Mitscherlich, Alexander Josef Eilhard 

Geburtsdatum/-ort: 20.09.1908; München
Sterbedatum/-ort: 26.06.1982; Frankfurt am Main
Beruf/Funktion:
  • Psychoanalytiker, Sozialpsychologe, Publizist
Kurzbiografie: 1917 IV.–1928 III. humanist. Jean-Paul-Gymnasium in Hof, Bayern, bis Abitur
1928 V.–1932 IV. Studium d. Philosophie u. Geschichte an den Universitäten München, SS 1928 bis SS 1930, Prag, WS 1929/30, u. Berlin, WS 1931/32 bis WS 1932/33
1930–1934 Journalist, Verleger u. Buchhändler in Berlin
1934–1939 Studium d. Medizin an den Univ. Berlin, WS 1933/34, Würzburg, SS 1935, Freiburg, WS 1935/36 bis WS 1936/37, Zürich, SS 1937 u. 1. Hälfte des WS 1937/38, sowie Heidelberg, SS 1938 bis SS 1939. Vorprüfung im Febr. 1936 u. Febr. 1937, Staatsexamen im Aug. 1939
1937 XII.–1938 III. Verhaftung u. Gefangenschaft in Nürnberg
1941 V.10 Promotion zum Dr. med. in Heidelberg: „Wesensbestimmung d. synästhetischen Wahrnehmung“
1945 XII.–1946 III. Habilitation im Fach Neurologie: „Vom Ursprung d. Sucht. Eine pathogenetische Untersuchung des Vieltrinkens“; Probevortrag: „Zur Thema des Phantomschmerzes“ am 21. Dez. 1945; Antrittsvorlesung „Die neurotische Persönlichkeit in unserer Zeit“ am 8. März 1946
1946–1947 zus. mit Felix Schottlaender (1892–1958) Gründung d. Zs. „Psyche“: Juli 1947 Heft 1; 1968 bis 1975 Alleinhg.
1946 XII.–1947 VIII. Teilnahme am Nürnberger Ärzteprozess als Beobachter
1950 IV. Gründung d. Abt. für Psychosomatische Medizin an d. Univ. Heidelberg
1952 I. apl. Professor
1958 IV. ao. Professor im Beamtenverhältnis; Errichtung des Lehrstuhls u. d. Klinik für Psychosomatische Medizin
1958 VIII.–1959 VII. Aufenthalt in London; Lehranalyse bei Paula Heimann (1899–1982)
1960 IV. Direktor des neuen „Instituts u. Ausbildungszentrums für Psychoanalyse u. Psychosomatische Medizin“ in Frankfurt am M.; 14. Okt. 1964 Einweihung u. Umbenennung in „Sigmund-Freud-Institut“
1966 IV.–1973 IX. o. Professor für Psychologie, insbes. Psychoanalyse u. Sozialpsychologie, an d. Phil. Fakultät d. Univ. Frankfurt; Antrittsvorlesung 26. Jan. 1968: „Die Idee des Friedens u. die menschliche Aggressivität“
Weitere Angaben zur Person: Religion: konfessionslos
Auszeichnungen: Ehrungen: Korr. Mitglied d. Amerikanischen Ges. für psychosomatische Medizin (1951); Präsident d. Dt. Gesellschaft für Psychotherapie u. Tiefenpsychologie (1958–1964); Friedenspreis des Dt. Buchhandels (1969); Ehrenmitglied d. Dt. Psychoanalyt. Vereinigung (1975); Ehrenmitglied d. Amerikanischen Psychoanalyt. Assoziation (1976).
