Hückel, Erich Armand Arthur Joseph 

Geburtsdatum/-ort: 09.08.1896; Berlin-Charlottenburg
Sterbedatum/-ort: 16.02.1980; Marburg
Beruf/Funktion:
  • Physiker
Kurzbiografie: 1902 IV–1914 III Schulbildung in Göttingen: bis März 1905 – Vorschule, danach humanist. Gymnasium
1914 IV–1916 VII Studium d. Physik u. Mathematik an d. Univ. Göttingen
1916 VIII–1918 V u. 1919 I–1920 XII Dienst an d. Modellversuchsanstalt für Aerodynamik in Göttingen
1918 VI–XII Seeflugzeugmatrose, ab Juli 1918 beim Versuchskommando in Warnemünde
1921 I 26 Promotion zum Dr. phil.: „Zerstreuung von Röntgenstrahlen durch anisotrope Flüssigkeiten“
1921 IV–1922 IX Hilfsassistent bei D. Hilbert, ab April 1922 Assistent bei M. Born am Mathematischen bzw. Physikalischen Institut in Göttingen
1922 X–1930 IV Assistent für Physik an d. ETH Zürich, ab April 1928 beurlaubt
1924 XII 12 Habilitation für das Fach Physik: „Zur Theorie konzentrierter wässriger Lösungen starker Elektrolyte“
1928 IV–1930 IX Stipendiat des Rockefeller Fonds in London, Cambridge, Kopenhagen u. Leipzig, ab Oktober 1929 d. Notgemeinschaft d. dt. Wissenschaften
1930 X–1937 X Beauftragter Dozent für Chemische Physik, ab April 1935 nicht beamteter ao. Prof. für Physik an d. TH Stuttgart. Anfang 1931 Habilitation für das Fach Chemische Physik: „Quantentheoretischer Beitrag zum Benzolproblem. Die Elektronenkonfiguration des Benzols u. verwandter Verbindungen“
1937 XI–1962 bis Nov. 1938 stellvertretender, dann planmäßiger ao. Professor für Theoretische Physik an d. Univ. Marburg; ab 1961 als persönlicher Ordinarius
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Otto-Hahn-Preis für Chemie u. Physik (1965); Dr. h. c. d. TH Stuttgart (1966); Mitglied d. Akademie d. Naturforscher Leopoldina, Halle (1966); Dr. h. c. d. Univ. Uppsala (1973); Mitglied d. Royal Society, London (1977); Ehrenmitglied d. Bunsen-Gesellschaft (1977)
Verheiratet: 1925 (Göttingen) Annemarie (Anne), geb. Zsigmondi (1904–1990)
Eltern: Vater: Armand (1860–1927), Dr. med., Arzt, Dozent, ab 1894 unabhängiger Wissenschaftler
Mutter: Maria, geb. Maier (1869–1947)
Geschwister: 2; Walter Karl Friedrich Bernhard (1895–1973) u. Rudi (1899–1949), Dr. med., Arzt
Kinder: 4;
Richard Georg (geboren 1930), Physiker,
Bernhard (1931-ca. 1976), Geophysiker,
Manfred Willy (geboren 1933) Musiker,
Irene Marie Luise (geboren 1944), verh. Liessem
GND-ID: GND/118554344

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 196-200

Hückel war das zweite Kind einer außergewöhnlichen Familie. „Wir haben die besten Eltern gehabt, die es geben kann“, charakterisierte er sie im Alter (1975, S. 164). Der Vater, ein Mensch von „ungewöhnlichem Intellekt“ (ebd, S. 16) studierte 1879 bis 1885 Medizin in Tübingen und wurde dort anschließend Privatdozent für Innere Medizin. Er verzichtete aber auf eine akademische Laufbahn, um eine Familie gründen zu können. Seine Begabungen ließ er der harmonischen und gesunden Entwicklung seiner Söhne zukommen: „Ich schätze das, was wir von meinem Vater erfahren und gelernt haben, sehr viel höher als alles, was uns die 9 Jahre Freiheitsentziehung im Gymnasium gegeben oder nicht gegeben haben“ schrieb Hückel später (ebd., S. 43). Diese Abneigung gegen die Schule bewahrte Hückel lebenslang. Im Gymnasium waren nur Mathematik, Physik und Chemie „Lichtblicke“ für ihn (1975, S. 63). Beim Abitur entschied er sich, Physik zu studieren.
