Schachtschabel, Hans Georg 

Geburtsdatum/-ort: 16.03.1914; Dessau
Sterbedatum/-ort: 29.10.1993; Ober-Hainbrunn/Odenwald
Beruf/Funktion:
  • Volkswirt und MdB-SPD und MdEP
Kurzbiografie: 1933 Abitur an d. Dt. Oberschule in Köthen
1933–1936 Studium d. Rechts- u. Staatswissenschaften in Leipzig, Wien, WS 1934/35, u. Gießen, SS 1935, Abschluss Diplom in VWL in Leipzig
1937 Promotion zum Dr. rer. pol. bei Hans-Jürgen Seraphim in Leipzig: „Der gerechte Preis. Geschichte einer wirtschaftsethischen Idee“; Mitglied d. NSDAP Nr. 5730945
1939 Mitarbeiter am Staatswiss. Seminar d. Univ. Halle
1940 Habilitation im Fach VWL an d. Univ. Halle bei Waldemar Mitscherlich: „Ein System der Wirtschaftslehre. Ein Beitrag zur Frage nach d. Wirtschaftslehre d. gestalteten u. geordneten Wirtschaft“
1943 Lehrtätigkeit an d. Univ. Marburg
1944 Umhabilitierung nach Marburg
1944–1948 Assistent am Staatswiss. Seminar d. Univ. Marburg
1946 Mitglied d. SPD
1949 Leiter des von d. US-Militärregierung finanzierten Instituts für Sozialwiss. Forschung in Darmstadt
1952 ao. Professor in Mannheim
1953–1970 Mitglied des Mannheimer Gemeinderats-SPD
1962 o. Professor für VWL in Mannheim
1969–1983 MdB-SPD als Abg. des Wahlkreises Mannheim II
1974–1975 MdEP-Bund d. sozialdemokr. Parteien d. EG
1982 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev., nach 1938 „gottgläubig“
Verheiratet: I. 1941 Lotte Grete, geb. Kliem (geboren 1920), gesch. 1942
II. 1947 (Bad Wildungen) Ellen, Dr., geb. Schultz (geboren 1923)
Eltern: Vater: Hans (1885–1945), Stadtinspektor
Mutter: Anna, geb. Huth (geboren 1893)
Geschwister: keine
Kinder: 2;
aus I. Sybille (geboren 1941),
aus II. Marita (geboren 1948)
GND-ID: GND/118606034

Biografie: Markus Enzenauer (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 336-339

Schachtschabel stammte aus dem anhaltinischen Dessau. In seiner Heimatstadt besuchte er zunächst die Vorschule, anschließend die Höhere Handelsschule. Die Hochschulreife erlangte er 1933 auf der Deutschen Oberschule im nahen Köthen, wo er im angegliederten Internat wohnte – eine in Preußen seit Mitte der 1920er-Jahre zusätzlich bestehende vierte Gymnasialform. Direkt im Anschluss daran immatrikulierte er sich an der Universität Leipzig für das Studium der Volkswirtschaft, das er 1936 mit Diplom abschloss. Im darauffolgenden Jahr wurde er zum Dr. rer. pol. promoviert. Es schlossen sich zunächst Praktika bei der IHK Leipzig und der Landesplanungsgemeinschaft Rheinland in Düsseldorf an, ehe er an das Institut für Weltwirtschaft der Universität Kiel wechselte. Obgleich im praktischen Wirtschaftsleben stehend war sich der junge Wissenschaftler damals hinsichtlich seiner weiteren Karriere offensichtlich noch nicht im Klaren. Darauf zumindest weist sein zeitweise verfolgtes Ziel hin, den eingeschlagenen Pfad zu verlassen und Schriftsteller zu werden. Er entschied sich schließlich doch für den Wissenschaftsbetrieb, nahm 1939 in Halle eine Assistentenstelle an und wurde 1940 habilitiert. Damals wurde Schachtschabel in den Konflikt zwischen Vertretern des NS-Studentenbundes und seinem Mentor Waldemar Mitscherlich hineingezogen, dem man eine NS-feindliche Wissenschaftsauffassung unterstellte und ihn deshalb nach Leipzig strafversetzte. Zwar wurde Schachtschabel auf Betreiben des hallensischen Studentenführers 1941 zur Wehrmacht eingezogen, konnte aber seinen Dienst bei der Heeresnachrichtenschule Halle ableisten und so weiterhin als Dozent tätig sein. Diese Anstellung erlebte 1941/42 eine Unterbrechung, als Schachtschabel in Paris für die Archivkommission des Auswärtigen Amtes arbeitete. Nach seiner Rückkehr war er noch bis 1943 in Halle tätig, ehe er nach Marburg abgeschoben wurde, wohin er sich 1944 umhabilitierte.
