Jaspers, Karl 

Geburtsdatum/-ort: 23.02.1883; Oldenburg
Sterbedatum/-ort: 26.02.1969; Basel
Beruf/Funktion:
  • Philosoph
Kurzbiografie: 1892-1901 am Humanistischen Gymnasium Oldenburg
1901-1902 Studium der Jurisprudenz in Heidelberg und München
1902-08 Studium der Medizin in Berlin, Göttingen und Heidelberg
1909-1915 Volontärassistent an der Psychiatrischen Klinik Heidelberg
1913 Habilitation bei W. Windelband für Psychologie
1916 Extraordinarius für Psychologie in Heidelberg
1920 Extraordinarius für Philosophie in Heidelberg
1922 Ordinarius
1933 Ausschluß aus der Universitätsverwaltung
1937 Zwangspensionierung
1945 Wiedereinsetzung
1948-1961 Lehrtätigkeit in Basel
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Auszeichnungen: 1947 Goethepreis der Stadt Frankfurt a. M.
1958 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1959 Erasmuspreis
1964 Orden Pour le Mérite
1965 Internationaler Friedenspreis Lüttich – ferner Ehrenmitglied zahlreicher Akademien und Gesellschaften
Ehrendoktor der Universität von Lausanne, Heidelberg, Paris, Genf und Basel (1947, 1953, 1959, 1962)
Verheiratet: 1910 Gertrud, geb. Mayer (1879-1974)
Eltern: Carl Wilhelm Jaspers (1850-1940), Amtshauptmann, später Bankdirektor
Henriette, geb. Tantzen (1862-1941)
Geschwister: Erna (geb. 1885)
Enno (geb. 1889)
Kinder: keine
GND-ID: GND/118557106

Biografie: Hans Rainer Sepp (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 236-240

Jaspers’ Vorfahren sind seit Generationen in Oldenburg ansässig. Nach Abschluß der Gymnasialzeit belegt Jaspers, der infolge seiner schwachen gesundheitlichen Konstitution zeitlebens ein zurückhaltendes Leben unter streng geplantem Einsatz seiner Kräfte führen muß, Jurisprudenz an der Universität Heidelberg und hört nebenher Vorlesungen der Kunstgeschichte und Philosophie. Er setzt nach einem Semester das Jura-Studium in München fort, wo er auch bei L. Klages Privatunterricht in Graphologie nimmt. Im Sommer des Jahres 1902 reift in ihm der Entschluß, die Jurisprudenz aufzugeben und Medizin zu studieren. In einer „Denkschrift“ an die Eltern erläutert er bereits sein eigentliches Ziel, das ihn über die Medizin und Psychologie zur Philosophie führen soll: „Der Weg zur Philosophie war es, der die Wahl meines Studiums bestimmt hatte“ (RA 385). Von den großen Philosophen fesseln und beeinflussen ihn besonders Spinoza, Kierkegaard und Nietzsche. Das Medizinstudium beginnt Jaspers in Berlin, setzt es in Göttingen fort und beschließt es in Heidelberg mit Staatsexamen und Promotion. 1909 erfolgt die Approbation als Arzt. 1907 hat Jaspers Gertrud Mayer kennengelernt, drei Jahre später heiraten die beiden. Gertrud Jaspers wird auch philosophische Weggefährtin, unersetzliche Mitarbeiterin ihres Mannes. „Jetzt begann die Philosophie auf neue Weise ernst zu werden. Wir wurden in ihr verbunden“ (S 7). In den Jahren nach der Approbation arbeitet Jaspers in der Heidelberger Psychiatrischen Klinik in einer unbesoldeten Stellung, die ihm Einblick in alle Aspekte der Psychiatrie verschafft. Er bemerkt bald den unvollkommenen wissenschaftlichen Charakter der Psychiatrie, ihr fehlendes wissenschaftstheoretisches und philosophisches Rüstzeug. So führen schließlich einige seit 1910 publizierte kleinere Arbeiten zur Abfassung eines diese Wissenschaft systematisch aufbauenden Lehrbuchs, der „Allgemeinen Psychopathologie“ (1913), das sogleich in der Fachwelt auf große Resonanz stößt.