Hückel genoss nur „ein ungestörtes Semester“ in Göttingen (1970, S. 181). Mitte 1916 musste er kriegsbedingt das Studium unterbrechen. Seinen Wehrdienst konnte Hückel bei der „Modellversuchsanstalt für Aerodynamik“ in Göttingen und 1918 beim Versuchskommando in Warnemünde ableisten, wobei er unter dem Ingenieur Max Munk (1890–1986), dem späteren bekannten Aeronautiker, Messungen und Berechnungen durchführte. Die Resultate, vier Artikel zusammen mit Munk, sind sein wissenschaftliches Debüt.
Ab Anfang 1919 konnte Hückel sein Studium in Göttingen fortsetzen. Peter Debye (1884–1966) nahm ihn als Doktorand an und schlug vor, seine röntgenographische Methode der Kristalluntersuchung (Debye-Scherrer-Methode) auf die von Otto Lehmann entdeckten „flüssigen Kristalle“ anzuwenden. Bemerkenswert ist, dass Hückel sein Versuchsmaterial teilweise von seinem Bruder Walter erhielt. Die Arbeit zeigte, dass „flüssige Kristalle“ eigentlich keine Kristalle sind, auch wenn sie Anisotropie, d. i. die Richtungsabhängigkeit des Brechungsindexes, besitzen. Debye, seit Sommer 1920 an der ETH Zürich tätig, diskutierte die Ergebnisse mit seinem Doktoranden in Briefen. Im Dezember 1920 erhielt er das Typoskript der Dissertation, genehmigte sie und teilte seine Meinung an seinen Vertreter Professor Emil Wiechert (1861–1928) mit, dessen Gutachten Hückel Sorgfalt und experimentelles Geschick attestiert, „ein Resultat, welches für die Wissenschaft wertvoll ist“ (UA Göttingen, Promotionsakte Hückel).
Wegen strenger Arbeitsbeschränkungen für Ausländer in der Schweiz verzögerte sich Hückels angedachte Assistenz bei Debye in Zürich. Hilbert konnte ihn jedoch bei sich als Hilfsassistenten unterbringen, was Hückels Kontakte zu diesem großen Gelehrten auch dank dessen allgemeinen Vorlesungen über „Denkmethoden der exakten Wissenschaften“ vertiefte und seine wissenschaftliche Entwicklung, insbesondere seine Fähigkeit, über die Grenzen einer einzelnen Wissenschaft hinaus zu sehen, stark beeinflusste. Nach einem Jahr bei Hilbert bekam Hückel eine Assistentenstelle bei Max Born (1882–1970). Zuvor, ab Oktober 1921, hatten ihn Born und Debye, die Herausgeber der „Physikalischen Zeitschrift“, mit der Führung der Redaktionsgeschäfte betraut. Diese Pflicht, insbesondere „ungeeignete Arbeiten abzulehnen“ (1975, 85), beschäftigte Hückel ein Jahr lang, bis er endlich nach Zürich gehen durfte. Dort wartete eine ganz andere Arbeit auf ihn: die an einer neuen Theorie der starken Elektrolyten. Grundidee dazu war, dass in wässrigen Lösungen, z.B. von Kochsalz, keine Moleküle von NaCl existieren, sondern ausschließlich Ionen Na+ und Cl-, d.h., dass die sog. „elektrolytische Dissoziation“ vollständig ist, wobei die Bewegung eines jeden Ions durch die elektrischen Ladungen der Nachbarionen beeinflusst wird. Die damals herrschende Vorstellung von Svante Arrhenius (1859–1927) unterstellte, dass die elektrolytische Dissoziation dem Massenwirkungsgesetz folgt und deswegen unvollständig sei. Debye und Hückel entwickelten nun diese Idee zu einer Theorie, die thermodynamische Eigenschaften und elektrische Leitfähigkeit verdünnter Lösungen starker Elektrolyte quantitativ beschrieb. Der erste Teil wurde im Mai, der zweite im August 1923 publiziert. Mit einigen Verfeinerungen und Erweiterungen findet sich diese Theorie noch heute in Lehrbüchern für physikalische Chemie. 1924 erweiterte Hückel diese Aussage auf konzentrierte Lösungen. Davon handelte seine im November 1924 vorgelegte Habilitationsschrift. Im Januar 1925 wurde er Privatdozent und vertrat Debye, der eine mehrmonatige Vortragsreise in den USA unternahm, bei der Hauptphysikvorlesung.