Von der Spruchkammer als politisch unbedenklich eingestuft, gelang es Schachtschabel, sich zunächst als Assistent an der Marburger Universität zu halten, ehe hochschulpolitische Querelen ihn veranlassten, die Universität zu verlassen, um Anfang Januar 1949 die Leitung des von den Amerikanern finanzierten Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung in Darmstadt zu übernehmen. Noch im gleichen Jahr wurde Schachtschabel auf maßgebliches Betreiben des Volkswirts Walter Waffenschmidt an die Wirtschaftshochschule, seit 1967 Universität Mannheim, umhabilitiert, wo er zuerst als Privat- bzw. Diätendozent, 1952 als außerordentlicher Professor und schließlich ab 1962 als Ordinarius für Volkswirtschaftslehre bis zu seiner Emeritierung 1982 blieb.
Schachtschabel gehörte nicht zu den Wissenschaftlern, die sich auf ein sehr enges Forschungs- und Lehrgebiet beschränkten, obgleich deutliche Schwerpunkte auszumachen sind. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit als wirtschaftspolitisches Leitbild durchzog sein Wirken als Wissenschaftler wie als Politiker. Ausgangspunkt seiner Studien bildete immer wieder der historische Bezug, und so wandte er sich stets – und hier zeigte sich der Einfluss seines Doktorvaters Hans-Jürgen Seraphim – wirtschafts- und dogmengeschichtlichen Fragestellungen zu, die er nicht allein in seinen Vorlesungen, sondern auch in einigen Publikationen behandelte. Beispielsweise beschäftigte er sich mit Wirtschafts- und Sozialpolitik und dem Genossenschaftswesen. Schachtschabel gehörte dem „Verein für Socialpolitik“ an und war Mitglied in Verwaltungs- oder Aufsichtsräten mehrerer Gesellschaften und Unternehmen.
Bereits 1946, als er noch in Marburg war, trat Schachtschabel in die SPD ein. Nach seinem Wechsel nach Mannheim begann er, sich in der Kommunalpolitik einzubringen und wurde 1953 in den Mannheimer Gemeinderat gewählt, dem er über 16 Jahre angehörte, die letzten beiden Jahre als Fraktionsvorsitzender. Bei der Wahl 1969 wurde Schachtschabel im Wahlkreis Mannheim II mit absoluter Mehrheit in den Bundestag gewählt. In den Jahren 1974/75 gehörte er zudem dem Europäischen Parlament an. Schachtschabel, der dem „rechten“ Flügel der Sozialdemokraten zugerechnet wurde, war zeitweise Obmann der „Arbeitsgruppe Selbstständige“ innerhalb der SPD-Fraktion. Die Mittelstandspolitik sollte eines seiner Schwerpunktthemen bleiben. Er galt zwar mit seinem Hochschulhintergrund durchaus als Exot und zählte, da für ihn die Aufgabe seiner Universitätsarbeit nie in Betracht kam, nicht zur Führungsriege seiner Partei, andererseits war er im Parlament durchaus profiliert, wozu auch seine recht häufigen Debattenbeiträge beitrugen. Herbert Wehner lobte Schachtschabel in einer Festschrift zu dessen 65. Geburtstag als einen „Wissenschaftsmann in und mit parlamentarischer Bewährung“, der wisse, dass „Wirtschafts- und Sozialpolitik zueinander gehören und aufeinander angewiesen sind.“ (H. Wehner in: E. Mändle, Wirtschaftspolitik in Theorie u. Praxis, 1979, S. 29). Damit beschrieb der langjährige SPD-Fraktionsvorsitzende Schachtschabels Impetus treffend, wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnis in politisch-parlamentarische Arbeit einzubringen.