Verheiratet: I. 1932 (Berlin) Melitta, geb. Behr (1906–1992), Dr. med., Ärztin, gesch. 1935 oder 1936
II. 1936 (Freiburg) Augusta Georgia, geb. Wiedemann (geboren 1902), Pianistin, gesch. 1954
III. 1955 (Heidelberg) Margarete, geb. Nielsen (1917–2012), Psychoanalytikerin
Eltern: Vater: Harbord (1883–1961), Dr. phil., Chemiker, Chemiefabrikant
Mutter: Clara, geb. Heigenmooser (1885–1965)
Geschwister: keine
Kinder: 7;
Monika (1932–2002), verh. Seifert, Soziologin, Pädagogin;
Barbara (geboren 1933);
Meret Lucinde (geboren 1935);
Oliver Malte (1936–1946);
Christoph René (geboren 1939);
Thomas Viktor (1942–1998), Filmregisseur;
Alexander Mathias (geboren 1949)
GND-ID: GND/118582801

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 270-275

Mitscherlichs Gesellschaftskritik machte ihn zu einer der markantesten Persönlichkeiten der Bonner Republik und seine wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit trug dort maßgebend zur Institutionalisierung der Psychosomatischen Medizin und der Psychoanalyse ebenso bei wie sein unermüdliches mediales Auftreten zu deren Anerkennung in der deutschen Gesellschaft. Sein Lebens- und Berufsweg aber war weder geradlinig und konsequent noch leicht, und der Titel seiner Autobiographie „Ein Leben für die Psychoanalyse“ enthüllt eher sein Streben nach Integrität als Mitscherlichs tatsächlichen Lebensverlauf.
Mitscherlichs Urgroßvater Eilhard (1794–1863) und Großvater Alexander (1838–1918) waren bedeutende Chemiker, die der obersten Schicht der deutschen akademischen Kreise angehörten. Mitscherlichs Vater, auch Chemiker, leitete seit 1915 und erbte 1918 eine Zell- und Klebestoff-Fabrik im bayerischen Hof. Dass er „nur“ Fabrikant und nicht Professor sein konnte, machte ihn zu einer brutal-herrschsüchtigen Natur; heftige Auseinandersetzungen zwischen Mitscherlichs Eltern waren üblich. Mitscherlichs Kindheit und Schulzeit waren durch Angst und Einsamkeit geprägt; weder im Elternhaus noch in der Schule fühlte sich der Knabe geborgen. Im humanistischen Gymnasium blieb Mitscherlich elf Jahre lang, zwei Klassen, die erste und die vierte, musste er wiederholen. Die Angst, nicht versetzt zu werden, begleitete ihn dann bis zum Abitur. So machte ihn seine „ziemlich unglückliche Kindheit“ zu einem „einsamen Neurotiker“ und „Einzelgänger“ (1980, S. 9, 16 u. 46). Die Neurose konnte er mit der Zeit teilweise überwinden, Einzelgänger blieb er bis zum Lebensende.
Nach dem Abitur vereinbarte Mitscherlich mit seinem Vater, dass er nicht Chemie, sondern Jura studieren werde. In seinem zweiten Semester wechselte er zu Philosophie und Geschichte und ging 1930 nach Berlin, wo er eigentlich nicht studierte, sondern sich als Journalist, Verleger und 1932 bis 1934 als Buchhändler versuchte. Politisch war er damals recht unreif und unselbständig: 1930, noch in München, votierte er für die NSDAP und schwärmte für den Rechtsnationalisten Ernst Jünger, der den Krieg schriftstellerisch romantisierte. Ihn hatte Mitscherlich bereits in Hof kennen gelernt und folgte ihm nach Berlin. Mitscherlich kontaktierte auch den „National-Bolschewisten“ Ernst Niekisch (1889–1967), dessen „Widerstandsverlag“ er unterstützte. – Wohlgemerkt: unter „Widerstand“ war der gegen die Weimarer Republik gemeint, und die Nationalsozialisten sahen in Niekisch einen Konkurrenten, beargwöhnten ihn und seine Anhänger, was später Mitscherlichs Leben entscheidend beeinflusste.