Nach der Habilitation konnte Hückel heiraten; er war seit seiner Assistentenzeit in Göttingen mit einer Tochter von Richard Zsigmondy verlobt, des Professors für anorganische Chemie (1865–1929). Zsigmondy, dem 1926 der Nobelpreis für seine Forschungen kolloidaler Lösungen verliehen wurde, schätzte die wissenschaftlichen Fähigkeiten Hückels sehr hoch, hatte aber die Habilitation als die Bedingung für die Heirat gesetzt. Durch den Schwiegervater angeregt griff Hückel bald für seine weitere selbstständige Arbeit Probleme der Kolloidwissenschaft auf. Sein Werk „Adsorption und Kapillarkondensation“ erschien in der durch Zsigmondy gegründeten und herausgegebenen Reihe „Kolloidforschung in Einzeldarstellungen“ Anfang 1928. Die über 300 Seiten starke Monographie behandelt thermodynamisch und molekulartheoretisch die Gleichgewichtszustände bei Adsorption von Gasen und Dämpfen an festen Oberflächen und in porösen Körpern und wurde durch die Rezensenten sehr hoch eingeschätzt. Offenbar hatte Hückel ein passendes nächstes Arbeitsgebiet gefunden.
Dank der Vermittlung Debyes konnte Hückel als Rockefeller-Stipendiat im April 1928 nach London gehen, um bei Professor Frederick Donnan (1870–1856), einem Experten in der Kolloidwissenschaft, an dessen Institut des University College in London über Adsorption aus Lösungen zu arbeiten. Bald begriff Hückel aber, dass er „aufs falsche Pferd gesetzt hatte“ (1975, S. 125): Weder experimentell noch konzeptuell war das Gebiet für eine einheitliche theoretische Bearbeitung reif. Eine Besprechung mit Debye veranlasste ihn, sein ursprüngliches Gebiet der klassischen Physik für die eben entstandene und sich stürmisch entwickelnde neue Physik einzutauschen, die „Quantenmechanik“, die in einer Version „Wellenmechanik“ hieß. Bereits im Juni 1928 teilte Donnan dem Vorstand der europäischen Abteilung des Rockefeller-Fonds mit, dass Hückel „Zusammenhänge zwischen chemischer Valenz und der neueren Quantentheorie“ erforschen wird (Karacholios, 2010, S. 35). Hückel studierte nun die einschlägigen Werke und Anfang 1929 hielt er fünf Vorlesungen über neue Theorien in der Universität: „Das ist die beste Methode, ein Gebiet kennenzulernen, das einem neu ist“ (1975, S. 126). So vorbereitet konnte Hückel nun an die Hochburg der Quantenmechanik, Kopenhagen, zu Niels Bohr wechseln. Die Zeit in Kopenhagen, vom April bis Juni 1929 im Kreis hochtalentierter Fachkollegen, war anregend und fruchtbar. Bohr wies Hückel auf die kürzlich geschaffene quantenmechanische Theorie des einfachsten Moleküls (H2) hin. „Er meinte, man könne versuchen, auch die Doppelbindung wellenmechanisch zu behandeln“ (1970, S. 182).
