Horkheimer, Max 

Geburtsdatum/-ort: 14.02.1895;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 07.07.1973; Nürnberg, Beisetzung auf dem jüd. Friedhof Bern
Beruf/Funktion:
  • Philosoph und Soziologe
Kurzbiografie: 1910–1914 nach d. Untersekunda Lehrzeit im väterl. Betrieb in Stuttgart-Zuffenhausen, danach mit dem Freund Friedrich Pollock Auslandsaufenthalte in Belgien, Frankreich u. England
1914–1917 Juniorchef im väterl. Betrieb u. schriftstellerische Tätigkeit
1917–1918 Einberufung zum Militär u. Sanatoriumsaufenthalt
1919–1922 Abitur in München; Studium d. Psychologie, Ökonomie u. Philosophie in München (SS 1919), Frankfurt am M. u. Freiburg (WS 1920/21-SS 1921), wo er Husserl u. Heidegger hörte; Promotion „summa cum laude“ bei Hans Cornelius (1863–1947) in Frankfurt: „Zur Antinomie d. teleolog. Urteilskraft“
1925–1930 Habilitation: „Über Kants Kritik d. Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoret. u. prakt. Philosophie“; Privatdozent für Philosophie an d. Univ. Frankfurt
seit 1930 Ordinarius für Sozialphilosophie u. Direktor des Instituts für Sozialforschung
1933–1949 Emigration über Genf in die USA. Fortführung d. Arbeit des Instituts, bis 1946 in lockerer Verbindung mit d. Columbia University New York; 1940 US-Staatsbürgerschaft
1932–1942 Herausgeber d. Zs. für Sozialforschung, seit 1940 englisch als Studies in Philosophy and Social Science
1941–1944 Übersiedlung nach Pacific Palisades bei Los Angeles u. Zusammenarbeit mit Adorno bei d. „Dialektik d. Aufklärung“; Buchpublikation 1947
1944–1949 Chief Research Consultant des American Jewish Committee bei d. Durchführung des vom Institut entworfenen Antisemitismus-Projekts u. Mitherausgeber d. 5-bänd. „Studies in Prejudice“
1950–1962 Wiedereinsetzung als Ordinarius für Sozialphilosophie, seit 1953 Philosophie u. Soziologie, u. Direktor des Instituts für Sozialforschung (1950) in Frankfurt am M.; Rektor 1951 bis 1953; Emeritierung 1962
1954–1959 Gastprofessur an d. University of Chicago; 1957 Übersiedlung nach Montagnola, Tessin
seit 1967 Publikation früherer Arbeiten, u.a. „Kritische Theorie. Eine Dokumentation“
1973 Tod in Nürnberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr.
Auszeichnungen: Ehrungen: Goethe-Plakette d. Stadt Frankfurt am Main (1953); Ehrenbürger d. Stadt Frankfurt am Main (1960); Bürgermedaille d. Stadt Stuttgart (1970); Lessing-Preis d. Stadt Hamburg (1971)
Verheiratet: 1926 (Cronberg, Ts.) Rosa Christine (Maidon), geb. Riekher (1897–1969), Tochter des Hermann u. d. Rosina, geb. Roberts
Eltern: Vater: Moses (Moriz, 1858–1945), Fabrikant, Kommerzienrat, Sohn des Feist, Handelsmann, u. d. Babette, geb. Schwarzenberger
Mutter: Babette, geb. Lauchheimer (1869–1946), Tochter des Samuel, Handelsmann, u. d. Fanny, geb. Ottenheimer
Geschwister: keine
Kinder: keine
GND-ID: GND/118553615

Biografie: Rolf Wiggershaus (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 187-192

Als einziges Kind eines sehr erfolgreichen jüdischen Textilfabrikanten, der es bis zum Kommerzienrat brachte, war Horkheimer dazu bestimmt, Nachfolger seines Vaters zu werden. Der Schulabgang nach der Untersekunda, die Lehrlingszeit, die zum Kennenlernen anderer Betriebe gedachten Auslandsaufenthalte, die Jahre als Juniorchef während des I. Weltkriegs entsprachen ganz dem Willen des Vaters.
Schon während der Lehrlingszeit begann die lebenslange enge Freundschaft Horkheimers mit Friedrich Pollock (1894–1970), dem Sohn eines assimilierten jüdischen Lederfabrikanten. Während der Jahre als Juniorchef kam eine weitere lebenslange Verbindung hinzu: die zur Hotelierstochter Rosa Christine Riekher. Bei Bekanntwerden der Beziehung wurde sie sofort als Privatsekretärin von Horkheimers Vater entlassen. Der Widerstand der Eltern gegen die lange als Mesalliance abgelehnte Liaison förderte die Entstehung eines Dreierbundes, der Horkheimer später in jeder Situation einen Hort des Verständnisses und der Solidarität bot.