In diesen Jahren tritt zunehmend Jaspers’ philosophisches Interesse in den Vordergrund, wobei für ihn Philosophie nicht Spekulation und Abstraktion bedeutet, sondern sich durch Daseinsnähe auszeichnet. Diese Auffassung verdichtet sich für Jaspers in der Auseinandersetzung mit Vertretern der zeitgenössischen Philosophie wie E. Lask und H. Rickert, E. Husserl, M. Scheler und G. Simmel, E. Bloch und G. Lukács. Max Weber beeindruckt ihn tief („Er wurde für mich der leibhaftige Philosoph unserer Zeit“ [RA 389]). Mit der „Psychopathologie“ habilitiert sich Jaspers noch im Jahr ihres Erscheinens bei W. Windelband für das Fach Psychologie an der Universität Heidelberg. 1916 wird er zum Extraordinarius ernannt, sein Versuch, ein Psychologisches Institut an der Universität Heidelberg einzurichten, schlägt jedoch fehl. 1919 publiziert er das Buch „Psychologie der Weltanschauungen“, das aus einer seiner Vorlesungen hervorgeht und existentielle Grundfragen von philosophischer Relevanz von einem psychologischen Ansatz aus behandelt. Er erhält daraufhin die durch den Weggang von H. Driesch frei gewordene Stelle eines etatmäßigen Extraordinarius für Philosophie, zwei Jahre später folgt er als Ordinarius H. Maier auf dessen Lehrstuhl nach.
Manche der Kollegen, besonders H. Rickert und sein Kreis, verübeln Jaspers den fachfremden Einstieg über die Psychologie in die Philosophie. Jaspers pflegt daher Umgang vor allem mit Kollegen anderer Fakultäten, so mit dem Archäologen L. Curtius, dem Ökonomen und Soziologen A. Weber, dem Germanisten F. Gundolf, dem Juristen G. Radbruch, dem Psychiater V. von Weizsäcker. Bedeutsam für Jaspers’ philosophisches Werk, das in diesen Jahren Gestalt anzunehmen beginnt, wird der intensive Gedankenaustausch mit seinem Schwager E. Mayer. In freundschaftliche Beziehung tritt Jaspers in dieser Zeit auch zu M. Heidegger, den er 1920 in Freiburg kennenlernt. Vor allem von diesem bedrängt, entschließt er sich zu einer gründlichen Revision seiner bis dahin angewandten, an der Psychologie sich orientierenden Methode des Philosophierens. In seinen Heidelberger Lehrveranstaltungen setzt er sich mit den Werken der großen Philosophen auseinander und besinnt sich auf Methode und Sache seines Philosophierens. Er behandelt Hegel, Kant, Schelling, Kierkegaard, liest über Logik, Ethik und Metaphysik und kündigt in der 1931 erscheinenden kulturkritischen Schrift „Die geistige Situation der Zeit“ seine Philosophie als „Existenzphilosophie“ an: Das Fazit seiner Bemühungen ziehen die fast gleichzeitig publizierten (im Impressum auf 1932 vordatierten) 3 Bände seiner „Philosophie“.