Als Hückels Rockefeller-Stipendium abgelaufen war, vermittelten ihm Debye und Max von Laue (1879–1960) für ein Jahr ein Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaften, so dass er seine Arbeit fortzusetzen konnte. Offensichtlich dank seiner stetigen Kontakte mit seinem Bruder Walter wählte Hückel die für die organische Chemie wichtige C=C-Doppelbindung als Thema. Seine Fachkollegen hielten das Problem für nachgerade unlösbar, Hückel fand jedoch die Lösung, indem er die Elektronen nach ihren Wellenfunktionen in π- und σ-Elektronen aufteilte und die kühne Vereinfachung wagte, dass zwischen beiden Elektronenarten keine Wechselwirkung bestehe. So konnte er insbesondere das stereochemische Verhalten von C=C- und C=N-Doppelbindungen erklären, nämlich ihre Stabilität gegen Verdrehen. Diese Pionierarbeit bedeutete die Geburt der organischen Quantenchemie.
Als Hückels zweites Stipendium zu Ende ging, hatte er immer noch keine feste Stelle: Für sein Arbeitsgebiet gab es damals keine Lehrstühle, also auch keine Assistentenstellen. Debye konnte schließlich Professoren der TH Stuttgart überzeugen, für Hückel einen Lehrauftrag im Fach „Chemische Physik“ einzurichten. Auftragsgemäß musste Hückel nun in jedem Semester vier Stunden Vorlesungen und eine Stunde Übungen pro Woche mit mindestens drei Zuhörern veranstalten. Es blieb von Semester zu Semester unsicher, ob dies einzuhalten war, und daran war geknüpft, ob die Mittel weiter bewilligt wurden. Die Zeit in Stuttgart nannte Hückels Frau immer „sieben Jahre der Schmach“ (1975, S. 137).
Trotz solch ungünstiger Verhältnisse bewältigte Hückel damals eine erstaunlich intensive und vielseitige schöpferische Arbeit, was sich teilweise in seinen Vorlesungen widergespiegelt, die, in jedem Semester neu, ein breites Spektrum von Themen abdeckten. Den Schwerpunkt seiner theoretischen Forschungen bildete die quantenmechanische Behandlung der chemischen Bindung. Im Wintersemester 1934/35 las er: „Quantentheorie der Molekularkräfte, insbesondere Theorie der Valenz“. Sein Bruder Walter machte ihn in diesem Zusammenhang auf das seit Jahrzehnten ungelöste „Benzol-Problem“ aufmerksam: Das eigenartige, sogenannte „aromatische“ Verhalten des Benzols und der ähnlichen Ringsysteme ließ sich mit den bekannten Theorien nicht erklären. Hückels obengenannter Ansatz indes erschien zur Lösung des Benzol-Problems geeignet, wobei Hückel die noch neue quantenmechanische Theorie der Elektronen in Metallen für seine Zwecke effektiv verwenden konnte. Sein Hauptwerk, vier umfangreiche quantenmechanische „Beiträge zum Problem der aromatischen und ungesättigten Verbindungen“, erschien 1931 bis 1933 und entwickelt, was man heute HMO-Theorie (Hückel-Molekül-Orbital-Theorie) nennt. Hückel fand hier u.a. heraus, dass nicht der Ring aus Atomen, sondern das Elektronengerüst des Moleküls aromatisches Verhalten bewirkt, wenn die Zahl der π-Elektronenpaare ungerade ist. Die Zahl der π-Elektronen muss gleich 2+4n (n = 0, 1, 2,…) sein. Das ging als „Hückel-Regel“ in die Terminologie ein. Aufgrund dieser Regel konnte Hückel die Existenz einer Reihe unbekannter aromatischer Moleküle und freier Radikale voraussagen, die während der 1950/1960er-Jahre meist in den USA synthetisiert wurden. Obwohl später überholt, zeigte sich sein Ansatz zur Weiterentwicklung und Verfeinerung als äußerst fruchtbar.