Im Sommer 1932 fuhr Mitscherlich nach München zu seiner Geliebten, die eben zum Dr. med. promoviert wurde, und brachte sie nach Berlin mit: Hier gründete er seine erste Familie, eher, wie er im Alter aufrichtig eingestand, „da ich meine Freundin, die ein Kind erwartete, nicht im Stich lassen wollte“ (1980, S. 283). Ähnliches wiederholte sich 1936, als seine nächste Geliebte ein zweites Kind erwartete. Auf Betreiben seiner Frau begann Mitscherlich Medizin zu studieren. Nach einem Semester in Berlin unterbrach er sein Studium. Als er sich aber für das Sommersemester 1935 wieder immatrikulieren wollte, fand er in Berlin keinen Platz, so dass er seiner Frau für ein Semester nach Würzburg folgte. Er wechselte wieder, nach Freiburg, zu seiner zweiten Familie. Drei Semester konnte Mitscherlich in Freiburg bis zum Physikum belegen und hatte vor, das Studium fortzusetzen, was aber nicht gelang. Am 22. März 1937 wurden Niekisch und seine Anhänger in einer deutschlandweiten Aktion verhaftet. Mitscherlich entging nur deswegen der Verhaftung, weil er für ein paar Ferientage nach Zürich gefahren war. Als er vom Gestapo-Besuch erfuhr, entschloss er sich, sein Studium in Zürich fortzusetzen. Die Zeit in Zürich erschien Mitscherlich besonders dank der Freundschaft mit dem Psychotherapeuten Gustav Bally (1893–1966) sehr wertvoll, der ihn in die Problematik der Psychosomatik und Psychoanalyse einführte. Das Zürcher Exil endete dann aber ebenso unerwartet, wie es begonnen hatte: Mitscherlich nahm leichtfertig an, dass er nach Deutschland ungefährdet zurückkehren könne, wurde aber am 19. Dezember 1937 an der Grenze durch die Gestapo verhaftet und für etwa drei Monate – nicht acht, wie er später behauptete und NDB und DBE übernahmen – in Nürnberg inhaftiert. Die Zeit in der Untersuchungshaft verstärkte wohl Mitscherlichs ablehnende Einstellung gegen den Nationalsozialismus und bewirkte auch seine Abkehr von Jünger und Niekisch; nach dem Krieg endeten die Beziehungen Mitscherlichs zu ihnen endgültig. Im März 1938 wurde Mitscherlich, wahrscheinlich dank der Beziehungen seines Vaters, unter der Bedingung entlassen, dass er nur in Deutschland weiterstudiere. Anfang April wurde Mitscherlich in Heidelberg immatrikuliert, weil dort Viktor von Weizsäcker (1886–1957) lehrte, einer der Begründer der Psychosomatischen Medizin. Dessen Werk „Ärztliche Fragen“ hatte ihm Bally ins Gefängnis zugeschickt und Mitscherlich war von der Lektüre fasziniert. In Heidelberg ging Mitscherlich sofort zu von Weizsäcker. „Ich war in eine Freundschaftsbeziehung eingetreten, die mein weiteres Berufsleben entscheidend beeinflusst hat“ (1980, S. 119). Hier konnte Mitscherlich sich besonders mit den damals verbotenen Werken von Sigmund Freud (1856–1939) vertraut machen.
Nach bestandenem Staatsexamen arbeitete Mitscherlich zunächst als Privatassistent von Curt Ohme (1883–1963) an der Inneren Abteilung des St.-Josephs- Krankenhauses. Der Kriegsdienst blieb ihm wegen einer Kniegelenksveränderung erspart. Am 1. März 1941 erhielt Mitscherlich eine planmäßige Assistentenstelle an der Nervenabteilung der Ludolf-Krehl-Klinik unter Viktor von Weizsäcker, zu dessen Kreis er seit Anfang seines Studiums in Heidelberg gehörte.
In raschem Tempo schrieb Mitscherlich nun eine theoretische Dissertation über das von Weizsäcker schon seit langem erforschte Phänomen der „Synästhenie“, d.h. das Erleben verschiedener Sinneseindrücke bei Reizen aus nur einem Sinnesorgan, wie z.B. das Farbe Hören. Weizsäcker betonte in seinem Gutachten, dass Mitscherlich selbständig den Gegenstand vom Standpunkt der Wahrnehmungslehre aus bearbeitet habe, und bewertete die Dissertation mit „sehr gut“. Im Mai 1941 bestand Mitscherlich seine Doktorprüfung in der Inneren Medizin als Hauptfach, Frauenheilkunde und Physiologie als Nebenfächer, alle mit „sehr gut“, und wurde zum Dr. med. promoviert. Interessanterweise wurde Mitscherlichs Dissertation nie druckfertig, ein Pflichtexemplar nicht abgeliefert. Fraglich, ob nur wegen des eiligen Weggangs von Weizsäckers nach Breslau, von wo er erst Ende 1944 zurückkam? Martin Dehli fand die Dissertation im Nachlass Mitscherlich und hat darüber berichtet. Seine erste wichtige Arbeit zur Psychosomatischen Medizin schrieb Mitscherlich 1943/44 zum Thema „Krankheit als Konflikt“ und hat sie nach dem Krieg veröffentlicht.