Durch Pollock wurde Horkheimer auf Schopenhauer aufmerksam. Dieser wie er selbst ursprünglich zum Unternehmer bestimmte Philosoph wurde zu seinem „angebeteten geistigen Vater“ (Ges. Schr. Bd. 15, 1995, S. 25). Selber verfasste Horkheimer während der Kriegsjahre eine größere Zahl erst postum veröffentlichter sozialkritischer Novellen. In der Novelle „Arbeit“, die Maidon gewidmet ist, wie Horkheimer seine spätere Frau nannte, predigt und prophezeit der Sohn eines Fabrikanten „vor den sprachlosen Commis und Buchhaltern die Revolution, den Aufstand des Volkes für Daseinsbedingungen, die ihm den Zugang zu wahrer Kultur ermöglichen“ (Ges. Schr. Bd. 1, 1988, S. 247).
Als Horkheimer zusammen mit Pollock nach dem Krieg in München das Abitur nachholte und dann bald in Frankfurt Psychologie, Ökonomie und Philosophie studierte, vertrug sich das zunächst noch mit den Absichten des Vaters. Doch als Horkheimer eigens des Philosophen Edmund Husserl wegen sein Studium vorübergehend in Freiburg fortsetzte, war der Vater alarmiert. Im persönlichen Gespräch mit dem berühmten Phänomenologen erfuhr der Selfmademan und Millionär, sein Sohn habe Talent zur Philosophie. Zwar machten weder der Professor noch dessen Urteil auf den Vater besonderen Eindruck, er begann sich aber damit abzufinden, dass die Karriere des Sohnes anders als erhofft verlaufen würde. Horkheimer seinerseits hatte in Freiburg auch Martin Heidegger erlebt und war von dessen Auftreten so beeindruckt, dass er die Verachtung seines Vorbildes Schopenhauer für die Universitätsphilosophie nicht länger uneingeschränkt teilte. Er nahm gerne das Angebot des neukantianischen Frankfurter Philosophen Hans Cornelius wahr, bei ihm zu promovieren und sein Assistent zu werden. Seinem späteren Mitarbeiter, Kollegen und Freund Theodor Wiesengrund-Adorno erschien Horkheimer weniger als ein Student denn als „ein junger Herr aus wohlhabendem Haus, der der Wissenschaft ein gewisses distanziertes Interesse zollt“ (Die Zeit, 12.2.1965).
Nach der Habilitation bei Cornelius wurde Horkheimer 1925 Privatdozent. Um diese Zeit spielte sein Freund Pollock, inzwischen promovierter Ökonom, bereits eine führende Rolle am 1924 gegründeten „Institut für Sozialforschung an der Frankfurter Universität“. Gestiftet hatte es der Ökonom und linke Mäzen Felix Weil zusammen mit seinem Vater Hermann, der einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Steinsfurt bei Sinsheim entstammte, in Argentinien als Getreidegroßhändler zu Reichtum gelangt war und nach einer Erkrankung in Frankfurt wohnte. Felix Weil wollte der marxistischen Theorie jenseits der Vereinnahmung durch politische Parteien eine akademische Heimstatt verschaffen. Das Institut sollte autonom, der Direktor aber gleichzeitig Ordinarius sein. Als 1928 der erste Leiter, Carl Grünberg (1861–1940), unheilbar erkrankte, wurde Horkheimer plötzlich zum aussichtsreichen Kandidaten. Er entsprach den Erwartungen des jungen Felix Weil, dessen Vater inzwischen gestorben war, und die Universität war angesichts von Horkheimers Lehrerfolg und Felix Weils Bereitschaft zur Stiftung weiterer Lehrstühle bereit, Horkheimers Berufung auf einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie zuzustimmen. So wurde Horkheimer 1930 Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität und Direktor des Instituts für Sozialforschung.