In diesem Werk, in dem er die für sein Philosophieren grundlegenden Begriffe Welt, Existenz und Transzendenz entwickelt, tritt Jaspers, nach über achtjähriger Publikationspause, erstmals mit einer umfassenden Darstellung seines Denkens an die Öffentlichkeit. ‚Welt‘ ist für ihn das All der Objekte, wobei auf Welt bezogene, im besonderen wissenschaftliche Erkenntnis stets nur bestimmte Gegenstände und weder das Ganze der Welt selbst noch den Ursprung des je eigenen Selbstseins erfassen kann. Die „philosophische Weltorientierung“ (Bd. 1) soll daher an die Grenzen des wissenschaftlich Wißbaren führen und zur Erhellung der Existenz sowie zur Suche nach dem einen übergreifenden Sein, der „Transzendenz“, überspringen. In der „Existenzerhellung“ (Bd. 2) wird das Dasein auf sein je eigenes Selbst zurückgeworfen, und zwar so, daß es sich in seinem nichtobjektivierbaren Selbstseinkönnen als „Existenz“ erfährt, die in den Ursprung ihrer Freiheit, die Transzendenz, weist. Das Denken versucht in der „Metaphysik“ (Bd. 3) diesen Ursprung zu erhellen: Mit seinen Kategorien vermag es jedoch die Transzendenz lediglich formal zu erkennen, als erfüllte scheint diese nur im existentiellen Erleben auf; jedesmal zeigt sie sich aber nur in „Chiffren“, in den philosophischen Antinomien etwa oder in der Erfahrung des Vergänglichen, und wird selbst nie zum Gegenstand.
Die gemeinsame Verwendung des grundlegenden Terminus der Existenz läßt in der Öffentlichkeit Jaspers’ Philosophieren mit dem Heideggers verwandt erscheinen. 1937/38 distanzieren sich Jaspers und Heidegger in unabhängig voneinander an Jean Wahl gerichteten und von diesem publizierten Briefen davon, daß ihre denkerischen Bemühungen im Begriff der ‚Existenzphilosophie‘ miteinander verbunden werden. Während Heidegger das Etikett der Existenzphilosophie als Bezeichnung für sein Denken überhaupt zurückweist, schreibt Jaspers: „Daß Heidegger mit mir zusammen genannt wird, als ob wir dasselbe täten, ist [...]für beide ein Anlaß zum Mißverstandenwerden“ (HJ 278). Der Kontakt und später auch der Briefkontakt zwischen beiden bricht nach Heideggers Bekenntnis zum Nationalsozialismus ab. Erst Jahre nach Kriegsende werden beide den Briefverkehr wiederaufnehmen, zu einer persönlichen Begegnung wird es nicht mehr kommen. In den Nachkriegsbriefen wird Heidegger Jaspers ein Verhaftetbleiben an „traditioneller Schematik“ (HJ 204) vorwerfen und Jaspers in Heideggers Denken eine „Unbestimmtheit“ (HJ 209) konstatieren, die zur „Träumerei“ wird, die „von der Wirklichkeit wegverführt“, „das Mögliche versäumen läßt durch Fiktionen“ (HJ 210f.). Jaspers wird in einem 1949 an Heidegger adressierten Brief erkennen, „daß wir in der Philosophie wohl sehr Verschiedenes erstreben und ein philosophisches Selbstbewußtsein einander fremden Charakters haben“ (HJ 170) und rückblickend lediglich eine „Verbundenheit in dem Betroffensein von dem, was uns eigentlich Philosophie erschien und worin wir damals [in den zwanziger Jahren] einmütig zu sein meinten (ohne bestimmten Inhalt)“ (HJ 259) feststellen. „Gemeinsam war uns vielleicht eine kritisch-negative Haltung zur traditionellen Universitätsphilosophie und unsere Abhängigkeit von Gedanken Kierkegaards“, heißt es bereits in Jaspers’ Brief an Wahl. „Aber wir sind geschieden durch die Gehalte, aus denen wir philosophieren“ (HJ 278). Der aus dieser Erkenntnis der Differenz in der Nachkriegszeit erwachsende, von Jaspers und Heidegger über Jahre hinweg beschworene Plan einer öffentlichen oder brieflichen und später zu publizierenden Disputation über Grundgehalte ihres jeweiligen Philosophierens wird nicht verwirklicht werden.
