Akademie ein. Neue Forschungsvorhaben kamen mit den Ostkirchen und Russland hinzu, zum echten Schwerpunkt wurde aber die Luther-Forschung; Holl wurde zu einem Wegbereiter der Lutherrenaissance in Folge des zunächst noch vom Krieg überschatteten Reformationsjubiläums 1917; seine Lutherstudien verstand Holl als „Kriegsarbeit“. Im Dezember 1916 hielt Holl im Rahmen des „Kriegslehrgangs“ der Inneren Mission vor evangelischen Feldgeistlichen in Warschau und Vilnius Vorträge zu der „Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben des Protestantismus.“ Der Erste Weltkrieg entfremdete Holl auch von der liberalen Theologie, vehement unterstützte er die deutschen Kriegsziele. Mit dieser Entwicklung stand Holl jedoch nicht allein; ein weiterer liberaler „Renegat“ aus der „Christlichen Welt“ war etwa Gottfried Traub. Gleichwohl stellte er sich, enttäuscht über die Flucht des Kaisers und den Zusammenbruch der Monarchie, nach der Novemberrevolution hinter die „augenblicklichen Machthaber“, damit „überhaupt noch eine Ordnung zustande kommt.“ 1921 erschien der erste Band der Lutherbiographie von Holl, eine Anthologie von kirchengeschichtlichen Aufsätzen und gleichzeitig der erste Band seiner gesammelten kirchengeschichtlichen Aufsätze, eines der wichtigsten theologischen Werke der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen Rezeption nicht auf Theologen beschränkt blieb; Holls Lutherbuch gehörte zur Lektüre des Widerstandkämpfers Peter Graf Yorck von Wartenburg in der Gefängniszelle. Bis 1914 hatte Holl in der „Christlichen Welt“ und der Zeitschrift „Die Zukunft“ von Maximilian Harden (1861 – 1927) publiziert. 1922 war Holl Rezensent eines Frühwerkes von Ernst Bloch (1885 – 1977), „Thomas Münzer als Theologe der Revolution“; bei Bloch zeige sich „wohl ein heißes Bemühen, geistreich und tiefsinnig zu erscheinen, aber keine Kraft zum Vollbringen.“ Ab 1917 predigte er wieder regelmäßig als Geistlicher in den akademischen Gottesdiensten der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche im Berliner Hansaviertel. 1923 sollte Holl Nachfolger Karl von Müllers in Tübingen werden; berufen wurde dann 1924 Gustav Anrich (1867 – 1930). Höhepunkt des Ansehens von Holl war seine Wahl zum Rektor der Berliner Universität 1924. Im Herbst 1925 besuchte er Moskau und Leningrad, um an der Zweihundertjahrfeier der 1724 gegründeten Russischen Akademie der Wissenschaften teilzunehmen. Seit 1917 befasste sich Holl eingehend mit Leo Tolstoi und Alexander Blok, bemühte sich um ein Verständnis der Oktoberrevolution und des Bolschewismus; nach seiner Reise in die Sowjetunion stellte er fest, dass die meisten „keine Rückkehr zur alten Regierung wünschten.“ Ab 1919 befasste er sich auch mit dem marxistischen Theoretiker Karl Kautsky. Eine Gefäßerkrankung führte dazu, dass Holl zunehmend nur noch im Sitzen arbeiten konnte; er litt an Auszehrung und Überarbeitung. 1926 erlag er in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg, Mommsenstraße 13, einem Schlaganfall. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Südwest- Kirchhof in Stahnsdorf bei Berlin (Block Trinitatis). Sein Sohn Karl Holl der Jüngere wurde Religionswissenschaftler, habilitierte sich ebenfalls in Berlin und fiel als Offizier im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront. Die jüngere Tochter Martha war mit dem Tübinger Romanisten Kurt Wais verheiratet und war eine der ersten Doktorandinnen von Eduard Spranger in Berlin, mit dem sie ihr Leben lang befreundet blieb, und der sie als die ihm „nächststehende Freundin in Tübingen“ bezeichnete.
