Thieme, Hans Wilhelm 

Geburtsdatum/-ort: 10.08.1906; Naunhof bei Leipzig
Sterbedatum/-ort: 03.10.2000;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Rechtshistoriker
Kurzbiografie: 1925 Abitur in Leipzig
1925–1928 Studium d. Rechtswissenschaft in Basel, München, Berlin u. Leipzig
1928 I. jurist. Staatsexamen, anschließend jurist. Vorbereitungsdienst
1929 Promotion in Leipzig bei Richard Schmidt: „Die Entwicklung d. internat. Schiedsgerichtsbarkeit seit dem Weltkrieg“
1931 Habilitation in Frankfurt bei Franz Beyerle: „Naturrecht u. Historische Schule“
1933 II. jurist. Staatsexamen
1934 Lehrstuhlvertretung in Breslau
1935 ao. Professor, 1938 o. Professor für Dt. Rechtsgeschichte, Bürgerliches u. Handelsrecht in Breslau
1939–1940 Kriegseinsatz, Polenfeldzug: Leutnant in einem Artillerieregiment
1940 o. Professor für Dt. Rechtsgeschichte, Bürgerliches u. Handelsrecht in Leipzig
1942–1945 Kriegseinsatz, Ostfront: Oberleutnant u. 1 c in einem Divisionsstab, zuletzt brit. Kriegsgefangenschaft
1945/46 Lehrstuhlvertretung in Bonn
1946–1953 o. Professor für Dt. Rechtsgeschichte, Bürgerliches u. Handelsrecht in Göttingen
1953–1974 o. Professor für Dt. Rechtsgeschichte, Bürgerliches u. Handelsrecht in Freiburg. 1974 emeritiert
1960/61 Rektor d. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Dr. iur. h.c. d. Universitäten Granada (1973), Montpellier (1974), Basel (1976) u. Paris (1981). – Korr. Mitgl. d. Akad. d. Wiss. Wien (1968); Ord. Mitgl. d. Akad. d. Wiss. Heidelberg (1970); Ehrenmitgl. d. portugies. Akad. für Gesch. (1982). – Großes Bundesverdienstkreuz (1971); Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (1984); Japan. Orden vom heiligen Schatz 2. Kl. (1981).
Verheiratet: 1937 (Breslau) Ursel Emming, geb. Rauch (1912–1997)
Eltern: Vater: Karl (1862–1932), D., Prof. d. ev. Theologie
Mutter: Jenny, geb. Respinger (1879–1944)
Geschwister: Karl (1902–1963), Dr. phil., 1931–1933 Prof. an d. Pädagog. Akademie Elbing, 1935 Emigration in die Schweiz, 1954 Prof. am Dolmetscherinstitut d. Univ. Mainz in Germersheim
Kinder: 5; Christian, Gottfried, Ricarda, Jenny u. Ursula
GND-ID: GND/11862198X

Biografie: Karl Kroeschell (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 430-432

Für den Sohn eines Leipziger Theologieprofessors und einer Baslerin war nach eigenem Bekunden Basel als Heimat der Mutter stets ein besonders bedeutsamer Ort. Hier besuchte der Schüler ein Jahr lang das Gymnasium, und nach dem in Leipzig abgelegten Abitur nahm er hier 1925 auch sein juristisches Studium auf. Dabei begegnete er schon im ersten Semester dem Lehrer, der für seinen wissenschaftlichen Weg bestimmend wurde: Franz Beyerle, dem Erforscher der germanischen Volksrechte und des mittelalterlichen Freiburger Stadtrechts. Weitere Stationen des Studiums waren München, Berlin und zuletzt Leipzig. Hier wurde Thieme 1929 mit einer Arbeit über „Die Entwicklung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit seit dem Weltkrieg“ promoviert, nachdem er im Jahre zuvor das I. juristische Staatsexamen abgelegt hatte.
Kaum hatte der junge Jurist im Erzgebirge seinen juristischen Vorbereitungsdienst angetreten, als ihn Franz Beyerle einlud, sich bei ihm in Greifswald zu habilitieren. 1929 folgte er dem Lehrer dorthin und ging 1930 mit ihm nach Frankfurt, wo bereits 1931 die Habilitation über das Thema „Naturrecht und Historische Schule“ abgeschlossen werden konnte. Aber auch die praktische Ausbildung wurde in Frankfurt fortgesetzt. Eine Anwaltsstation absolvierte Thieme bei dem bedeutenden Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer, und in der Kammer für Handelssachen war der spätere Berliner Rechtssoziologe und Handelsrechtler Ernst E. Hirsch sein Ausbilder. 1933 legte Thieme in Dresden das II. juristische Staatsexamen ab.