Der nationalsozialistische Umsturz, mit dem Jaspers nicht gerechnet hat, macht ihn, da seine Frau Jüdin ist, zum Staatsfeind. Er kann zwar noch lehren und publizieren (1935: „Vernunft und Existenz“, 1936: „Nietzsche“), wird aber bereits 1933 von der Mitwirkung bei der Universitätsverwaltung ausgeschlossen. 1935 legt er die Geschäftsführung des Seminars nieder, zwei Jahre später wird er zwangspensioniert. Die Reichsschrifttumskammer verhindert ab 1938 weitere Veröffentlichungen, 1943 erteilt sie ein Publikationsverbot. Bemühungen, an Universitäten des Auslands Fuß zu fassen, scheitern. Eine 1941 vom Kuratorium der Freien Akademischen Stiftung in Basel ausgesprochene Einladung zu Gastvorlesungen für die Dauer von zwei Jahren nimmt Jaspers nicht an, da seine Ausreise an die Bedingung geknüpft wird, daß seine Frau in Deutschland zurückbleibt. Der Umstand, daß Heidelberg am 30. März 1945 von den Amerikanern besetzt wird, verhindert, daß er und seine Frau ins KZ abtransportiert werden. In diesen Jahren der erzwungenen Abgeschiedenheit sucht Jaspers mit seiner philosophischen Arbeit ein Zeichen gegen die Zeit zu setzen: nicht im öffentlichen Widerstand, sondern im „inneren Standhalten und denkenden Widerstehen“ (H. Saner). Die Frucht dieser Arbeit wird in den Publikationen der Nachkriegszeit öffentlich.
Nach Kriegsende wird Jaspers von der amerikanischen Militärregierung wieder in sein Amt eingesetzt. Er engagiert sich für die Umstrukturierung und Wiedereröffnung der Heidelberger Universität und beginnt mit der Publikation von politischen Schriften (1946: „Die Schuldfrage“). 1945 gründet er mit D. Sternberger die Zeitschrift „Die Wandlung“, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens dank der Mitarbeit international angesehener Persönlichkeiten zu einem vielbeachteten Organ für die politischen Erneuerungsbestrebungen in Deutschland wird. 1946 erscheint in völliger Neubearbeitung die „Allgemeine Psychopathologie“, die Jaspers in der Zurückgezogenheit der Kriegsjahre vorbereitet hat. Die Hoffnungen, die er an den Wiederaufbau des Staates und der Universität knüpfte, erfüllen sich für ihn nicht; auch ersehnt er die Zurückgezogenheit, die philosophische Arbeit ermöglicht. Vor allem diese Gründe bewegen ihn, einen Ruf an die Universität Basel als Nachfolger von P. Häberlin anzunehmen. Die meisten seiner Lehrveranstaltungen, die er an dieser Universität bis zu seiner Emeritierung hält, gelten der Geschichte der Philosophie: u. a. wieder Kant, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche; vor allem in den Vorlesungen stehen geschichtsphilosophische und religionsphilosophische Probleme sowie Probleme der „philosophischen Logik“ im Vordergrund. In Basel findet Jaspers eine von den Schatten der Vergangenheit freie Atmosphäre vor, doch an der Universität, die ihm keine besonderen Begünstigungen gewährt, bleibt er zu Kollegen in Distanz. Die ihn besuchenden Freunde, wie E. Mayer, G. Mann, R. Hochhuth, J. Hersch, H. Arendt, kommen meist von außerhalb.