Einer der Begründer der Molekül-Orbitale-Methode, Nobelpreisträger Robert Mulliken (1896–1986), nannte in seinem Nobelvortrag Hückels Methode „für den Organiker seit vielen Jahren ungewöhnlich nutzbringend“ (Angewandte Chemie 79, 1967, S. 548) und hieß Hückels Werk über Benzol „monumental“ (Journal of chemical Physics 43, 1965, S. 8). Zunächst wurde es aber kaum wahrgenommen, trotz mehreren Vorträgen, die Hückel hielt: „Es war furchtbar schwer, diese Vorträge zu halten und vielleicht nicht leichter, sie zu verstehen“ (1970, S. 185). „Die Erstaufführung meiner «großen Benzoloper» war jedenfalls ein ausgesprochener Misserfolg“ (1972, S. 55). Schließlich bemühte sich Hückel, eine speziell für Chemiker bestimmte Übersicht seiner Ergebnisse zu verfassen.Dafür verbrachte er einige Wochen im Herbst 1936 in Breslau, wo sein Bruder damals lehrte. In „fruchtbarem Gedankenaustausch“ mit ihm (1937, S. 849) schuf Hückel eine recht gelungene zusammenfassende Darstellung, die „Grundzüge der Theorie ungesättigter und aromatischer Verbindungen“, die zunächst als zwei Zeitschriftartikel und dann in Buchform publiziert wurden. In der Vorbemerkung erklärte Hückel, er bemühe sich, die Grundgedanken der Theorie darzustellen „ohne Benutzung der Geheimsprache“ der neuen Quantentheorie, wo aber deren „Geheimsprache unübersetzbar bleibt, ihre Ausdrücke verständlich zu umschreiben“ (1938, S. 3). Mulliken bezeichnete dieses Werk Hückels sofort als „glänzend“ (Journal of Chemical Physics 7, 1939, S. 123). In Deutschland erhielt das Buch nur eine einzige Rezension. Der bedeutende Physikochemiker auf dem Gebiet der Spektroskopie, Günter Scheibe (1893–1980), begrüßte die Schrift „auf’s wärmste“ und empfahl sie „jedem Chemiker, der einen wachen Sinn für die weitere Entwicklung unserer Wissenschaft hat“ (Angewandte Chemie 51, 1938, S. 310). Dennoch hatte Hückel kaum eine Chance, im Heimatland gehört zu werden, da dort noch die empirische organische Chemie vorherrschte, die Theorien vernachlässigte. Sein Gebiet passte sich aber auch nicht in die „Deutsche Physik“ des „Dritten Reichs“ ein, und viele Fachleute, mit denen Hückel hätte Kontakt aufnehmen können, waren aus Deutschland vertrieben.
Im Herbst 1937 erhielt Hückel seinen einzigen Ruf. Er wurde planmäßiger außerordentlicher Professor für theoretische Physik an der Universität Marburg. Anfangs hatte er sich geweigert, in die Partei einzutreten, obwohl ihm das immer wieder geraten wurde. Um seine Lage zu verbessern, war er 1934 widerstrebend in die NS-Volkswohlfahrt (NSV) eingetreten und hatte die Stelle eines NSV-Blockwarts übernommen. Um endlich eine Beamtenstelle erhalten zu können, sah er sich gezwungen, Parteimitglied zu werden, weswegen er bei der Entnazifizierung als „Mitläufer“ eingestuft wurde. Zwar hatte er jetzt die feste Anstellung und sichere wirtschaftliche Grundlage, prompt verschlechterten sich seine Möglichkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten: Ohne Assistenten und Sekretariat musste er alle Kurse über theoretische Physik halten. Während des Krieges kam noch die Leitung des Physikpraktikums für Mediziner dazu, ebenfalls ohne Mitarbeiter. Angesichts seiner angegriffenen Gesundheit führte das zum völligen Erliegen der Forschungsarbeit. Verbittert formulierte er drum bei seinem 50. Geburtstag, dass in seinem Nachruf stehen müsse: „[…] er war nur theoretisch ein Physiker, […]er, der einst zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, diese aber später weitgehend enttäuschte“ (Tietz, 1998, Anhang A 3). Als Hückel endlich erfuhr, dass sein Name im Ausland Berühmtheit gewann, konnte er den Rückstand dorthin nicht mehr einholen. Erst 1948 bekam Hückel einen ersten Hilfsassistenten und konnte nur wenige Schüler haben. Er blieb außerordentlicher Professor. Erst ein Jahr vor seiner Emeritierung wurde ihm das persönliche Ordinariat verliehen.