Während des Kriegs kontaktierte Mitscherlich Heidelberger Dissidenten, insbesondere Karl Jaspers. Obwohl Mitscherlich sich später gern als aktiven Antifaschisten positionierte, war er wohl eher ein „Vertreter der inneren Zwangsemigration“ im „Dritten Reich“ (Hoyer, 2008, S. 81).
Nach dem Kriegsende lebte Mitscherlich so energisch und rastlos, dass sein Freund Bally ihn „seine Turbulenz“ (Dehli, 2007, S. 126) titulierte. Mitscherlich träumte auch davon, als „freier Schriftsteller“ (Hoyer, 2008, S. 147) zu leben. Vom April 1945 an gehörte Mitscherlich zum sog. „Dreizehner Ausschuss“, der die Wiedereröffnung der Universität vorbereitete. Er war dort der einzige Nicht-Ordinarius, genoss aber das Vertrauen der amerikanischen Behörden und wurde Mitte Mai 1945 Mitglied der von den Amerikanern eingerichteten „Regionalen Zivilregierung“ für die Saar, die Pfalz und Rheinhessen mit Sitz in Neustadt. Ohne Erfahrung zwar zeigte Mitscherlich eine gesunde praktische Vernunft und leitete das ihm anvertraute Gesundheitsamt erfolgreich. Die Regierung existierte jedoch nur zwei Monate, bis das Saarland und die Pfalz unter Frankreichs Kontrolle kamen. Danach schwankte Mitscherlich noch bis zum Herbst, ob er als Zivilangestellter in die Militärregierung in Mannheim eintreten solle, entschied sich dann aber für die akademische Laufbahn in Heidelberg.
„Sein Tatendrang schien grenzenlos“ (Freimüller, 2007, S. 74); er absolvierte zahlreiche Auftritte, hielt Vorträge, schrieb Zeitungsartikel, versorgte die Stadtbibliothek mit Büchern aus der Schweiz, bemühte sich um die Gründung einer sozialpolitischen Zeitschrift und gründete, nach dem Scheitern dieses Projekts, die Zeitschrift „Psyche“, die sich zum ansehnlichen internationalen Organ für Tiefenpsychologie und Psychoanalyse unter seiner Leitung entwickeln sollte. Zu alledem kam noch die Habilitation.
Im Herbst 1946 schlug die Westdeutsche Ärztekammer Mitscherlich vor, als Leiter der Deutschen Ärztekommission beim US-Militärgericht den Prozess gegen NS-Ärzte zu beobachten. Mitscherlich nahm den heiklen Auftrag an. Als „unermüdlichen Mitarbeiter“ (1960, S. 17) hatte er Fred Mielke (1922–1959) gewonnen, einen begabten und fleißigen Medizin-Studenten der Heidelberger Universität im 7. Semester, der die mühsame und langwierige Vorarbeit leistete. Die Publikationen von Mitscherlich und Mielke, 1947 und 1949, ernteten nicht nur viel Anerkennung, besonders international, noch mehr erregten sie Empörung bis hin zur Androhung gerichtlicher Verfolgung, da die deutsche Ärzteschaft sich im Ganzen diskriminiert und beschuldigt fühlte. Diese Dokumentation ist eines „der wichtigsten Werke der Geschichte der Medizin im 20. Jahrhundert“ (Dehli, 2007, S. 146).
Kaum aus Nürnberg zurückgekehrt, erneuerte Mitscherlich seine sofort nach der Habilitation begonnenen Bemühungen, eine psychosomatische Klinik einzurichten, wozu er prinzipielles Misstrauen traditioneller Mediziner und Ressentiments gegen seine Person überwinden musste. Nach vier Jahren zäher Verhandlungen wurde die Einrichtung, letztendlich mit Hilfe der Rockefeller-Stiftung in Form einer „Abteilung für Psychosomatische Medizin“ realisiert. Wie Mitscherlich an den Rektor im April 1950 nicht ohne Stolz schrieb: „Es ist vielleicht doch ein kleiner historischer Augenblick in der Geschichte der Medizin, da ein solches Institut bisher noch an keiner anderen Hochschule Deutschlands besteht“ (UA Heidelberg, PA 5032).