In seiner Basler Zeit entfaltet Jaspers eine rege Publikationstätigkeit, veröffentlicht im Durchschnitt pro Jahr ein Buch. Die Themen entsprechen seiner Lehrtätigkeit: Das zentrale Werk der späten Jahre, ebenfalls in der Isolation der Kriegszeit vorbereitet, wird der unter dem Titel „Von der Wahrheit“ 1947 publizierte erste Band seiner philosophischen Logik. Jaspers vertieft und ergänzt hier die Grundkategorien, die er schon in der „Philosophie“ analysiert hat. In der Frage nach dem Ursprung von Wahrheit entwickelt er seine Lehre vom „Umgreifenden“; eine besondere Stellung kommt auch hier der Transzendenz zu. Das Umgreifende zerfällt in verschiedene Weisen, die einander in gestuften Relationen umfangen: Werden Dasein, Welt, Bewußtsein überhaupt und Geist von Existenz umgriffen, so sieht sich diese von der Transzendenz, als „dem einen Allumgreifenden“, dem „Einen, das nirgends als solches zu fassen ist“ (S 61) umfangen, sofern durch sie Existenz in ihrer Freiheit ermöglicht ist. Die Vernunft schließlich, die all dies philosophisch erkennt, fragt nach der umfassenden Einheit und ist so ihrerseits auf die Transzendenz bezogen. Jaspers entwickelt hier eine Wahrheitslehre, die die enge Alternative relativistischer oder dogmatischer Wahrheitsauffassung zu überwinden sucht. Sein Ergebnis lautet, daß allen Weisen des Umgreifenden trotz ihres Ineinanderwirkens und Gestuftseins je ein bestimmter Wahrheitssinn zukommt, der von den anderen Weisen nicht zu erbringen ist. Der zu Unwahrheit führenden Ausgrenzung und Verabsolutierung je bestimmter Weisen von Wahrheit ist ein „unbedingter Kommunikationswille“ entgegenzuhalten, welcher der Tatsache der „vielfachen Wahrheit in geschichtlicher Gestalt“ (S 59) Rechnung tragen soll.
In „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ (1949) entwirft Jaspers eine neue, nicht auf Konstruktionen sich einlassende Geschichtsphilosophie und prägt den Begriff der „Achsenzeit“: Die Zeit um 500 v. Chr. bezeichnet für ihn einen empirisch feststellbaren weltgeschichtlichen Einschnitt, sofern mit der Stiftung der Grundkategorien des Denkens und der Ansätze der großen Weltreligionen in Europa und Asien die Möglichkeit erschlossen worden ist, daß Existenz sich zum Sein im ganzen verhält und so Geschichte transzendiert. Der geschichtsphilosophischen Perspektive setzt Jaspers die religionsphilosophische an die Seite, die in dem Buch „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“ (1962) ihre systematische Darlegung erhält. Beide Perspektiven fließen ein in ein sie übergreifendes Projekt einer Weltgeschichte der Philosophie, das Jaspers in monographischen Arbeiten zu maßgeblichen Denkern der Tradition, vor allem aber in den „Großen Philosophen“ (1957) zum Teil realisiert. Die „bewußte Anschauung von der Gesamtheit der Philosophie der Menschheit“, als einem wesentlichen Bestand von Chiffren für die Transzendenz, erscheint ihm dabei in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation, die faktisch zur Weltgeschichte geworden ist, als der geeignete „Rahmen für die universelle Kommunikation“ (S 68).
Die öffentliche Kommunikation sucht Jaspers mit einem Theologen: 1953 wendet er sich in einem Vortrag vehement kritisch gegen R. Bultmanns an Heideggers Existenzialanalyse sich anlehnende „Entmythologisierung“ des Neuen Testaments. Bultmann antwortet auf Jaspers’ Kritik, worauf Jaspers nochmals Stellung nimmt; Angriff, Antwort und Gegenantwort werden 1954 unter dem Titel „Die Frage der Entmythologisierung“ publiziert. Bultmann hat, wie er in seiner Antwort schreibt, den christlichen Glauben von seiner geschichtlichen Stiftungsform abzulösen gesucht, um „das Offenbarungsgeschehen als ‚eschatologisches‘ Geschehen“ (E 699), das zwar in der historischen Person Jesu seinen Anfang nahm, aber „stets im verkündigten Wort verkündigender Menschen gegenwärtig“ ist (E 70), herauszustellen und „die Fixierung Gottes zu einem Objektiven“ (E 68f.) zu verhindern. Jaspers wirft Bultmann vor, daß sein Versuch, die Verdinglichung des Göttlichen aufzuheben, selbst eine Objektivität, die Objektivität des historischen Ereignisses des Lebens und Sterbens Jesu, voraussetze und daß der Prozeß der Entmythologisierung einen wissenschaftlichen Zugriff impliziere, der in seiner Setzung von Allgemeingültigkeit ebenfalls unbefragt bleibe. Denn Heideggers Existenzialanalyse degradiere Bultmann zu einer wissenschaftlichen Methode, die, sofern ihre Objektivität nicht aufgehellt werde, eine „falsche Vergegenständlichung“ (E 31) vollziehe. Diese verborgene wissenschaftliche, auf allgemeingültige Wahrheit abzielende Einstellung unterbinde die existentielle Wahrheit des Mythos: Indem sie sich einem unmittelbaren Bezug zwischen existentiellem Erleben und mythischer Sprache und damit der Möglichkeit, die Verdinglichung der Transzendenz in der Tat aufzuheben, verweigere, beseitige sie auch die Möglichkeit, daß selbst derjenige, dem die Entscheidung zum Glauben nicht durch Gnade widerfährt, den Anspruch Gottes als Chiffre vernehmen könne.