Am Lebensabend publizierte Hückel ein Buch mit dem sprechenden Untertitel „Ernst und Satire“. Vergleicht man dies mit den Memoiren seines Bruders Walter, wird der Unterschied der beiden talentvollen Brüder greifbar: Walter, die gesunde, ausgeglichene systematische Natur, Erich, ein sehr sensibler, fast neurotischer, künstlerischer Mensch mit ausgeprägter schauspielerischer Begabung und Humor. Diese Gegensätze freilich zogen sich immer an, im Bruder hatte Hückel immer den zuverlässigen, helfenden Chemiker. „Diese ganzen Arbeiten wären ohne meine Verbindungen mit meinem Bruder wahrscheinlich niemals zustande gekommen“. (1970, S. 185).
Auf seinem reichlich gewundenen wissenschaftlichen Weg entstanden etwa 54 Publikationen. Mit Ausnahme einiger aerodynamischer Messungen und seiner Dissertation sind all seine Arbeiten von rein theoretischem Charakter und beinhalten mehrere Fragestellungen. Allein die Geschichte der Naturwissenschaft bewahrt seinen Namen dank seiner bahnbrechenden Forschungen in zwei Bereichen: der Theorie der Elektrolyten und besonders in der Quantenchemie organischer Moleküle. Sein dramatisches Schicksal, voller wissenschaftlicher, politischer und persönlicher Hürden, hatte ihm jahrzehntelang die Anerkennung seiner großen Leistung versagt. Erst kurz vor dem Ende, krank und reichlich verbittert, durfte er seinen Ruhm noch erleben.
Quellen: UA Göttingen, Phil Prom H5, 25, Promotionsakte Hückel, Kur 7555, Kur 7471, Dokumente zur Einstellung Hückels als Assistent; ETH Zürich, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv SR 3 1924, Nr. 1558, Nr. 1638, SR2, Schulratsprotokolle 1925, Sitzung Nr. 1 vom 17.1.1925, Habilitation Hückel, u. Auskünfte vom 23., 25. u. 30.6.2014; UA Stuttgart: 127,Hückel, Erich, Ehrenpromotion Hückel, u. Auskunft vom 24.6.2014; Auskunft des UA Marburg vom 25.6.2014; Auskunft des Stadtbüros Marburg vom 8.7.2014.
Werke: (mit M. Munk) Systematische Messungen an Flügelprofilen, in: Technische Berichte von d. Flugzeugmeisterei d. Inspektion d. Fliegertruppen, Charlottenburg 1, 1917, 148-163; Weitere Untersuchungen von Flügelprofilen, ebd., 204-218; Weitere Göttinger Flügelprofiluntersuchungen, ebd. 2, 1918, 407-450; Der Profilbestand von Tragflügeln. Eine Zusammenfassung d. bish. Göttinger Flügelprofilmessungen, ebd. 451-461 u. 3, 1918, 184; Zerstreuung von Röntgenstrahlen durch anisotrope Flüssigkeiten, in: Physikalische Zs. 22, 1921, 561-563; (mit M. Born) Zur Quantentheorie mehratomiger Molekeln, ebd. 24, 1923, 1-12; (mit P. Debye) Zur Theorie d. Elektrolyte, I, II, ebd., 185-206, 305-323; (mit P. Debye) Bemerkungen zu einem Satze über die kataphoretische Wanderungsgeschwindigkeit suspendierter Teilchen, ebd. 25, 1924, 49-52; Die Kataphorese d. Kugel, ebd., 204-210; Zur Theorie d. Elektrolyte, in: Ergebnisse d. exakten Naturwissenschaften 3, 1924, 199-276; Zur Theorie konzentrierter wässeriger Lösungen starker Elektrolyte, in: Physikalische Zs. 26, 1925, 93-147; (mit R. Zsigmondy), Über Reduktionsgeschwindigkeit u. das Wachstum kleiner Goldteilchen bei d. Herstellung kolloider Goldlösungen, in: Zs. für physikalische Chemie 166, 1925, 291-303; Adsorption