Außerordentlich wichtig für die weitere wissenschaftliche Entwicklung Mitscherlich scheint seine erste Studienreise in die USA von März bis August 1951, die auch die Rockefeller-Stiftung finanzierte. Hier konnte sich Mitscherlich über den Stand der Psychoanalyse informieren und zahlreiche Kontakte und Freundschaften mit während des „Dritten Reichs“ emigrierten Psychoanalytikern knüpfen. Diese Reise markiert die Verschiebung von Mitscherlichs Hauptinteresse hin zur Psychoanalyse.
Als Privatdozent und später als Professor las Mitscherlich über Psychosomatische Medizin und über Psychoanalyse im Allgemeinen, sowie über deren verschiedene Aspekte, z.B. über „Neurosen als psychosomatische Erkrankungen“ (WS 1952/53) oder über „Persönlichkeitslehre im Werk Sigmund Freuds“ (SS 1956). In der Psychosomatischen Klinik arbeiteten unter Mitscherlich sechs bis acht planmäßige und mehrere außerplanmäßige wissenschaftliche Assistenten, teilweise auf Konto der Rockefeller-Stiftung. Mitscherlich war kein bequemer Chef, forderte zuweilen zu schnell zu viel, war sprunghaft und impulsiv, aber immer bereit zum Gedankenaustausch. Dass aus dieser Arbeit keine Schule hervorging, hat wahrscheinlich zwei Ursachen: Mitscherlich war immer zu beschäftigt mit eigenen Gedanken, um im Team zu arbeiten, entwickelte aber auch kein „erkennbares methodisches Forschungsdesign“ (Hoyer, 2008, S. 491, u. ders. in: Heim/Modena, 2008, S. 46), woran sich Schüler hätten orientieren können. Es waren ausländische Kontakte, die Gründung der Psychosomatischen Klinik und besonders die Herausgabe der „Psyche“, die ihm die einzigartige Position unter den Psychoanalytikern Deutschlands schufen, und das bedingte Mitscherlichs weitere Erfolge als Wissenschaftsorganisator.
An der Universität versäumte Mitscherlich keine Möglichkeit, die Bedeutung der Psychosomatischen Medizin und der Psychoanalyse hervorzuheben. Einen besonderen Anlass dazu fand er 1956 bei der 100. Wiederkehr des Geburtstags von Sigmund Freud. Dank Mitscherlichs beharrlichen Bemühungen wurde dieses Jubiläum mit internationalen Symposien in Heidelberg und Frankfurt gefeiert, die er mit den Frankfurter Professoren Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor Adorno (1903–1969) sorgfältig vorbereitet hatte. Dieses Jubiläum, dem u.a. Bundespräsident Theodor Heuss beiwohnte, eröffnete Mitscherlich die Möglichkeit, Frankfurt zum Zentrum für Psychoanalyse zu machen.
Mit Unterstützung der hessischen Regierung, Horkheimers und Adornos gelang es 1960, ein unabhängiges Institut für Psychoanalyse in Frankfurt zu gründen, dessen Direktor Mitscherlich wurde. Einige Jahre pendelte er zwischen Heidelberg und Frankfurt, bis er als Ordinarius für Psychologie nach Frankfurt berufen wurde. Verbitterung beim Weggang? „Ich war dreißig Jahre in dieser Stadt und bin nicht ein einziges Mal von einem Rektor oder Dekan oder Kollegen um Rat gefragt worden, ob es sich nun um die Universität, Kranke oder Studenten handelte. Und ich habe nie eine Pflichtvorlesung gehalten, und dreißig Jahre lang die dauernde Entbehrung auch nur des primitivsen freundlichen Wortes“ (UA Heidelberg, H-III-854/1, aus: „Die Zeit“, 17.5.1968). Diese Klage mag übertrieben sein und spiegelt vielleicht nur Mitscherlichs damalige Stimmung.