Karl Holl war einer der bedeutendsten und schulbildenden Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts. Bis heute rezipiert wird er in erster Linie als Lutherforscher und Wegbereiter der „Lutherrenaissance“ ab dem Ersten Weltkrieg. Beachtenswert ist dabei, dass Holl mit seinem Lutherbuch keine Monographie, sondern eine Sammlung von neun älteren Aufsätzen vorlegte. Kritiker warfen Holl eine zu idealistische, idealisierende und harmonisierende Lutherdeutung vor. Holl beeinflusste durch seine Schriften zur frühchristlichen Frömmigkeit sehr stark Max Weber. Nicht genug hervorgehoben werden kann die Übersetzungs- und Editionsarbeit von Holl bei den frühchristlichen griechischen Autoren; die von ihm begonnene Edition des Kirchenvaters Epiphanius (Epiphanios von Salamis) (315 – 403), deren erster Band 1910 erschien; die weiteren Bände erschienen lange nach Holls Tod bis 2009 (Bd. 2, 1980; Bd. 3, 2006; Bd. 4, 2009). Über die Kirchenväter fand Holl zu einer intensiven Beschäftigung mit den Ostkirchen bis hin zu Leo Tolstoi. Zu den bedeutendsten Schülern von Holl ist wohl Dietrich Bonhoeffer zu rechnen, zu der engeren Holl-Schule etwa die Kirchenhistoriker Hermann Wolfgang Beyer (1898 – 1942), Heinrich Bornkamm (1901 – 1977), Helmuth Kittel (1902 – 1984), Erich Vogelsang (1904 – 1944) und Hanns Rückert (1901 – 1974); der Ostkirchenhistoriker Robert Stupperich (1904 – 2003) konnte seine Promotion wegen Holls Tod nicht mehr vollenden. Auch Emanuel Hirsch (1888 – 1972) ist zu nennen, ragt aber als eigenständige Figur heraus. Holl war stark im national-sozialen Protestantismus verwurzelt und ursprünglich ein Vertreter der liberalen Theologie. Noch 1920 schrieb er an Harnack über das Neue Testament: „Die Wundergeschichten, die von den Säuen, im Joh. ev. die Hochzeit zu Kana. Das kann doch niemand ertragen!“ Auch wenn Harnack der wohl wichtigste Einfluss auf Holl war, ist der Einfluss seiner württembergischen Jahre nicht zu unterschätzen, auch in der frühen Abgrenzung vom Pietismus. Nach dem Ersten Weltkrieg entfremdete sich Holl zunehmend von der liberalen Theologie, schätzte das Alte Testament höher ein und förderte etwa Paul Althaus (1888 – 1966); 1924 kritisierte er Karl Barths Paulusdeutung, der wiederum Holl in seiner „Kirchlichen Dogmatik“ (1932 f.) kritisierte; bereits 1925 hatte Holl in einem Brief geschrieben „zehnmal lieber das [die Theologen Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten] als Holl! Nur das nicht!“ Mit dem deutsch-amerikanischen Kirchenhistoriker Wilhelm Pauck (1901 – 1988) gab es aber auch Barth und Karl Holl gleichermaßen verbundene Theologen. Trotz seines breit aufgestellten Werkes und seiner unbestrittenen Bedeutung, sowohl für die Theologie wie für den Kulturprotestantismus fehlt bis heute eine grundlegende Monographie zu Holl. Auch die nachgelassenen Briefe von Holl, die zum Teil noch nicht veröffentlicht wurden, sind eine wichtige Quelle etwa auch zur württembergischen Kirchengeschichte.
Quellen: UAT; UnivA Humboldt-Univ. Berlin; Friedhofsverwaltung Südwestfriedhof Stahnsdorf.
Werke: Die sacra parallela des Johannes Damascenus, 1897; Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen. 4. Aufl. 1898; Fragmente vornicänischer Kirchenväter aus den sacra parallela, 1899; Amphilochius von Ikonium. In seinem Verhältnis zu den grossen Kappadoziern, 1904; Die geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola: eine psychologische Studie, 1905 (2. Aufl. 1927); Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus, 1906; Modernismus, 1908 (2. Aufl. 1925); Johannes Calvin, 1909; Die handschriftliche Überlieferung des Epiphanius, 1910; Thomas Chalmers und die Anfänge der kirchlich-sozialen Bewegung, 1913; Was verstand Luther unter Religion?, 1917; Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus: Vorträge gehalten beim Kriegslehrgang des Zentralausschusses für innere Mission in Warschau und Wilna am 8. und 12. Dezember 1916, 1917; Der Szientismus, 1918; Luther und Calvin, 1919; Steiners Anthroposophie, 1921; Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, 1921; Bd. 2: Der Osten, Bd. 3: Der Westen, 1928; Augustins innere Entwicklung, 1923; 3. Aufl. 1923; Der Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu dem der Urgemeinde, 1922; Tolstoi nach seinen Tagebüchern, 1922; Rez. Ernst Bloch, Thomas Müntzer als Theologe der Revolution, in: Theologische Literaturzeitung 47 (1922), 401-403; Die Entstehung der vier Fastenzeiten in der griechischen Kirche, 1924; Reformation und Urchristentum, 1924; Urchristentum und Religionsgeschichte, 1925; Über Begriff und Bedeutung der „dämonischen Persönlichkeit“, 1925; Die Bedeutung der neuveröffentlichten melitianischen Urkunden für die Kirchengeschichte, 1925; Christliche Reden, 1926; Briefwechsel mit Adolf von Harnack, hg. von H. Karpp, 1966; Kleine Schriften, hg. von R. Stupperich, 1966; Bericht des Stadtvikars Lic. Dr. Karl Holl über die im Winter 1889/90 von ihm ausgeführte wissenschaftliche Reise nach Norddeutschland, in: ZThK 1978 (Beiheft 4), 119-137.
