Ramin, Günther Werner Hans 

Geburtsdatum/-ort: 15.08.1898;  Karlsruhe
Sterbedatum/-ort: 27.02.1956; Leipzig
Beruf/Funktion:
  • Thomaskantor
Kurzbiografie: 1900 Übersiedlung der Familie Ramin von Karlsruhe nach Großlichterfelde bei Berlin, 1903 nach Schkeuditz
1904 Schulbeginn in Schkeuditz, 1910 Thomaner in Leipzig
1914 Obersekundareife an der Thomasschule
1914-1917 Studium – Komposition, Klavier, Orgel – am Konservatorium Leipzig
1917-1918 Soldat in Frankreich und Rußland, ausschließlich musikalische Tätigkeit in der „Etappe“
1918-1940 Thomasorganist in Leipzig
1921 Gewandhausorganist, Lehrer für Orgel am Kirchenmusikalischen Institut der Hochschule für Musik in Leipzig
1922-1935 Dirigent des Lehrergesangsvereins Leipzig
1929-1931 Dirigent des Leipziger Sinfonieorchesters
1931 Professor
1931-1934 Lehrer für Orgel an der Berliner Hochschule für Musik
1933-1935 Dirigent des Gewandhauschors, 1935-1938 nur noch Dirigent der Kirchenkonzerte des Chors
1935-1943 Dirigent des Philharmonischen Chors Berlin
1940-1956 Thomaskantor in Leipzig
1945-1951 Dirigent der Chorkonzerte des Gewandhauses
1946, 1947, 1950, 1953, 1955 Leitung der Bachfeste in Leipzig, ab 1947 ausgedehnte Konzerttourneen in der früheren DDR, der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, nach Frankreich, Italien, Belgien und in die skandinavischen Länder
1950 Nationalpreis der DDR, Dr. phil. h.c. der Universität Leipzig
1953 Konzertreisen des Thomanerchors nach Leningrad, Moskau, Kiew, 1955 nach Südamerika
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1922 Leipzig, Charlotte, geb. Petersen
Eltern: Ferdinand Ramin, Pfarrer
Marie Luise Bertha, geb. Groos
Geschwister: 2
Kinder: 2
GND-ID: GND/118598104

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 361-364

Selbst die frühesten, nur schemenhaften Erinnerungen Ramins an seine Kinderzeit in der großherzoglich-badischen Residenz kreisen um die beiden Pole, die sein Leben ganz und gar bestimmten: die Musik – damals in Form von Märschen der Regimentskapellen, von Kinderliedern, vorgesungen von der musikalischen Mutter, und von Klavierspiel der älteren Schwester – und die Natur, in Gestalt der sonnigen Waldlichtungen des Karlsruher Hardtwaldes. Der Pfarrer-Vater war 1892 von Köslin (Pommern) an die neugegründete Kadettenanstalt in Karlsruhe versetzt worden; aber der Westpreuße und seine aus Westfalen stammende Ehefrau kamen mit der badischen Mentalität nicht so ganz zurecht und strebten bald wieder zurück gen Norden. 1903 wurde der Vater Superintendent in Schkeuditz, zwischen Halle und Leipzig, und dort, im großen Garten des weitläufigen Pfarrhofs, vertieften sich in Ramin die frühen Hardtwaldeindrücke zu einer ihn lebenslang begleitenden Naturliebe. Die Orgelklänge im sonntäglichen Gottesdienst faszinierten ihn und erweckten den beharrlich vorgetragenen Wunsch nach einem Harmonium, das der Vater schließlich dem Neunjährigen schenkte. Als Elfjähriger konnte er den Orgeldienst im Kindergottesdienst versehen. So bestand von vornherein nicht der leiseste Zweifel an dem Berufswunsch „Musiker“, und die dafür ausschlaggebende Entscheidung fiel innerhalb weniger Tage. Der Vater hatte ihn in eine Bachmotette in der Thomaskirche in Leipzig mitgenommen; spontan bat er um Anmeldung bei den Thomanern und sang dem damaligen Thomaskantor Gustav Schreck (1849-1918) vor, Urteil: „Dich können wir brauchen.“ So stand er schon eine Woche später, nach dem Einzug in das Alumnat, auf der Empore der Thomaskirche und sang bei der Motette mit. Dem musikalischen Teil seiner Ausbildung in den folgenden Jahren widmete er sich mit Feuereifer, aber für die schulischen Fächer tat er nicht mehr als das unbedingt Notwendige, und als sein Mentor, der Thomasorganist Karl Straube (1873-1950, seit 1918 Thomaskantor), dem Vater empfahl, seinen Sohn Günther mit der Obersekundareife abgehen zu lassen, damit er sich voll auf das musikalische Studium konzentrieren könne, betrachtete Ramin diesen Wechsel nicht als Unglück. In der Hand bedeutender Lehrer des Leipziger Konservatoriums wurden seine Talente schnell gefördert: Robert Teichmüller (1863-1939) unterrichtete ihn im Klavierspiel, Stephan Krehl (1864-1924) in Theorie und Komposition, und Karl Straube selbst im Orgelspiel. Mit Straube verband Ramin eine mit den Jahren immer enger werdende Freundschaft, und ihm verdankt der Heranwachsende wohl den wichtigsten Part seiner musikalischen Ausbildung, die ihn in wenigen Jahren zu einem der Virtuosen seines Fachs heranreifen ließ. In den Studienjahren hatte er oft Gelegenheit, den bei Konzertreisen abwesenden Organisten Straube zu vertreten und sich damit einen Namen zu machen. Das Abgangszeugnis des Konservatoriums im Jahre 1917 fiel erstklassig aus.