Die Übersiedlung nach Frankfurt bedeutete aber auch das Ende seiner Tätigkeit in der Psychosomatischen Medizin: Jetzt widmete sich Mitscherlich ausschließlich der Psychoanalyse und deren Anwendungen in der Soziologie und Geschichte und las dreisemestrig eine „Einführung in die Psychoanalyse“. Mitscherlich definierte die Hauptaufgabe der Psychoanalyse: „wo bisher unbewusste Inhalte herrschten, soll bewusste kritische Einsicht erreicht werden“ (Mitscherlich, 1980, S. 186). Als praktizierender Psychoanalytiker probierte er verschiedene Techniken aus und besonderen Wert legte er der Methode bei, die als „freier Einfall“ (freie Assoziation) seit Freud bekannt ist. Die Psychoanalyse betrachtete Mitscherlich als eine besondere Wissenschaft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und vertrat diese Wissenschaft, die über die herrschende klinische Orientierung hinausging: Mitscherlich erweiterte Psychoanalyse zunächst in Richtung Psychosomatik und dann um Sozialpsychologie. Nach Mitscherlich kann – und soll – Psychoanalyse in vielen Bereichen angewendet werden, in der Kriminologie, der Architektur, Geschichte, Pädagogik. Seine Bekanntheit aber basierte vor allem in seinen Anwendungen auf gesellschaftliche Probleme. Und dafür warb er, verstand sich an große, nichtprofessionelle Auditorien zu wenden: Von insgesamt 444 Erstveröffentlichungen Mitscherlichs erschienen etwa drei Viertel nicht in Fachzeitschriften oder als Fachbücher und Fachbeiträge, sondern als Zeitungsartikel, in Zeitschriften und Sammlungen. Von 155 dokumentierten Vorträgen und Ansprachen hat er nur ein Sechstel einem Fachauditorium vorgetragen, meistens im Ausland. Becker sah darin die „Wirkungsform eines Menschen, der zwischen Politik, Wissenschaft und Therapie […] gestellt war“. (1983, S. 33).
Soziologischen Problemen begann sich Mitscherlich anzunähern, als er mit Materialien des Nürnberger Ärzteprozesses befasste. Die Neuausgabe der Nürnberger Dokumentation, die unter dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit“ 1960 erschien, markiert Mitscherlichs Aufstieg zum Medienstar: In der deutschen Gesellschaft begann damals das Interesse für die jüngste Vergangenheit zu erwachen. Drei weitere Bücher, „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963), „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (1965) und „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) festigten die öffentliche Wahrnehmung, wurden Bestseller.
Das Buch über die „Vaterlosigkeit“ gilt in der Sozialpsychologie als Hauptwerk Mitscherlichs. Es basiert auf zahlreichen früheren Arbeiten und enthält viele Überlegungen über Faktoren, die die Entwicklung des Bewusstseins und Verhaltens des Einzelnen, der Gruppe und der Masse bestimmen. Das Titelthema ist nur in zwei von dreizehn Kapiteln behandelt, aber der vieldeutige Begriff der Vaterlosigkeit stellt eine Bilanz dar, mit der der Verfasser den sozialpsychologischen Zustand der deutschen Gesellschaft kennzeichnet. „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ mit dem provokanten Untertitel „Anstiftung zum Unfrieden“ behandelt herrschende Formen der Städteplanung und kritisiert deren irrationalen Charakter. Mitscherlichs Plädoyer für menschenfreundliche Städte und Wohnungen führten ihn u.a. zur Mitgliedschaft in der Baukommission für den Heidelberger Emmertsgrund. Freilich, hier „war die Utopie an der Realität gescheitert“ (Freimüller, 2007, S. 404). Mitscherlich s zur Redewendung gewordene zusammen mit seiner Frau verfasste Schrift „Unfähigkeit zu trauern“ betrachtet Verdrängungs- und Verleugnungserscheinungen bei der Wahrnehmung der Zeitgeschichte in der deutschen Gesellschaft und fordert zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit auf. Dieses wohl bekannteste Buch wurde in fünf Sprachen übersetzt.
Es wurde oft behauptet, dass diese Bücher und viele Auftritte Mitscherlichs zur ideellen Vorbereitung der studentischen Unruhen beitrugen. Mitscherlich stand anfangs auch vorbehaltlos auf Seiten der Studenten, zweifelte aber bereits Mitte 1968 an einem rationalen Verlauf der Emanzipationsbewegung. „Beide, Professoren und Studenten, waren ganz offensichtlich der Lage nicht gewachsen“, formulierte Mitscherlich später (1980, S. 225). „Widersprüche zwischen Gesellschaftskritik und Kulturpessimismus, Distanz zur ‚Massengesellschaft‘ und Demokratisierung gehen in der Tat mitten durch Mitscherlichs Person und Werk“ (L. Lütkehaus, in: Bohleber, 2009, S. 232).