Zu Horkheimers publizistischem Debüt wurde eine Kritik an Karl Mannheim (1893–1947), der mit seiner 1929 erschienenen Aufsatzsammlung „Ideologie und Utopie“ über Nacht berühmt geworden und sogleich als Soziologe nach Frankfurter berufen worden war. Marx sei es um die Scheidung wirklicher Erkenntnisse vom verklärenden Schein der Ideologie und um die Veränderung bestimmter gesellschaftlicher Zustände gegangen, Mannheim aber sei „mit einigen Stücken aus der Rüstkammer des Marxismus“ (Ges. Schr. Bd. 2, 1987, S. 294) in die Höhe verantwortungsloser blinder Philosophie zurückgekehrt, warf Horkheimer dem Kollegen vor. Dass das kein Bekenntnis zum Marxismus war, sondern zu einem von Marx exemplarisch entwickelten Typus kritischer Gesellschaftstheorie, machen auf pointierte Weise Aphorismen der Jahre 1926 bis 1931 deutlich, die Horkheimer 1934 pseudonym unter dem Titel „Dämmerung“ in der Schweiz veröffentlichte. Manche Menschen, heißt es in einem Aphorismus über „Gefahren der Terminologie“, beruhigten sich bei der Feststellung eines Übels durch den Besitz einer Theorie, die es erkläre. „Ich denke dabei auch an manche Marxisten, welche angesichts des Elends rasch dazu übergehen, es zu deduzieren. Man kann auch mit dem Begreifen zu rasch sein.“ (Ges. Schr. Bd. 2, 1987, S. 327) In seiner öffentlichen Antrittsvorlesung über „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“ entwarf Horkheimer im Januar 1931 sein Programm eines interdisziplinären Materialismus. Es gehe dabei, so hieß es in der Zeitschrift für Sozialforschung, die für ein Jahrzehnt zum von ihm herausgegebenen Organ des Instituts wurde, um „die Erkenntnis des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs“, die sich von anderen auf eine übergreifende Schau gerichteten geistigen Unternehmungen dadurch unterscheide, dass sie „auf die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit abzielt“. Mit ihrer Arbeit an einer so verstandenen „Theorie der Gesamtgesellschaft“ sähen sich die „jungen Gelehrten verschiedener Fächer“ an der Seite der „vorwärts strebenden Kräfte der Menschheit“ (Zs. für Sozialforschg. H. 2, 1933, S. 161).
Dank seines Doppeltalents als Denker und Wissenschaftsorganisator vermochte Horkheimer vielseitig begabte und weitgehend außerhalb des Universitätsbetriebs aktive Personen für ein gemeinsames Unternehmen zusammenzuführen und zu begeistern. Zwei der wichtigsten waren der Soziologe und Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) und der Philosoph und Musiker Theodor Wiesengrund-Adorno (1903–1969).
Dem Aufbruch des Horkheimer-Kreises in der Blütezeit der Frankfurter Universität bereitete die NS-„Machtübernahme“ schon nach kurzer Zeit ein Ende. Horkheimer – unter die Kategorien Jude und Marxist fallend – gehörte zu den ersten, die von der Universität verwiesen wurden. Das Gebäude des Instituts wurde als „kommunistisches Vermögen“ beschlagnahmt. Nach einer Zwischenstation in Genf etablierte es sich wieder in New York, in lockerer Anbindung an die Columbia University. Liberale Kollegen empfahlen es einer konservativen, aber New Deal-freundlichen Universitätsleitung mit der Einschätzung, es sei zwar „on the liberal-radical side“, doch handle es sich um eine „research agency with high standards and not interested in propaganda“ (L. Feuer, The Frankfurt Marxists and the Columbia Liberals, in: Survey, 1980, S. 163). Durch Horkheimers 1937 erschienenen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ bekam sein Forschungs- und Theorie-Unternehmen seinen bleibenden Namen. Es zielte auf ein kritisches Verhalten gegenüber dem Bestehenden insgesamt. „Die kritische Theorie“, so Horkheimers inhaltliche Bestimmung, „hat bei aller Einsichtigkeit der einzelnen Schritte und der Übereinstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung der Klassenherrschaft. Diese negative Formulierung ist der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft.“ (Zs. für Sozialforschg. H. 2, 1937, S. 291f.)