Nachweis: Bildnachweise: s/w-Photographie (undatiert, nach 1906) Porträtsammlung Berliner Hochschullehrer; Historische Sammlungen der UB, Humboldt-Univ. Berlin; zwei s/w Abbildungen (undatiert, zwischen 1891 und 1906), UB Tübingen.

Literatur: W. Koch, in: LThK, Bd. 5, 1933, 621; A. Jülicher/E. Wolf, in: RGG, Bd. III, 3. Aufl. 1959, 432 f.; H. Jedin, in: LThK, 2. Aufl. 1960, Bd. 5, 444; W. Bodenstein, Die Theologie Karl Holls im Spiegel des antiken und reformatorischen Christentums, 1968; W. Delius, in: NDB, Bd. 9, 1972, 532 f.; R. Stupperich, Karl Holls Oststudien und ihr Einfluss auf sein politisches Denken, in: HZ 215 (1972), 345-367; ders., Karl Holl im kirchlichen Ringen seiner Zeit. Dargestellt nach seinen Briefen, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 53 (1981), 55-91; ders., Karl Holls Briefe an Paul Gennrich nach Dembowalonka/Westpr., Breslau und Königsberg, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 66 (1987), 157-168; J. Wallmann, Karl Holl und seine Schule, in: ZThK 1978 (Beiheft 4), 1-33; ders., in: TRE, Bd. XV, 1986, 514-518; L. Siegle-Wenschkewitz, Zu Karl Holls wissenschaftlichem Bildungsgang, in: ZThK 1978 (Beiheft 4), 112-119; T. Uecker, in: BBKL, Bd. 2, 1990, 1001-1003; H.-C. Rublack, Zur Problemlage der Forschung zur lutherischen Orthodoxie in Deutschland, in: ders. (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, 1992, 13-32 (14-19); K.-V. Selge, Die Berliner Kirchenhistoriker, in: R. Hansen/W. Ribbe (Hg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, 1992, 409-447 (433-438); H. Assel, Der andere Aufbruch: Die Lutherrenaissance. Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910 – 1935), 1994; ders., Vom Nebo ins gelobte Land: erfahrene Rechtfertigung. Von Karl Holl zu Rudolf Hermann, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 39 (1997), 248-269; ders., in: RGG, 4. Aufl. 2000, Bd. III, 1843; E. Lessing, Der evangelische Grundartikel in theologiegeschichtlicher Perspektive. Die Rechtfertigungslehre zwischen Ritschl und Holl, in: FS G. Sauter, 1995, 56-76; S. A. Riddoch, The Ernst Troeltsch- Karl Holl controversy and the writing of reformation history, 1996; G. Schöllgen, in: LThK, 3. Aufl. 1996, Bd. V, 229; J. M. Stayer, „Luther und die Schwärmer.“ Karl Holl und das abenteuerliche Leben eines Textes, in: FS H. J. Goertz, 1997, 269 – 288; C. Danz, Glaube und Autonomie: zur Deutung der Rechtfertigungslehre bei Karl Holl und Paul Tillich, in: Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, 2005, 159-174; A. Wiebel, Zur Genese des Begriffs Lutherrenaissance, in: Luther 74 (2003), 80-88; S. Drecoll, Karl Holl, in: V. H. Drecoll/J. Baur/W. Schöllkopf (Hg.), Stiftsköpfe, 2012, 327-334; C. Svinth-Værge Põder, Die Lutherrenaissance im Kontext des Reformationsjubiläums. Gericht und Rechtfertigung bei Karl Holl 1917 – 1921, in: Kirchliche Zeitgeschichte 26 (2013), 191-200; F. W. Graf, Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, 2014, 94 f.; H. Ohme, Karl Beth (1872 – 1959) und Karl Holl (1866 – 1926). Zwei Pioniere der Konfessionskunde orthodoxer Kirchen an der Berliner Theologischen Fakultät, in: Theologische Literaturzeitung 141 (2016), 735-746.
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