Ende der fünfziger Jahre tritt Jaspers erneut mit Schriften zur politischen Situation an die Öffentlichkeit. „Ich meinte zu spüren: erst mit meinem Ergriffenwerden von der Politik gelangte meine Philosophie zu vollem Bewußtsein bis in den Grund auch der Metaphysik“ (S 57). Auf die Abhandlung „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“ (1958) folgen Arbeiten, in denen er Versäumnisse und nach seiner Ansicht restaurative Zugeständnisse der westdeutschen Nachkriegspolitik anklagt: 1960 die Schrift „Freiheit und Wiedervereinigung“ und 1966 „Wohin treibt die Bundesrepublik?“. Beide Schriften erregen die Gemüter, provozieren aber nur wenig sachliche Kritik, zu der Jaspers in einer 1967 erscheinenden Antwortschrift Stellung nimmt. Im gleichen Jahr beantragt er das Basler Bürgerrecht.
In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens häufen sich die Ehrungen, die Jaspers zuteil werden: So erhält er 1947 den Goethepreis der Stadt Frankfurt, 1958 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, ein Jahr später den Erasmuspreis. 1964 wird ihm der Orden Pour le mérite verliehen und im Jahr darauf in Lüttich der Internationale Friedenspreis; er wird Ehrenmitglied mehrerer Akademien und Gesellschaften und Ehrendoktor der Universitäten von Lausanne (1947), Heidelberg (1953), Paris und Genf (1959) sowie Basel (1962).
Quellen: Private und öffentliche Dokumente zu Karl Jaspers im DLA Marbach a. N.
Werke: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, 1951, 2. Aufl. 1958 (hier zitiert als RA); mit R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, 1954 (hier zitiert als E); Philosophische Autobiographie, 1977; L. Köhler und H. Saner (Hg.): H. Arendt und Karl Jaspers. Briefwechsel 1926-1969, 1986; W. Biemel und H. Saner (Hg.): Martin Heidegger und Karl Jaspers. Briefwechsel 1920-1963, 1990 (hier zitiert als HJ); G. Gefken und K. Kunert: Karl Jaspers. Eine Bibliographie. Bd. 1: Die Primärbibliographie, Oldenburg 1978, neu bearb. und fortgeführt bis 1996 von Ch. Rabanus (im Druck)
Nachweis: Bildnachweise: Bildmaterial und Nachweise der Aufbewahrungsorte in H. Saner, a. a. O.; siehe auch Bildersammlung UA Heidelberg

Literatur: P. A. Schilpp (Hg.), The Philosophy of Karl Jaspers, Evanston 1957 (deutsch Stuttgart o. J.; hier zitiert als S); H. Saner, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1970, 5. Aufl. 1979; J. Hersch, Karl Jaspers. Eine Einführung in sein Werk, deutsch von F. Griese, 1980, 4. Aufl. 1990; K. Salamun, Karl Jaspers, 1986; J. Hersch, J. M. Lochmann und R. Wiehl (Hg.), Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker, 1986; D. Harth (Hg.): Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, 1989
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