Ob sich Herbert Wehner zu diesen ehrenden Worten bereitgefunden hätte, wenn er die biographischen Hintergründe seines Fraktionskollegen genauer gekannt hätte, steht zu bezweifeln, denn Schachtschabels politische Vita begann nicht, wie lange angenommen wurde, in der Sozialdemokratie, sondern als aktiver Nationalsozialist. Erst rund zehn Jahre nach Schachtschabels Tod begann sich abzuzeichnen, dass Schachtschabel maßgebliche Teile seines Lebenslaufes mit Erfolg gefälscht und auch gegenüber Behörden bewusst wahrheitswidrige Angaben über seine Tätigkeiten während der NS-Zeit gemacht hatte. In seinen nach dem Krieg selbst verfassten Lebensläufen und Angaben vor der Spruchkammer findet sich das ganze Spektrum üblicher Entlastungsmuster: der Parteieintritt sei vom Vater ohne das Zutun und Wissen des Sohnes durchgesetzt worden, um ihm die Karriere zu ebnen, Mitgliedschaften in den NS-Gliederungen seien nur „taktisch“ zu verstehen gewesen, um sich vor angeblichen Nachstellungen von Gegnern zu schützen, Kontakte zu Widerstandskreisen aber stets gepflegt worden. Auch die beachtliche Reihe von Zeugen fällt auf, die „Persilscheine“ ausstellten. Die heute im Bundesarchiv Berlin befindlichen Akten aus dem ehemaligen Berlin Document Center hingegen zeichnen ein konturenscharfes Bild einer geradezu mustergültig gelungenen „Selbst-Entnazifizierung“ nach 1945. Erwiesenermaßen nämlich war Schachtschabel bereits 1933 nicht nur in die SA eingetreten und auf Vermittlung der Deutschen Studentenschaft im Wintersemester 1934/35 nach Wien gegangen, um sich dort – wie er selbst in einem Lebenslauf für das Rasse- und Siedlungshauptamt schrieb – „praktisch für den volksdeutschen Gedanken und für die NS-Weltanschauung einzusetzen“, sondern er trat 1935 noch als Leipziger Student zur SS über. Für das SS-Organ „Das Schwarze Korps“ schrieb er 1936/37 – das war die Zeit, als er mit dem Gedanken liebäugelte, Schriftsteller zu werden – eine ganze Reihe von Gedichten. Wie groß seine Bereitschaft war, für den Nationalsozialismus einzutreten, zeigt die Tatsache, dass er zum 1. Mai 1937 Parteigenosse wurde. Dies wird noch viel deutlicher seit November 1939, als Schachtschabel sich als ehrenamtlicher Mitarbeiter der SD-Außenstelle Halle zur Verfügung stellte. Offenbar taugten seine Zuträgerleistungen, denn es war beabsichtigt, ihn in den hauptamtlichen Dienst zu übernehmen. Dazu indes ist es nicht gekommen – jedoch nicht weil die SS grundsätzliche politisch-weltanschauliche Bedenken geäußert hätte, sondern bei Schachtschabel mangelnde Charaktereigenschaften ausmachen wollte. All diese Dinge hat Schachtschabel nach 1945 verschwiegen oder bis zur Unkenntlichkeit verdreht. Es gelang ihm, die Spruchkammer von seiner „eindeutig“ nachgewiesenen „antinationalsozialistischen Haltung“, seiner nur „nominellen Mitgliedschaft“ und seinem nach „dem Maß seiner Kräfte [geleisteten] Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus zu überzeugen und damit schließlich in die Gruppe der „Entlasteten“ eingereiht zu werden (Spruchkammer Marburg/Lahn vom 4.6.1947, HStA Stuttgart EA3/154 Bü. 80, zit. aus der 12. Seite). Mit geradezu bewundernswerter Geschicklichkeit überstand er auch ein späteres Ermittlungsverfahren wegen Meldebogenfälschung schadlos.
Der verdienstvolle Lebensweg des Wissenschaftlers und Politikers Schachtschabel wurde 1979 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz gewürdigt, freilich ohne Kenntnis dieser zuletzt ausgeführten Details.
Quellen: HStA Stuttgart EA 3/154 Bü. 80, Personalakte Hans Georg Schachtschabel; BA Berlin (ehem. Berlin Document Center), Bestand Hans Georg Schachtschabel: RuSHA, RKK, PK, Mitgliedskarte NSDAP-Gaukartei.
Werke: Der gerechte Preis. Geschichte einer wirtschaftsethischen Idee, Diss. rer. pol. Leipzig, 1939; Ein System d. Wirtschaftslehre. Ein Beitrag zur Frage nach d. Wirtschaftslehre d. gestalteten u. geordneten Wirtschaft, Habil. Halle, 1940; Die sozialwiss. Untersuchung einer dt. Stadt, in: Akademie d. Arbeit in d. Univ. Frankfurt am M., Mitteilungen NF 3, 1949, 5-26; Genossenschaften, 1951; Automation in Wirtschaft u. Gesellschaft, 1961; Das industrielle Potenzial in Ost u. West, 1963; Wirtschaftspolitische Konzeptionen, 1967; Geschichte d. volkswirtschaftl. Lehrmeinungen, 1971; Allgemeine Wirtschaftspolitik, 1975; Sozialpolitik, 1983; Betriebliche Partnerschaft durch Mitarbeiterbeteiligung, 1992.
Nachweis: Bildnachweise: Mändle, 1979, 5; Eberle, 2002, 107 (vgl. Literatur).

Literatur: Herbert Wehner, Hans Georg Schachtschabel als Parlamentarier, in: E. Mändle u. a. (Hgg.), Wirtschaftspolitik in Theorie u. Praxis, 1979, 21-40; H. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in d. Zeit des Nationalsozialismus, 2002; M. Enzenauer: Wirtschaftsgeschichte in Mannheim, 2005, 37-47.
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