Anfang der 1940er-Jahre übersiedelte Horkheimer an die Westküste der USA, wo er zusammen mit Adorno das seit langem geplante große theoretische Werk verfassen wollte, zu dem für ihn alles Bisherige bloße Vorarbeit war. Das letzte Heft der Institutszeitschrift wurde 1942 von Horkheimers Aufsatz „The End of Reason“ eröffnet. Gemeint war damit die Sackgasse einer Vernunft, die auf technisch-instrumentelle Beherrschung der Natur zielte und nicht darauf, „dass mit der Vernunft der Mensch aus der Befangenheit der Natur erwacht, um sie zu begreifen“ (Ges. Schr. Bd. 5, 1987, S. 349). Man kann darin das Programm der „Philosophischen Fragmente“ sehen, die in den folgenden zwei Jahren entstanden und unter dem Titel „Dialektik der Aufklärung“ zum berühmtesten Text der Frankfurter Schule wurde. Statt wie einst von einer klassenlosen Gesellschaft die Entfesselung der Produktivkräfte und ein Ende der Ausbeutung von Menschen zu erhoffen, kritisierten Horkheimer und Adorno nun eine Fixierung auf Naturbeherrschung, die keinen Raum für eine Selbstreflexion der Natur im Menschen und damit auch nicht für ein Ende sozialdarwinistischer Konkurrenz bot – für ein Loskommen der menschlichen Spezies vom „survival of the fittest“. Die damaligen Reaktionen auf Horkheimers und Adornos Gemeinschaftswerk, in dem die beiden seinerzeit bloß die „ersten Proben“ eines „work in progress“ sahen, zeugten von Unverständnis angesichts der Kombination von konservativer Zivilisations- und progressiver Gesellschaftskritik. Besser kam da Horkheimers 1947 auf Englisch erschienenes Buch „Eclipse of Reason“ an, hervorgegangen aus einem Vorlesungszyklus an der Columbia University im Frühjahr 1944 und auf Deutsch 1967 unter dem Titel „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ erschienen. Horkheimer stellte darin der herrschenden „subjektiven Vernunft“ eine einst dominierende „objektive“ gegenüber. Für erstere bestehe Rationalität in der Verwendung geeigneter Mittel für die Erreichung bestimmter Ziele, die im Interesse des Akteurs lägen. Objektiver Vernunft sei es dagegen um die Bestimmung des Menschen und die Verwirklichung höchster Ziele gegangen. Horkheimer verstand es, anschaulich zu machen, was die Formulierung „Dialektik der Aufklärung“ besagte. Ein Vater mochte noch einen Spaziergang machen und dabei Vergnügen an der Landschaft empfinden, bei seinen Kindern aber würde der Fortschritt eines an Nützlichkeitsmaßstäben orientierten Denkens früher oder später dazu führen, dass sie meinten, „die Pflicht gegenüber ihrem Körper erfüllt zu haben, wenn sie nach den Kommandos einer Radiostimme einen Gymnastikkurs absolvieren“ (Ges. Schr. 6, 1991, S. 56). Landschaft, wie sie ein Spaziergänger erlebt, würde nicht länger existieren, würde überflüssig oder verfiele zum Touring-Erlebnis.
Noch während der theoretischen Arbeit an der „Dialektik der Aufklärung“ wurde es für Horkheimer ernst mit einer neuen wissenschaftsorganisatorischen Herausforderung. Bei dem ihm wichtigsten der Projekte, für die das Institut sich um Fördermittel bemüht hatte, dem über Antisemitismus, kam es zur Zusammenarbeit mit dem American Jewish Committee, das in den 1940er-Jahren zur Bekämpfung antisemitischer Vorurteile auf Sozialwissenschaft und politische Erziehung zu setzen begann. Nach einer ersten Förderperiode wurde Horkheimer 1944 Gründer und wissenschaftlicher Leiter der Forschungsabteilung des Komitees in New York. Zum wichtigsten Teilprojekt wurde das an der Westküste unter Aufsicht Horkheimers durchgeführte Berkeley-Projekt. Dessen Bedeutung für das Komitee bestand im wissenschaftlichen Nachweis einer engen Verbindung zwischen Antisemitismus und destruktivem Charakter und der darin liegenden Bedrohung für die Demokratie. Die F(ascism)-Scale wurde berühmt als ein Instrument, das mit indirekten Indices – nämlich ohne Erwähnung von Juden und diskriminierten Minderheiten – die Feststellung und Messung faschistischer Charakterdispositionen ermöglichen sollte. „The Authoritarian Personality“ erschien als letzter der fünf Bände der „Studies in Prejudice“. Bis es soweit war, vergingen Jahre des Konflikts zwischen den beiden Herausgebern, in denen Horkheimer zeitweise die Hoffnung auf eine Publikation der Ergebnisse aufgab. Während es ihm um langfristige Untersuchungen ging, setzte Samuel H. Flowerman (1912–1958), der Kollege und Konkurrent an der Spitze der Forschungsabteilung, auf weniger aufwendige und weniger kostspielige Tests und kurzfristige Untersuchungen.