Ab 1973 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Emeritiert sah er sich 1975 gezwungen, sein Engagement einzustellen, veröffentlichte 1980 nur noch „Ein Leben für die Psychoanalyse“, seine Lebensgeschichte: etwas stilisiert, gelegentlich geschönt und ungenau, eben so, wie Mitscherlich sich gerne sehen wollte. Es finden sich aber auch interessante Überlegungen über seine Zeit, die Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Mitscherlich starb nach langem Leiden im Sommer 1982: das Interesse an seinem Leben und Werk hält an.
Quellen: UA Heidelberg Studentenakte Mitscherlich; Studentenakte Fred Mielke; H-III-862/89, Nr. 47, Promotionsakte Mitscherlich, PA 1078, PA 1079, PA 2866, PA 5032, Personalakten Mitscherlich, H-III-201/3, HIII-330/5, H-III-854/1, Akten d. Med. Fak., H-III-507/5, Sigmund-Freud-Gedenkvorlesungen; StadtA Heidelberg ZGS 2/141 Sammlung über Mitscherlich, Auskünfte vom 22. u. 26.11.2012.
Werke: Schriftenverzeichnis in: Alexander Mitscherlich, Ges. Schriften in 10 Bänden, 1983, Bd. 10, 625-671. – Auswahl: Freiheit u. Unfreiheit in d. Krankheit. Das Bild des Menschen in d. Psychotherapie, 1946, 2. Aufl. 1948; (mit A. Weber) Freier Sozialismus, 1946; Vom Ursprung d. Sucht. Eine pathogenetische Untersuchung des Vieltrinkens, 1947; Aktuelles zum Problem d. Verwahrlosung, in: Psyche 1, 1947, 103-118; Endlose Diktatur? 1947; (mit Fred Mielke) Das Diktat d. Menschenverachtung. Eine Dokumentation, 1947; (mit dems.) Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, 1949, (mit dems.) Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, [=Neuausg. des vorigen Buchs unter verändertem Titel], 1960, 7. Aufl. 1983, 16. Aufl. 2004; Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, 1963, Neuausg. 1973, 14. Aufl. 1982; Kommentierte Sonderausg. 2003; Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, 1965, 16. Aufl. 1882, 25. Aufl. 2006, Kommentierte Sonderausg. 2008; Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomat. Medizin I, 1966, 9. Aufl. 1978; (mit M. Mitscherlich-Nielsen) Die Unfähigkeit zu trauern, 1967, Neuausg. 1977, 22. Aufl. 1991; (Hg. u. Mitverf.) Die Idee des Friedens u. die menschliche Aggressivität. Vier Versuche, 1969; Bis hierher u. nicht weiter. Ist die menschliche Aggression unbefriedbar? Zwölf Beiträge, 1969, Taschenbuchausg. 1974; Thesen zur Stadt d. Zukunft, 1971, 51979; Massenpsychologie ohne Ressentiment. Sozialpsycholog. Betrachtungen, 1972, 2. Aufl. 1975; (mit C. de Boor) Verstehende Psychosomatik: Ein Stiefkind d. Medizin, in: Psyche 27, 1973, 1-19; Toleranz – Überprüfung eines Begriffs. Ermittlungen, 1974, 3. Aufl. 1979; Der Kampf um die Erinnerung. Psychoanalyse für fortgeschrittene Anfänger, 1975; Das Ich u. die Vielen. Parteinahmen eines Psychoanalytikers. Ein Lesebuch, 1978; Ein Leben für die Psychoanalyse. Anmerkungen zu meiner Zeit, 1980.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg Pos I 02056 – Pos I 02061, Pos I 04213; Psychosozial 22, Nr. 78, 1999, Heft IV, Umschlag; M. Mitscherlich, 2007, 29, 141, 235; T. Freimüller, 2008, Titelbild; Psyche 62, 2008, Heft 9/10, Titelbild (vgl. Literatur).