Schon 1934, also noch vor der Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift, wurde Thieme eine Lehrstuhlvertretung in Breslau übertragen, und ein Jahr später – mit erst 29 Jahren! – wurde er zum Extraordinarius ernannt. Der Aufstieg zum Ordinarius freilich ließ auf sich warten. Den Parteistellen war die Distanz des jungen Professors zum Nationalsozialismus nicht verborgen geblieben, und auch der 1937 auf Verlangen des NS-Dozentenbundes vollzogene Parteieintritt räumte diese Vorbehalte nicht aus. Erst im Herbst 1938 wurde Thieme zum ordentlichen Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches und Handelsrecht in Breslau ernannt. Breslau war es auch, wo Thieme seiner künftigen Frau begegnete: die Studentin Ursel Rauch hatte bei ihm Wirtschaftsrecht gehört. Am Kriege musste Thieme als Reserveoffizier vom ersten Tage an teilnehmen. Nach dem Polenfeldzug heimgekehrt konnte er 1940 seine Lehrtätigkeit in Breslau wieder aufnehmen. Schon im selben Jahr folgte er jedoch einem Ruf nach Leipzig als Nachfolger seines Lehrers Franz Beyerle. 1942 wieder einberufen, war er bis zum Kriegsende an der Ostfront als Offizier eingesetzt. Nach kurzer britischer Kriegsgefangenschaft wurde er nach Konstanz entlassen, wo er seine Familie vor den Luftangriffen auf Leipzig in Sicherheit gebracht hatte.
Den beruflichen Neubeginn ermöglichte zuerst 1945/46 eine Lehrstuhlvertretung in Bonn. Dem dorthin ergangenen Ruf mochte Thieme freilich nicht folgen, sondern gab einer Berufung nach Göttingen den Vorzug, da diese es ihm ermöglichte, im Winter 1946/47 einen Forschungsaufenthalt in Basel wahrzunehmen. 1953 erhielt er (wiederum als Nachfolger Franz Beyerles) einen Ruf nach Freiburg, wo er – auf der Höhe seines Ansehens und Erfolges – bis zu seiner Emeritierung 1974 wirkte. Im Amtsjahr 1960/61 war er Rektor der Albert-Ludwigs-Universität.
Thieme war ein erfolgreicher akademischer Lehrer. Vor allem in seinen Freiburger Jahren war „das Thieme-Seminar“ mit seinen vielfältigen anregenden Themen geradezu eine Institution. Mehr als hundert Doktoranden sind aus ihm hervorgegangen, wobei die Streubreite ihrer Themen zeigt, dass Thieme auch den Fächern des geltenden Privatrechts, insbesondere dem Urheberrecht, noch lange verbunden blieb. Die sechs Habilitanden freilich, denen er half, ihre Lebensaufgabe als Hochschullehrer zu finden und die nachmals an deutschen und schweizerischen Universitäten lehrten, waren sämtlich Rechtshistoriker.
Unter seinen Fachkollegen stand Thieme lange in vorderster Reihe. So war ihm in der Nachfolge von Heinrich Mitteis von 1954 bis 1977 die Herausgeberschaft des traditionsreichen Fachorgans anvertraut, der Germanistischen Abteilung der Savigny-Zeitschrift, zunächst gemeinsam mit Karl Siegfried Bader, dann mit Werner Ogris. Auch Thiemes eigene wissenschaftliche Arbeit galt vorrangig der Rechtsgeschichte in allen ihren Epochen, vom Mittelalter bis zur „juristischen Zeitgeschichte“, die er wohl gar als Erster propagierte. Ihren Schwerpunkt hatten seine Forschungen in den Epochen des juristischen Humanismus, des Naturrechts und der Historischen Rechtsschule. Hier ist es ihm immer wieder eindrucksvoll gelungen, die deutsche Rechtsentwicklung in den weiteren Zusammenhang der europäischen Geistesgeschichte hineinzustellen. So reichte sein wissenschaftliches Ansehen weit über die deutschen Grenzen hinaus. Die Ehrendoktorwürden der Universitäten Granada, Montpellier, Basel und Paris legen hierfür ebenso Zeugnis ab wie die vielen Einladungen zu Vorträgen und Gastvorlesungen, etwa 1967/68 als Gastprofessor an die Universität Paris. In internationalen Vereinigungen wie der Société Jean Bodin oder der Association Internationale d’Histoire du Droit et des Institutions, AIHDI, war er als Repräsentant der deutschen Wissenschaft hochangesehen. So hat er wesentlich mitgeholfen, die durch die Hitlerzeit und den Krieg bedingte Isolierung der deutschen Rechtshistoriker zu überwinden.