Wie wichtig Publikationen waren, machte eine im Frühjahr 1946 im Auftrag der Columbia University vorgenommene Evaluation deutlich. Die wissenschaftliche Qualität des Institute of Social Research wurde vorbehaltlos anerkannt, aber ein zu geringer publizistischer Ausstoß bemängelt. Es drohte die offizielle Empfehlung, Horkheimers Institut mit dem in die Universität integrierten „Bureau of Applied Social Research“ zusammenzulegen. Dem kam Horkheimer durch die Abkopplung des Instituts von der Universität zuvor.
Es folgten Jahre der Improvisation, in denen sich Stimmen häuften, die zur Rückkehr nach Deutschland einluden, zur Fortsetzung der Rolle aufforderten, die das Institut einst in Europa zu spielen begonnen hatte. Horkheimer schwankte. Sollte er sich in Zukunft in Amerika stärker zurückgezogener theoretischer Arbeit widmen oder sollte er in Europa, in Deutschland „aus Nichts und Ruinen etwas Großes schaffen“ (Biogr. Interviews mit Max Horkheimer u. Friedrich Pollock von E. von Schenck, 4 Tonbänder von 1965/66, Abschr. S. 184), wie Pollock später im Rückblick formulierte, der gegen die Rückkehr war? Im April 1948 reiste Horkheimer nach einem Jahrzehnt erstmals wieder nach Europa – von der Rockefeller Foundation finanziell unterstützt und vom „Bureau of Applied Social Research“ mit einem Forschungsauftrag versehen. Nach Wochen in Frankreich und Deutschland, die angefüllt waren mit Sitzungen, Reisen und Besuchen, kam er zu dem Ergebnis, es gebe kaum einen Platz, auf den es im Augenblick mehr ankäme als auf Deutschland. Nicht nur könne man dort die Lage direkt vor Ort analysieren, man hätte da auch mit Menschen zu tun, „die man viel nachhaltiger beeinflussen könnte als die jungen Amerikaner“, schrieb er im Juli 1948 an Pollock in den USA. „Unsere Arbeit für die Vereinigten Staaten und für den Frieden wäre in Europa viel wirkungsvoller als in den USA selbst.“ (Ges. Schr. Bd. 17, 1996, S. 1003)
Zurück kehrten schließlich zusammen mit ihren Frauen die drei, die an vor der Emigration in Frankfurt begonnene universitäre Karrieren anknüpfen konnten: Horkheimer, Adorno und Pollock – der „homogene Kern“ des Instituts bzw. des Horkheimer-Kreises. Der US-amerikanische Hohe Kommissar, John McCloy (1895–1989), stellte beträchtliche Mittel für die anfängliche Arbeit des Instituts und einen Neubau zur Verfügung. Jemandem wie Horkheimer traute er einen wirkungsvolleren Beitrag zur Reeducation zu als der begonnenen Entnazifizierung. Dass die wichtigsten Repräsentanten des Instituts Juden waren, erleichterte die Rückkehr. Es fügte sich gut zum Wunsch von Stadt und Universität – so Hellmut Becker, Sohn des einstigen preußischen Hochschulreformers Carl Heinrich Becker und zeitweiliger Berater Horkheimers – „an einem markanten Beispiel ein Stück praktischer Wiedergutmachung“ (H. Becker, Horkheimers u. Adornos Rückkehr, in: A. Nachama u.a. (Hgg.), Aufbau nach dem Untergang, 1992, S. 368) zu leisten.
Bei der Eröffnung des neuen Instituts im November 1951 ließ Horkheimer anklingen, was er anderthalb Jahrzehnte vorher in seinem Aufsatz über „Traditionelle und kritische Theorie“ über das „kritische Verhalten“ gesagt hatte. Eine „gewisse kritische Haltung zu dem, was ist“, gehöre sozusagen zum Beruf des Theoretikers der Gesellschaft, und die Studenten dazu zu erziehen, „diese Spannung zum Bestehenden“ (Institut für Sozialforschung, Ein Bericht über die Feier seiner Wiedereröffnung, 1952, S. 12) zu ertragen, sei vielleicht das wichtigste Ziel der Bildung. Eine Woche später sprach er als neugewählter Rektor der Universität „Zum Begriff der Vernunft“ und griff auf die „Eclipse of Reason“ und die Gegenüberstellung von subjektiver und objektiver Vernunft zurück. Die „entzauberte Welt“ lebe heute noch von den Residuen ihres mythischen Erbes. Doch deren Kraft schwinde. Vorsichtiger, ja raunender als bei der Einweihung des Institutsneubaus formulierend meinte er, durch die treue Hingabe an das, was ist, werde verstanden werden, was nottut; denn in allem Erkennen stecke „ein kritisches, ins Wirkliche treibendes Moment“ (Ges. Schr. Bd. 7, 1985, S. 35). Horkheimers Vorlesungen wurden in den 1950er-Jahren zu universitären Ereignissen. Durch Vorträge und durch Beiträge und Präsenz in den Medien wurde er zu einer Art öffentlichem Intellektuellen und verkörperte – wie er es erhofft hatte – „den Hauch von etwas anderem“. Wissenschaftsorganisatorisch wurde das 1956 in den mit Alexander Mitscherlich organisierten Sigmund-Freud-Vorlesungen zum 100. Geburtstag des Begründers der Psychoanalyse besonders deutlich.