u. Kapillarkondensation, 1928; Theorie d. Beweglichkeiten des Wasserstoff- u. Hydroxylions in wässriger Lösung, in: Zs. für Elektrochemie 34, 1928, 546-562; Zur Quantentheorie d. Doppelbindung, in: Zs. für Physik 60, 1930, 423-456; Zur Quantentheorie d. Doppelbindung u. ihres stereochemischen Verhaltens, in: Zs. für Elektrochemie 36, 1930, 641-645; Quantentheoretische Beiträge zum Benzolproblem. I. Die Elektronenkonfiguration des Benzols u. verwandter Verbindungen, in: Zs. für Physik 70, 1931, 204-286; II. Quantentheorie d. induzierten Polaritäten, ebd. 72, 1931, 310-337; Theory of heat evolved in capillary condensation, in: Transactions of the Faraday Society 28, 1932, 382-386; (mit Walter Hückel) Theory of induced polarities in benzene, in: Nature 129, 1932, 937f.; Quantentheoretische Beiträge zum Problem d. aromatischen u. ungesättigten Verbindungen. III., in: Zs. für Physik 76, 1932, 628-648; Die freien Radikale d. organischen Chemie. Quantentheoretische Beiträge zum Problem d. aromatischen u. ungesättigten Verbindungen. IV, ebd. 83, 1933, 632-668; Theory of free radicals of organic chemistry, in: Transactions of the Faraday Society 30, 1934, 40-54, 58-60; Über die C-C-Bindung im Hexaphenyläthan, in: Zs. für physikalische Chemie, B, 34, 1936, 335-338; Zur Theorie des Magnetismus sogenannter Biradikale, ebd., 339-347; Bemerkung zur Thomsonschen Theorie d. Kondensation an Ionen, in: Physikalische Zs. 37, 1936, 137 f.; Die Bedeutung d. neuen Quantentheorie für die Chemie, in: Zs. für Elektrochemie 42, 1936, 657-662; Zur Theorie binärer Lösungen, ebd., 753-778; Kritische Betrachtungen zur Theorie d. Substitutionsreaktionen an substituierten Benzolen, in: Zs. für physikalische Chemie, B. 35, 1937, 163-192; Grundzüge d. Theorie ungesättigter u. aromatischer Verbindungen, in: Zs. für Elektrochemie 43, 1937, 752-788, 827-849; Grundzüge d. Theorie ungesättigter u. aromatischer Verbindungen, 1938, Reprinted (USA) 1980; Die Mesomerievorstellung u. einige ihrer Anwendungen in d. organischen Chemie, in: Angewandte Chemie 58, 1939, 42f.; (mit B. Krause) Über die relative Stabilität von Methylacenen u. Methylendihydroacenen, in: Zs. für Naturforschung 6a, 1951, 112-116, 514f.; (mit G. Kraft) Untersuchungen über den Einfluss d. endlichen Ionengrößen auf das thermodynamische Verhalten von Elektrolytlösungen, in: Zs. für physikalische Chemie, N. F. 3, 1955, 135-175; 5, 1955, 305-311; Zur Entwicklung d. Denkmodelle in d. Chemie, in: Naturwissenschaftl. Rundschau 9, 1956, 92–98; Zur modernen Theorie ungesättigter u. aromatischer Verbindungen, in: Zs. für Elektrochemie 61, 1957, 866-890; Chemiker im Gespräch: Erich Hückel, in: Chemie in unserer Zeit 4, 1970, 180-187; Erinnerungen an Peter Debye u. an meine Lehrjahre, in: Physikalische Bll. 28, 1972, 53-57; Ein Gelehrtenleben. Ernst u. Satire, 1975.
Nachweis: Bildnachweise: Chemie in unserer Zeit 4, 1970, 182 (mit Walter Hückel, 1914), 185 (mit beiden Brüdern, 1938); D. Hoffmann, M. Walker (Hgg.) „Fremde“ Wissenschaftler im Dritten Reich, 2011, 137 (Gruppenfoto mit P. Debye, 1938); Hückel, Ein Gelehrtenleben, 1975, Titelbild, 18, 19, 109 u. 169 (vgl. Literatur).