Aber vor dem Beginn der eigentlichen Laufbahn stand noch eine unerwartete Zäsur: Im Sommer 1917 rückte er als Einjährig-Freiwilliger Landsturmrekrut in Leipzig ein und wurde nach ihn anödender militärischer Ausbildung nach Frankreich geschickt. Wieder gab es eine glückliche Wendung: musikliebende Vorgesetzte wußten seine musikalischen Fähigkeiten in verschiedenen Richtungen einzusetzen, wodurch ihm das Kampfgeschehen erspart blieb: Er betätigte sich bei der musikalischen Ausgestaltung von Feldgottesdiensten und Kirchenkonzerten, wirkte gelegentlich bei Kammermusikabenden mit, mußte aber auch bei Bierabenden und Kinovorführungen Klavier spielen und im „Fronttheater“ Couplets begleiten und „Schlager dreschen“ (Ramin).
Indessen kam im Mai 1918 die ihn nicht nur überraschende, sondern geradezu aufwühlende Nachricht, daß er, ohne sich beworben zu haben, vom Kirchenvorstand von St. Thomas einstimmig zum Nachfolger Straubes als Thomasorganist gewählt worden sei. Von da an zog es ihn mit Macht nach Hause, und als er in der Zeit des Rückzugs und der Auflösung in Lüttich einen Militärzug nach Deutschland stehen sah, stieg er kurzentschlossen ein und wurde am 29.11.1918 ordnungsgemäß vom Soldatenrat der Stadt Leipzig ins zivile Leben entlassen.
Eine glanzvolle Karriere begann, allerdings zunächst erkauft durch einen für Ramin schmerzhaften Verzicht; er entschloß sich, seine kompositorische Tätigkeit, bei der schon beachtliche Opera entstanden waren, zugunsten der ausschließlich praktischen Betätigung als Organist an St. Thomas und Dirigent von Chören und Orchestern aufzugeben. Sein Ruf als genialer Orgelimprovisator verbreitete sich schnell. Ein Ereignis, das in die Musikgeschichte einging, war die Entdeckung der Arp Schnitger-Orgel in der St. Jacobikirche in Hamburg durch den Schriftsteller Hans Henny Jahnn; in einem Zyklus von 30 Konzerten führte Ramin das polyphone Klangbild der Barockorgel von 1690 vor und gab damit der namentlich von Willibald Gurlitt geprägten „Orgelbewegung“ der zwanziger Jahre, die sich gegen das vorwiegend von den Orchesterinstrumenten geprägte romantische Klangspektrum der Orgel des 19. Jahrhundert wandte, wichtige Impulse.