In der Folge vertrat Horkheimer, der nun seinen Hauptwohnsitz in Montagnola im Tessin hatte, immer entschiedener die Ansicht, es gehe um die Verteidigung der letzten Reste bürgerlicher Zivilisation und der zu ihr gehörenden Idee individueller Freiheit. In einem Festvortrag in der Paulskirche zum 100.Geburtstag Schopenhauers empfahl er 1960 der Jugend diesen „hellsichtigen Pessimisten“ als „unendlich aktuellen“ Autor (Ges. Schr. Bd. 7, 1985, S. 127 u. 137). Protestbewegungen, ob gegen Atomwaffen oder den Krieg der USA in Vietnam gerichtet, waren in Horkheimers Augen nur geeignet, den Trend zur „verwalteten Welt“ zu beschleunigen, in der die Gleichheit zunehmen mochte, aber für die Freiheit kein Raum blieb. Er scheute in den späten 1960er-Jahren nicht die Auseinandersetzung mit Studenten, sprach jedoch in Notizen und in von Pollock aufgezeichneten Bemerkungen deutlich aus, dass er deren Proteste in Form, Inhalt und Zielsetzung konfus fand. Umso irritierter war er darüber, dass frühere Texte von ihm nicht nur in Raubdrucken kursierten, sondern auch als Quelle rebellischer Parolen dienten. Er reagierte darauf und publizierte 1968 nach langem Zögern fast alle seine Aufsätze aus den Jahren 1931 bis 1941 im Frankfurter S. Fischer-Verlag in teilweise bearbeiteter Form neu. Der Titel beider Bände lautete bezeichnenderweise „Kritische Theorie. Eine Dokumentation“, gewidmet mit demonstrativem Hinweis auf eine besondere historische Situation: dem „Andenken an Lisel Paxmann“, einer 1935 verhafteten und auf ungeklärte Weise zu Tode gekommenen früheren Schülerin Horkheimers, und den „anderen Studenten aller Länder, die im Kampf gegen den Terror ihr Leben verloren“ (Kritische Theorie, 1968, IX).
1969 und 1970 starben die drei Menschen, die Horkheimer am meisten bedeuteten: Pollock, Maidon, seine Frau, und Adorno. Horkheimer war weiterhin beschäftigt mit zahlreichen Anfragen zu Leben und Werk, mit der Herausgabe eigener Texte, mit privater Korrespondenz. In Interviews der letzten Jahre erschien er gelegentlich wie ein religiös angehauchter Künder unaufhaltsamen gesellschaftlichen Niedergangs. Schon Titel wie „Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ (1970) oder „Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen“ (1972) wiesen darauf hin. Gleichzeitig konstatierte er 1971 in einem in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienenen Artikel über „Die Zeitgemäßheit der Philosophie Schopenhauers“ hellsichtig: „Der Weg der Menschheit zur raffiniertesten Species auf dem Planeten wird fortgesetzt.“ (ebd., 21.3.1971)
Die Vielseitigkeit seines Wirkens und der Wechsel der Schauplätze und Epochen machen Horkheimer zu einer singulären Figur seiner Zeit. Über eine mustergültige Ausgabe der „Gesammelten Schriften“ hinaus gibt es einen in Umfang und Vielfalt unerschöpflich scheinenden schriftlichen Nachlass. All das macht es wahrscheinlich, dass das internationale Interesse am Begründer der Frankfurter Schule weiterhin eher zu- als abnehmen wird.
Quellen: Nachlass im Archivzentrum d. UB u. im UA Frankfurt am M.; UA München, Stud-Kart I u. Stud-BB-581; UA Freiburg D0081/273 u. 275, Adressbücher.