Literatur: NDB17, 1994, 572-574; DBE, 2. Aufl. 7, 2007, 124f. (mit Bildnachweis); Alfred Püllmann, Aufstand gegen die Diktatur d. Väter. Gedanken nach einem Gespräch mit Prof. Mitscherlich, in: Ärztl. Praxis 12, 1960, 2346-2349; Clemens de Boor, Klaus Hügel (Hgg.) Psychoanalyse u. soziale Verantwortung. Eine FS für Alexander Mitscherlich zu seinem 60. Geburtstag, 1968 (mit Bildnachweis); Alexander Mitscherlich. Ansprachen anlässl. d. Verleihung des Friedenspreises, 1969; S. Drews, R. Klüwer u.a., (Hgg.) Provokation u. Toleranz. FS für Alexander Mitscherlich zum 70. Geburtstag, 1978 (mit Bildnachweis); Angelika Kasper, Der Wert d. Toleranz u. seine Bedeutung für die affektive Erziehung in den Werken Alexander Mitscherlichs, Diss. paed., TH Aachen, 1982; H. J. Wünschel, Alexander Mitscherlich in d. Provinzialregierung Neustadt, in: Psyche 36, 1982, 1164-1167; L. Rosenrötter, Alexander Mitscherlich als Chef u. Lehrer, ebd., 37, 1983, 346-351; Hellmut Becker, Freiheit, Sozialismus, Psychoanalyse. Anmerkungen zu Begegnungen mit Alexander Mitscherlich von einem Nichtanalysierten, in: Hellmut Becker, Carl Nedelmann, Psychoanalyse u. Politik, 1983, 11-33; Hans Schaefer, Erkenntnisse u. Bekenntnisse eines Wissenschaftlers, 1986, 195f.; Hans-Martin Lohmann, Alexander Mitscherlich mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten, 1987 (mit Bildnachweis); T. Henkelmann, Zur Geschichte d. Psychosomatik in Heidelberg, in: Psychotherapie. Psychosomatik. Medizin. Psychiatrie 42, 1992, 175-186; Christoph Wittmer, Psychosomatische Konzepte bei Franz Alexander u. Alexander Mitscherlich, Diss. phil. Zürich, 1994; Jürgen Peter, Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand d. drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich u. Fred Mielke, 1994, 2. Aufl. 1998; Volker Roelcke, Die Zähmung d. Psychoanalyse durch öff. Institutionen. Aus d. Gründungsgesch. d. Heidelberger Psychosomatischen Klinik, in: Siegfried Zepf (Hg.), Diskrete Botschaften des Rationalen, 1995, 125-143; Thomas Philipp, Die theologische Bedeutung d. Psychotherapie. Eine systematisch-theolog. Studie auf d. Grundlage d. Anthropologie Alexander Mitscherlichs, 1997; Jürgen Peiffer, Hirnforschung in Deutschland 1849 bis 1974: Briefe zur Entwicklung von Psychiatrie u. Neurowissenschaften, 2004, 111, 595-604, 625, 997-999; Sybille Drews (Hg.), Freud in d. Gegenwart: Alexander Mitscherlichs Gesellschaftskritik, 2006; Margarete Mitscherlich, Eine unbeugsame Frau: M. Mitscherlich im Gespräch mit Katrin Tsainis u. Monika Held, 2007, 25-75, 99-102, 127, 140-146, 150-152, 234-237; Martin Dehli, Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, 2007; Tobias Freimüller Alexander Mitscherlich, Gesellschaftsdiagnosen u. Psychoanalyse nach Hitler, 2007; Tobias Freimüller (Hg.) Psychoanalyse u. Protest. Alexander Mitscherlich u. die „Achtundsechziger“, 2008; Timo Hoyer, Im Getümmel d. Welt. Alexander Mitscherlich -Ein Portrait, 2008 (mit Bildnachweis); Robert Heim, Emilio Modena (Hgg.), Unterwegs in d. vaterlosen Gesellschaft. Zur Sozialpsychologie Alexander Mitscherlichs, 2008; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986, 2009, 420-422; W. Boehler (Hg.), Alexander Mitcherlich. Verehrt -Vergessen -Erinnert, in: Psyche 63, 2009, Heft 2, 97-233; Margarete Mitscherlich-Nielsen, Die Radikalität des Alters: Einsichten einer Psychoanalytikerin, 4. Aufl. 2010, 26-38, 53f., 167-170, 205f.
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