Literatur: Poggendorffs Biograph.-literar. Handwörterbuch VI, Teil 2, 1937, 1173, VIIa, Teil 2, 1958, 564, VIII, Teil 2, 2002, 1561f.; DBE, 2.Aufl. 5, 2006, 192; Lexikon bedeutender Chemiker, 1989, 214.; R. E. Oesper, Erich Hückel, in: Journal of Chemical Education 28, 1950, 674 (mit Bildnachweis); H. Falkenhagen, Erich Hückel 60 Jahre, in: Physikalische Blätter 12, 1956, 367f.; Anne Hückel, Erich Hückel, in: Nachrichten aus Chemie u. Technik 13, 1965, 382f. (mit Bildnachweis); R. Kuhn, Rede, aus Anlass d. Verleihung des Otto-Hahn-Preises an Erich Hückel, ebd. 384; M. Kaminsky, Prof. Dr. Erich Hückel zum siebzigsten Geburtstage, in: Annalen d. Physik, 7. Folge, 18, 1966, 2-5 (mit Bildnachweis); E. Gerischer, Erich Hückel zum 75. Geburtstag, in: Berichte d. Bunsen-Gesellschaft für physikalische Chemie 75, 1971, 723 (mit Bildnachweis); W. Walcher, Erich Hückel 75 Jahre, in: Physikalische Bll. 27, 1971, 364; R. G. Parr, Erich Hückel and Friedrich Hund – Pioneers in Quantum Chemistry, in: International Journal of Quantum Chemistry 12, 1977, Symposium 11, 29-37; W. Haberditzl, 50 Jahre Theorie d. chemischen Bindung, in: Zs. für Chemie 18, 1978, 353-359 (insbesondere S. 355f.); Inge Auerbach, Catalogus professorum Academiae Marburgensis, Bd. 2: von 1911 bis 1971, 1979, 828; K. Suchy, Erich Hückel †, in Physics today 33, Nr. 5, 72, 74f. (mit Bildnachweis); Kurt Suchy, Erich Hückel zum Gedenken, in: Physikalische Bll. 36, 1980, 248f. (mit Bildnachweis); H. Hartmann, H. C. Lomguet-Higgins, Erich Hückel, in: Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society 28, 1982, 152-162 (mit Bildnachweis auf 152); W. Jaenicke. 100 Jahre Bunsen-Gesellschaft, 1994, 216 (mit Bildnachweis auf 257); J. A. Berson, Erich Hückel – Pionier d. Organischen Quantenchemie: Leben, Wirken u. späte Anerkennung, in: Angewandte Chemie 108, 1996, 2922-2937; G. Frenking, 100. Geburtstag von Erich Hückel, in: Chemie in unserer Zeit, 31, 1997, 27-31 (mit Bilder); Horst Tietz [Erinnerungen an Erich Hückel, 1998] http://www.quantum-chemistry-history.com/Tietz1.htm; J. A. Berson, Chemical Creativity: Ideas from the Work of Woodward, Hückel, Meerwein and Others, 1999, 33-75; Klaus Beneke, Erich Hückel (1896–1980), in: Biographien u. wissenschaftl. Lebensläufe von Kolloidwissenschaftlern, deren Lebensdaten mit 1996 in Verbindung stehen. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, VIII. Mitteilungen d. Kolloid-Gesellschaft, 1999, 274-304; Helge Kragh, Before quantum chemistry: Erich Hückel and the physics-chemistry interface, in: Centaurus 43, 2001, 1-16; Ute Deichmann, Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker u. Biochemiker in d. NS-Zeit, 2001, 157-159; Andreas Karachalios, Erich Hückel (1896–1980): von d. Physik zur Quantenchemie, Diss. Naturwiss. Univ. Mainz 2003; Andreas Karachalios, Erich Hückel (1896–1980): From Physics to Quantum Chemistry, 2010.
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