Werke: Verzeichnisse d. Schriften, Rundfunkaufnahmen, Vorlesungen u. Seminare in: Gesammelte Schriften, Bd. 19, hgg. v. G. Schmid-Noerr, 1996, 97-149, 195ff., 210ff., 216ff. – Gesammelte Schriften, 19 Bde., hgg. v. A. Schmidt u. G. Schmid- Noerr, 1985-1996 (veröffentl. u. nachgelassene Schriften, Briefauswahl). – Auswahl: Ein neuer Ideologiebegriff?, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus u.d. Arbeiterbewegung, hgg. v. C. Grünberg, Bd. XV, 1930, 1-34; Anfänge d. bürgerl. Geschichtsphilosophie, 1930; Die gegenwärtige Lage d. Sozialphilosophie u. die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, in: Frankfurter Universitätsreden, H. XXXVII, 1931; Bemerkungen über Wissenschaft u. Krise, in: Zs. für Sozialforschung H. 1/2, 1932, 1-7; Geschichte u. Psychologie, ebd. H. 1, 1932, 125-144; Hegel u. das Problem d. Metaphysik, in: FS für Carl Grünberg, 1932, 185-197; Materialismus u. Metaphysik, in: Zs. für Sozialforschung H. 1, 1933, 1-33; Materialismus u. Moral, ebd. H. 2, 1933, 162-197; Zum Problem d. Voraussage in den Sozialwissenschaften, ebd. H. 3, 407-412; (unter dem Pseudonym Henrich Regius), Dämmerung, 1934; Zu Bergsons Metaphysik d. Zeit, Zs. für Sozialforschung H. 3, 1934, 321-342; Zum Rationalismusstreit in d. gegenwärt. Philosophie, ebd. H. 1, 1934, 1-53; Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, ebd. H. 1, 1935, 1-25; Zum Problem der Wahrheit, ebd. H. 3, 1935, 321-364; Egoismus u. Freiheitsbewegung, ebd. H. 2, 1936, 161-234; Theoretische Entwürfe über Autorität u. Familie. Allgemeiner Teil, in: Studien über Autorität u. Familie, 1936, 3-76; Zu Theodor Haecker: Der Christ u. die Geschichte, in: Zs. für Sozialforschung H. 3, 1936, 372-383; Der neuestes Angriff auf die Metaphysik, ebd. H. 1, 1936,4-53; Traditionelle u. kritische Theorie, ebd., H. 2, 1937, 245-294; Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, ebd., H. 2, 1937, 407-414; (mit H. Marcuse) Philosophie u. kritische Theorie, ebd. H. 3, 1937, 625-643; Montaigne u. die Funktion der Skepsis, ebd. H. 1/2, 1938, 1-54; Die Philosophie d. absoluten Konzentration, ebd. H. 3, 376-387; Die Juden u. Europa, ebd. H. 1/2, 1939, 115-137; The Relation between Psychology and Sociology in the work of Wilhelm Dilthey, in: Studies in Philosophy and Social Science H. 3, 1940, 430-443; The Social Function of Philosophy, ebd. H. 3, 322-337; Art and Mass Culture, ebd. H. 2, 1941, 290-304; (mit Mitarbeitern des IfS), Notes on Institute Activities. Research Project on Anti-Semitism, ebd. H. 1, 1941, 121-143; Autoritärer Staat, in: Walter Benjamin zum Gedächtnis, 1941, 123-161; The End of Reason, in: Studies in Philosophy and Social Science H. 3, 1942, 366-388; Philosophische Fragmente (mit T. W. Adorno), 1944; Sociological Background of the Psychoanalytic Approach, in: Anti-Semitism, hgg. von E. Simmel, 1946, 1-10; (mit T. W. Adorno), Dialektik d. Aufklärung. Philosophische Fragmente, 1947; Eclipse of Reason, 1947; Authoritarianism and Family Today, in: The Family, hgg. von R. N. Anshen, 1949, 359-374; The Lessons of Fascism, in: Tensions That Cause Wars, hgg. von H.Cantril, 1950, 209-242; Ideologie u. Wertgebung, in: Soziologische Forschung in unserer Zeit, hgg. von K. G. Specht, 1951, 220-227; Invarianz u. Dynamik in d. Lehre von d. Gesellschaft, in: Kölner Zs. Für Soziologie u. Sozialpsychologie H. 2/3, 1951, 242-249; Zum Begriff d. Vernunft, in: Frankfurter Universitätsreden, H. 7, 1952; Gegenwärtige Probleme d. Universität, ebd. H. 8, 1953; Schopenhauer u. die Gesellschaft, in: Schopenhauer-Jb. 1955, 49-57; Zum Begriff des Menschen heute, in: Wesen u. Wirklichkeit des Menschen, 1957, 261-280; Erinnerung, in: Das Recht d. Tiere, H. 1/2, 1959, 7; Philosophie als Kulturkritik, in: Untergang oder Übergang, 1958, 9-34; Soziologie u. Philosophie, in: Soziologie u. moderne Gesellschaft, 1959, 