1925 konnte er sich einen lange gehegten Wunsch erfüllen, den Erwerb eines Sommerhauses in schönster Landschaft, in Raschwitz, von da an brachte er nur noch die Wintermonate in der Leipziger Stadtwohnung zu. Ehrenvollen Rufen nach Lübeck und Hamburg leistete er keine Folge, was den Leipziger Stadtrat unter Vorsitz des Oberbürgermeisters Carl Goerdeler veranlaßte, ihm schon 1932 die alleinige Anwartschaft auf die Nachfolge Straubes zuzuerkennen. Dieser Beschluß, aber auch die fast naturnotwendig sich aus dem Meister-Schüler-Verhältnis ergebende Rivalität und die glänzenden Erfolge des Schülers – u. a. bei einer großen Amerikatournee – führten zu einer gewissen Entfremdung zwischen Kantor und Organist, und die vormalige enge Freundschaft zerbrach, als der 66jährige Straube im Jahre 1940 kundtat, noch zwei Jahre amtieren zu wollen, der nationalsozialistische Schulrat Leipzigs dies jedoch von der Zustimmung des designierten Nachfolgers abhängig machte. Straube trat sofort zurück, und Ramin übernahm am 1.1.1940 als zwölfter Nachfolger Johann Sebastian Bachs das Amt des Thomaskantors.
Die folgenden Kriegsjahre waren durch ständige Auseinandersetzungen mit dem NS-Musikdezernenten und -Stadtrat Leipzigs gekennzeichnet, die die selbständige Existenz des Thomanerchors durch das Konkurrenzunternehmen eines „Musischen Gymnasiums“ – in das der Thomaschor eingegliedert wurde – beseitigen wollten. Ramin gelang es in aufreibenden Verhandlungen, die Trennung des „Musischen Gymnasiums“ und des Thomanerchors zu erreichen, es wurde sogar die Erhöhung der Alumnenzahl von 60 auf 70 genehmigt. Als Leipzig am 4.12.1943 in Trümmer sank, überführte Ramin in einer dramatischen Rettungsaktion den Chor in das vorbereitete Notquartier in Grimma. Einige Wochen nach Kriegsende kehrte der Chor in das schwer beschädigte Alumnat zurück und nahm, unter heute unvorstellbaren Bedingungen, wieder seinen Dienst unter Ramins Leitung in der unzerstört gebliebenen Thomaskirche auf. Im Juli rückte die Rote Armee in Leipzig ein. Die von der nachmaligen DDR-Ideologie geprägte Aussage Gunter Hempels (Literatur), der Chor habe „fast unberührt von Faschismus und Krieg“ seine Arbeit fortsetzen können, trifft, wie dargestellt, nicht zu.
Mit dem dann bis 1956 zunächst allsonntäglich – später an den Samstagnachmittagen – absolvierten musikalischen Dienst in der kirchlichen Liturgie mit Chor und Orgel, mit vielen Konzertreisen und mit von Beifall umrauschten Darbietungen des Cembalo- und Orgelvirtuosen bestätigte Ramin die von Straube begründete Weltgeltung des Chors und der musikalischen Praxis in der Thomaskirche. Aber wie konnte sich diese, von außen gesehen, völlig „normale“ Praxis unter den Bedingungen des „Arbeiter- und Bauernstaates“ und vorher des „Dritten Reiches“ abspielen, des Chors, in dessen kirchlicher Bindung Nationalsozialisten und Kommunisten in gleicher Weise ein ständiges Ärgernis sahen?
Oberstes Gebot, dem sie alles andere unterordneten, war für Straube wie für Ramin die Bewahrung und Weiterführung einer sich über Jahrhunderte erstreckenden ehrwürdigen Tradition, die durch den Namen Johann Sebastian Bachs den Rang einer gebieterisch fordernden Verpflichtung erhalten hatte. Der in der Zeit der kirchenfeindlichen Regime unausbleibliche Konflikt war im Grunde unlösbar, und was sich dem heutigen Betrachter oft wie Lavieren oder Anpassung darbietet, waren in Wirklichkeit oft verzweifelte Versuche, die Substanz und Autonomie des Chors zu retten. Kompromisse waren unter diesen Umständen unverzichtbar, so sehr sie der Natur Ramins widerstrebten. Aber schon dem Thomasorganisten – und damals renommiertesten Organisten Deutschlands – Ramin blieb nichts anders übrig, als der in Befehlsform gehaltenen „Einladung“ Görings, bei dessen Trauung im Berliner Dom die Orgel zu spielen, zu folgen, wenn er nicht die Anwartschaft auf das Amt des Thomaskantors verlieren wollte, und ähnlich verhielt es sich bei der von Hitler selbst befohlenen Vorführung der Riesenparteitagsorgel in Nürnberg am 5.9.1936.