Besonders hervorzuheben ist der schon früh vollzogene Brückenschlag nach Japan, der Freiburg für manchen japanischen Rechtshistoriker zur wissenschaftlichen Heimat werden ließ. Von Thiemes Nachfolgern fortgesetzt dauert diese Beziehung bis heute fort. Thiemes rechtshistorische Bibliothek wiederum hat in der Hokkaido-Universität in Sapporo einen neuen Standort gefunden.
„Deutschlands Weg nach 1945“, so hieß ein nachdenklicher Text, den Thieme nach der Heimkehr aus dem Kriege verfasst hatte. Diesen Weg zu finden, hat er sich auch selbst bemüht, wo immer es ihm möglich war. Zu nennen wäre etwa die Wiederaufnahme der Beziehungen zu den einst vertriebenen jüdischen Kollegen – nicht als Pflichtübung politischer Korrektheit, sondern im Bewusstsein persönlicher Verantwortung. Als Ernst E. Hirsch aus seinem türkischen Exil zurück kehrte, um seine Professur an der Freien Universität Berlin anzutreten, deren Rektor er dann nachmals wurde, machte er bei Thieme in Göttingen Station. Mit Guido Kisch, vormals in Halle, blieb Thieme an dessen Alterswohnsitz in Basel bis zuletzt in Verbindung. Eugen Rosenstock-Huessy, dessen verwaisten Breslauer Lehrstuhl Thieme 1934 vertreten hatte, holte er gar schon 1950 als Gastprofessor nach Göttingen.
Es war deshalb auch kein Widerspruch, wenn sich Thieme in der Erinnerung an glückliche Breslauer Jahre für die Belange der Heimatvertriebenen einsetzte und im Freiburger Kopernikuskreis und anderswo mithalf, das geistige Vermächtnis der ostdeutschen Landschaften zu bewahren.
Aus den Kriegserfahrungen erwuchs endlich auch Thiemes öffentlicher Protest gegen die Nachkriegskarriere des ehemaligen SS-Generals Reinefarth, der sich bei der Zerstörung Warschaus nach dem Aufstand Ende 1944 in besonders abstoßender Weise hervorgetan hatte.
Den Freiburger Mitbürgern wird namentlich Thiemes Einsatz für den Wiederaufbau des ältesten Freiburger Rathauses, der „Gerichtslaube“, erinnerlich sein, der so viele Helfer und Spender zu mobilisieren vermochte. Der wiedererstandene Bau ist so zugleich ein Denkmal seines tätigen Bürgersinns.
Quellen: Nachlass im UA Freiburg.
Werke: „Ideengeschichte u. Rechtsgeschichte“. Gesammelte Schriften I–II, (1408 S.), Forsch. zur Neueren Privatrechtsgesch. 25/I u. II, 1986. – Schriftenverzeichnis bis 1977 in: Rechtshistor. Studien. Hans Thieme zum 70. Geburtstag, 1977. – Bibliographie ab 1977, Privatdruck 1996, UA Freiburg.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos im UA Freiburg.

Literatur: Nachrufe von K. Kroeschell, Freiburger Univ. Bll. H. 180, 2000, 19f.;W. Ogris, Almanach d. Österr. Akad. d. Wiss. 151, 2001, 499-505; B. Diestelkamp, NJW 2001, 45f.; C. Schott, JZ 2001, 346f.; A. Laufs, ZSRG Germ. Abt. 119, 2002, 15-26; – Th. Ditt, „Stoßtruppfakultät Breslau 1933–1945“, Abh. zur Rechtsgeschichte des 20. Jh.s 67, 2011, 105-113, 195-202.
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