27-37; Die Aktualität Schopenhauers, in: Schopenhauer-Jb. 1961, 12-25; Nachwort, in: Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte, hgg. von T. Koch, 1961, 255-272; (mit T. W. Adorno), Sociologica II, 1962; Um die Freiheit, 1962; Theismus-Atheismus, in: Zeugnisse, 1963, 9-19; Zur Kritik d. instrumentellen Vernunft (enthält die dt. Übersetzung d. Eclipse of Reason durch H.s Schüler Alfred Schmidt), 1967; Kritische Theorie, 2 Bde., hgg. von A. Schmidt, 1968; Zur Kritik d. gegenwärtigen Gesellschaft, in: Opposition in d. Bundesrepublik, hgg. von H. Glaser u.a., 1968; Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, 1970; Verwaltete Welt, 1970; Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden, in: Spiegel vom 5. 1. 1970, 79-84; Pessimismus heute, in: Schopenhauer-Jb. 1971, 1-7; Die Zeitgemäßheit d. Philosophie Schopenhauers, in: Neue Zürcher Ztg. vom 21.3.1971; Gesellschaft im Übergang, hgg. v. W. Brede, 1972; Sozialphilosophische Studien, hgg. v. W. Brede, 1972; Aus d. Pubertät, hgg. von A. Schmidt, 1974; Das Schlimme erwarten u. doch das Gute versuchen, in: G. Rein, Dienstagsgespräche mit Zeitgenossen, 1976, 149-188.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (Rektoratsübernahme 1951), in: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), S. 185, Max-Horkheimer-Archiv, Archivzentrum UB Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am M. – Bronzeplastik, im Auftrag d. Stadt Frankfurt am M. zum 70. Geburtstag ihres Ehrenbürgers angefertigt von dem einst für NS-Zeitungen tätigen Bildhauer Knud Knudsen, aufgest. in einem Lesesaal d. UB Frankfurt; im Nachlass zahlr. Fotos (vgl. Quellen).

Literatur: T. W. Adorno, Offener Brief an Max Horkheimer, in: Die Zeit vom 12.2.1965; W. Post, Kritische Theorie u. metaphys. Pessimismus, 1971; H. Gumnior u.a., Max Horkheimer in Selbstzeugnissen, 1973; A. Schmidt, Zur Idee d. kritischen Theorie, 1974; A. Skuhra, Max Horkheimer, 1974; M. Jay, Dialektische Phantasie, 1976; H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation u. polit. Erfahrung, 1978; J. Habermas u.a., Gespräche mit Herbert Marcuse, 1978; G.-W. Küsters, Der Kritikbegriff d. Kritischen Theorie, 1980; L. Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, 1980; J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, 1981; M. Maor, Max Horkheimer, 1981; K. F. Geyer, Kritische Theorie, 1982; W. von Reijen u.a. (Hgg.), Vierzig Jahre Flaschenpost: „Dialektik d. Aufklärung“, 1987; O. Asbach, Kritische Gesellschaftstheorie u. historische Praxis, 1997; S. Breuer, Horkheimer oder Adorno, in: Leviathan 3, 1985; H. Brunkhorst, Dialektischer Positivismus des Glücks, in: Zs. für philosophische Forschung 3, 1985; A. Honneth, Kritik d. Macht, 1985; A. Schmidt u.a. (Hgg.), M. H. heute, 1986; A. Honneth u.a., Hg., Die Frankfurter Schule u. die Folgen, 1986; R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, 1986; D. Kellner, Critical Theory, Marxism and Modernity, 1989; J. Habermas, Texte u. Kontexte, 1991; P. M. R. Stirk, Max Horkheimer, 1992; H. Becker, Horkheimers u. Adornos Rückkehr, in: A. Nachama u.a. (Hgg.), Aufbau nach dem Untergang, 1992; Z. Rosen, Max Horkheimer, 1995; W. Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule u. Studentenbewegung, 1998; C. Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung d. Bundesrepublik, 1999; A. Demirovic, Der nonkonformistische Intellektuelle, 1999; A. Honneth (Hg.), Schlüsseltexte d. Kritischen Theorie, 2006; M. Boll u.a. (Hgg.), Die Frankfurter Schule u. Frankfurt, 2009; T. Wheatland, The Frankfurt School in Exile, 2009; R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, 2010; J. Abromeit, Max Horkheimer and the Foundation of the Frankfurt School, 2011; A. N. Rubin, Archives of Authority, 2012; R. Wiggershaus, Max Horkheimer, 2013.
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