1945 wurde in der späteren DDR „das gesamte Kunstleben auf eine neue Basis“ gestellt; das „sozialistische Kunstleben von heute“ sollte die Leistungsfähigkeit der DDR dokumentieren und ihr Achtung in aller Welt erwerben (Irene und Gunter Hempel). In dieser Planung waren die Auslandsreisen des auf 80 Köpfe verstärkten Chors ein gewichtiger Faktor, und Ramin wurde, ob er wollte oder nicht, in die Riege der Vorzugs- und Vorzeigekünstler der DDR eingereiht, die mit ihren Darbietungen vor allem im Ausland die Überlegenheit des sozialistischen Systems über das „imperialistische“ zu demonstrieren hatten und übrigens mit den Konzerteinnahmen in „Valuta“ einen kräftigen Beitrag zu dem immer notleidenden Devisenvorrat der DDR leisteten. Dafür wurde Ramin schon kurz nach der Gründung der DDR der Nationalpreis verliehen; er erhielt weitgehende Reisefreiheit („Reisekader“). Ein aus dem Westen kommendes Angebot, ihn selbst und den Chor vom angestammten Platz in Leipzig nach Lübeck zu verlegen, lehnte er ab. Intensität, spiritueller Elan und Suggestivität seines Musikantentums blieben ihm bis zum viel zu frühen Tod erhalten; gutgemeinte Ratschläge, etwas kürzer zu treten, wies er zurück: „Ich muß so verbrennen, wie ich bin.“
Quellen: Mitteilungen von Helmut H. Wilhelm, Herford, Thomaner von 1933 bis 1941
Werke: Bibliographie der Kompositionen und Schriften in: Rudolf Eller, Ramin, Günther, in: MGG 10 (Literatur), die Schallplattenaufnahmen in: Charlotte Ramin, Günther Ramin (Literatur)
Nachweis: Bildnachweise: in: Charlotte Ramin, Günther Ramin (Literatur)

Literatur: (Auswahl) Gotthold Frotscher, Geschichte des Orgelspiels und der Orgelkomposition, 1935/36; Hans Heintze, Der Organist Günther Ramin, in: Musik und Kirche 28/1958; Elisabeth Hasse (geb. Ramin), Erinnerungen an Günther Ramin, 1958; Charlotte Ramin, Günther Ramin, 1958; Gunter Hempel, Leipzig (VI. Musikpflege nach 1945), in: MGG, 568-569, 1960; Rudolf Eller, Ramin, Günther, in: MGG 10, 1907, 1962; Helmut Walcha, Die Wunder der Polyphonie, in: Das musikalische Selbstporträt, hg. von Josef Müller-Marein und Hannes Reinhardt, 1963; St. Thomas zu Leipzig, Schule und Chor, Stätte des Wirkens von Johann Sebastian Bach, hg. von Bernhard Knick mit einer Einführung von Manfred Mezger, 1963; Manfred Mezger, Günther Ramin, in: Diener der Musik, 1965; Wolfgang Hanke, Günther Ramin, 1969; Johann Sebastian Bach, Ende und Anfang, Gedenkschrift zum 75. Geburtstag des Thomaskantors Günther Ramin, mit Beiträgen von H. H. Jahnn, G. Stiller und W. Weismann, hg. von Diethard Hellmann, 1973; Christoph Held/Ingrid Held, Karl Straube, Wirken und Wirkung, 1976; Irene und Gunter Hempel, Musikstadt Leipzig, 1979; Charlotte Ramin, Weggefährten im Geiste Johann Sebastian Bachs, Karl Straube und Günther Ramin, Zwei Thomaskantoren 1918-1956, 1981; Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, 1982; Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich, 1989; Manfred Mezger, Inquisition, Der „Nationalsozialist“ Günther Ramin, in: Musik und Kirche 6/1989; Günter Hartmann, Karl Straube und seine Schule: „Das Ganze ist ein Mythos“, 1991, gegen diese entstellende Darstellung gerichtete Rezensionen von Friedrich Brusniak und Konrad Ameln in: Musik und Kirche 6/1992; Munzinger 16, 1956; vgl. auch die MGG-Stichworte Bärenreiter, Berlin (Bd. 1); Dirigenten, Hugo Distler, Eisenach (Bd. 3); Edith Gerson-Kiwi (Bd. 4); Ralph Kirkpatrick, Konservatorium (Thomasschule), Taneli Kuusisto (Bd. 7); Orgelmusik, Peters Musikverlag, Janne Raitio (Bd. 10); Helmut Walcha (Bd. 14); Herbert Collum (Bd. 15); Arno Fuchs (y Busch), Johan Hilding Hallnäs, Walter Oskar Hüttel (Bd. 16)
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